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DISKURS/079: Der wählerische Souverän (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2009

Der wählerische Souverän

Analyse: Wolfgang Merkel/Bernhard Weßels


Deutschland wählt. 2009 so oft, wie seit 1994 nicht mehr Der Souverän spricht, wählt seine Repräsentanten und bestimmt damit die Richtung der Politik. Illusion oder reale Chance?


Wahlen sind in der Demokratie das zentrale Instrument, das demokratisches Regieren ermöglicht. Sie sind dann demokratisch bedeutungsvoll, wenn sie frei und gleich sind und eine Rückbindung der Parlamente und Regierungen an den Volkswillen bewirken. Der Grundsatz der freien Wahl impliziert, dass es Auswahlmöglichkeiten gibt, also inhaltlich unterschiedliche politische Angebote um Wählerstimmen konkurrieren. Gleiche Wahl impliziert, dass alle Bürger die gleiche Chance auf Beteiligung und den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Die Rückbindung an den Volkswillen erfolgt dabei durch das Mandat der Wähler an die politischen Parteien, die entscheiden, wer kandidiert, und die die Bindung der gewählten Repräsentanten an die Programmatik und die Versprechen im Wahlkampf garantieren sollen.

Funktionieren Wahlen wirklich so, haben sie die erwarteten Wirkungen? Haben nicht doch die Kritiker recht? Die Demokratie habe längst ihre Wirkkraft und Dynamik verloren und befinde sich in einem kontinuierlichen Abstieg. Die Wahlbeteiligung gehe zurück, die Parteien verlören an Mitgliedern, die "politische Klasse" kapsele sich ab in ihren Privilegien; die Regierung beuge sich mächtigen ökonomischen Interessen und anonymen Märkten. Populisten, Post-Marxisten und Neoliberale sind sich da nur allzu häufig einig: Die Regierung repräsentiere nicht den Willen des Volkes und sei in den Zeiten der Globalisierung auch gar nicht mehr in der Lage zu regieren. Was ist also dran an diesen populären Anschauungen?

Im Schnitt liegt die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen seit 1990 etwa 8 % niedriger als 1949-1987, verzeichnet aber keinen Abwärtstrend. Anders bei den Landtagswahlen. Seit der Vereinigung ist die Wahlbeteiligung im Durchschnitt aller Bundesländer um 13 % gesunken. Bei den Europawahlen sind es sogar 17 %. Gleichwohl verfügt Deutschland im internationalen Vergleich über eine überdurchschnittliche Wahlbeteiligung. Die Wahlbeteiligung ist als ein Qualitätsausweis der Demokratie umstritten. Einerseits zeigen Ergebnisse der Comparative Study of Electoral Systems, eines Projekts vergleichender Wahlforschung in mehr als 40 Ländern, dass die Wahlbeteiligung umso höher liegt, je differenzierter das politische Angebot, je knapper der Wahlausgang und je effektiver die Regierung eingeschätzt wird. Andererseits verweisen vornehmlich angelsächsische Demokratietheoretiker auf eine gefährliche Überhitzung der Demokratie, wenn die Wahlbeteiligung zu sehr ansteigt und Wahlen damit zu "kritischen Wahlen" werden.

Niedrige Wahlbeteiligung drücke deshalb weniger Enttäuschung als Zufriedenheit mit den politischen Verhältnissen aus. Tatsächlich gibt es kein gutes theoretisches Argument, die optimale Wahlbeteiligung bei 60, 70, 80 % oder darüber zu verorten. Und - käme irgendjemand tatsächlich auf die Idee, Malta oder Zypern seien bessere Demokratien als die Schweiz, Finnland, Frankreich oder Großbritannien, nur weil diese in den letzten Jahren etwa 30 % mehr Wahlbeteiligung als jene aufweisen?


Die Dynamik zählt

Es ist wohl mehr die Veränderung als das Niveau der Wahlbeteiligung, die etwas über den Zustand einer Demokratie aussagt. Heute entscheiden eher die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, zu ethnischen und religiösen Minderheiten, das Geschlecht oder das Bildungsniveau darüber, ob die Bürger wählen gehen. Die Qualität der Demokratie ist tangiert, und es liegt der Verdacht nahe, dass das Wahlsystem oder die ungleichen Bildungschancen das demokratische Kernprinzip der politischen Gleichheit aushöhlen. Ein Forschungsprojekt des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung mit der Universität Zürich, das die Demokratiequalität der 30 OECD-Staaten seit 1990 misst, signalisiert aber auch hier für Deutschland im internationalen Vergleich Entwarnung. Zwischen 1990 und 2007 haben die Parteien knapp eine Million, also etwa 40 % ihrer Mitglieder verloren. Ein Niedergang der Demokratie? Aber auch dies ist kein deutscher Sonderweg. Andere westliche Demokratien sind von einer ähnlichen Erosion der Mitgliedschaften in Parteien, Verbänden und Vereinen betroffen. "Bowling alone" hat der Harvard-Politologe Robert Putnam diesen kollektiven Bindungsverlust der Bürger in den individualisierten Gesellschaften des postindustriellen Zeitalters genannt.

Zudem ist es demokratietheoretisch keineswegs klar, ob starke Mitgliederparteien schlanken Wählerparteien vorzuziehen sind. Solange es den Parteien gelingt, das ihnen von den Wählern aufgegebene Mandat zu erfüllen, kommt es nicht auf Mitgliedszahlen an. Auch und gerade große Mitgliedsparteien können sich zwischen die Wähler und Repräsentanten schieben und den Wählerwillen verzerren. Dann bestimmen nicht mehr der Souverän, sondern aktive Parteimitglieder oder bezahlte Parteifunktionäre den politischen Kurs. Der deutsche Parteiensoziologe Robert Michels hat dies schon vor 100 Jahren auf die prägnante Formel gebracht: "Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie."

Andererseits bieten Parteien die Chance auf politische Beteiligung an der Willensbildung. Aus dieser Perspektive sind Mitgliederverluste nicht unbedingt ein positives Zeichen. Insbesondere junge Bürgerinnen und Bürger betrachten die politischen Parteien als anachronistische, erstarrte Organisationen, die eine aktive politische Einmischung kaum ermöglichen. Sie ziehen das Engagement bei Amnesty International, Human Rights Watch, Umweltverbänden oder Bürgerinitiativen vor. Das mag schlecht für die Parteien sein, aber nicht notwendigerweise für die Demokratie.

Problematisch bleibt dennoch, dass die Bürger europaweit den Parteien und Parlamenten seit Jahrzehnten die schlechtesten Noten von allen Organisationen und Institutionen der Demokratie geben. Dieses Misstrauen ist im Übrigen außerhalb Europas in Asien, Lateinamerika oder Afrika systematisch zu beobachten. Aber auch hier könnte man einwenden: Misstrauen gegenüber den Repräsentanten und Regierenden gehöre zu jenen unverzichtbaren Kontrollmechanismen, welche die Demokratie von Diktaturen unterscheidet.

Deutschland wählt. Kann sich der Wähler sicher sein, dass seine Stimme und das Wahlergebnis Einfluss auf die kommende Politik und die Regierungsbildung haben? Dass die Wähler schon lange nicht mehr unhinterfragt traditionellen Loyalitäten beim Wahlakt folgen, zeigt sich am ständig wachsenden Anteil an Wechselwählern. Seit 1987 steigt er bei Bundestagswahlen kontinuierlich an - von ca. 15 auf ca. 35 % bei den Wahlen 2005. Aus der Perspektive der Parteien bedeutet dies ein hohes Maß an Unsicherheit. Die Wahlentscheidung wird augenscheinlich immer stärker von der wahrgenommenen Leistung und dem Erscheinungsbild einer Partei abhängig gemacht. Demokratietheoretisch bedeutet diese relative Unabhängigkeit der Wahlentscheidung von traditionalen Loyalitäten etwas Positives: Die Wähler belohnen und bestrafen, senden also deutliche inhaltliche Signale.

Die verstärkte Flexibilität der Wähler hat aber weitere Folgen. Das Parteiensystem der Bundesrepublik ist heute differenzierter als vor der Vereinigung. Mit dem Erfolg der Partei Die Linke auch im Westen der Republik sind Mehrheiten nicht mehr so eindeutig wie zuvor. Regierungsbildungen können im Bund wie in den Ländern schwieriger werden. Welche Konsequenzen Wähler- und Parteiensystemwandel für die Zukunft der Bundesrepublik haben, ist ungewiss.

Sicher hingegen ist, dass sich die Parteien 2009 wie in den meisten Jahren im Dauerwahlkampf befinden. In Deutschland sind die Wahltermine dichter gesät als in den meisten Demokratien. Politik und Regierung befinden sich unter demoskopischer Dauerbeobachtung. Was bedeutet aber die Kaskade von Wahlen für die Demokratie und ihre Fähigkeit, die drängenden Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft zu lösen? Hier ist Skepsis geboten. Die häufigen Wahlen verkürzen die Gestaltungshorizonte in Deutschland noch über das Maß hinaus, die normale Legislaturperioden den Regierungen auferlegen. Reformen, die erst in weiterer Zukunft ihre Früchte tragen, sind für Politiker, die wieder gewählt werden wollen, auf dem Wählermarkt irrational. Das Interesse an der Maximierung von Stimmen und der Durchsetzung einer bestimmten Politik kollidieren unter solchen Bedingungen. Rationales Parteieninteresse am Machtgewinn fällt hier keineswegs mit dem Gesamtinteresse des Landes zusammen.

Der langwierige Umbau unseres Bismarckschen Sozialversicherungsstaates in einen modernen vorsorgenden Sozialstaat ist da kaum zu erwarten. In solchen Situationen ist politische Führung gefragt. Diese muss über das parteiliche Interesse und die nächsten Landtagswahlen hinausgehen. Dass dies möglich ist, hat gerade Gerhard Schröder, der wohl zu Unrecht als Dauerwahlkämpfer verdächtigt wurde, in seiner zweiten Amtsperiode bestätigt. Die Durchsetzung von Reformen auf dem Arbeitsmarkt im Zuge der Hartz-Gesetze hat ihm nicht nur den Unwillen der eigenen Partei eingebracht, sondern die SPD eine Landtagswahl nach der anderen verlieren lassen. Dennoch hielt der damalige Kanzler diesen Kurs, obwohl er kurzfristig den Parteiinteressen widersprach. Dem Land und seinen Arbeitsmärkten hat es genutzt, wie heute kaum ein ernst zu nehmender Ökonom bestreiten würde.

In Deutschland hat wie in den meisten westlichen Demokratien die Bindungswirkung der Politik nachgelassen. Aber die zentralen demokratischen Qualitäten sind gewährleistet. Aber alte Loyalitäten zählen wenig, die wahrgenommene Leistungsfähigkeit von Parteien und Regierungen viel. Hohe Wechselwähleranteile und ein differenziertes Parteienangebot machen Wahlausgänge und Regierungsbildung unsicherer. Das wird auch im Wahljahr 2009 so bleiben. Am Ende haben die Wähler das Wort. Sie werden die Wahl treffen, an der sich Parteien und Politiker zu orientieren haben.


Wolfgang Merkel (*1952) ist seit April 2004 Direktor der Abteilung "Demokratie, Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen" am Wissenschaftszentrum Berlin.
wolfgang.merkel@wzb.eu

Bernhard Weßels (*1955) ist Senior Research Fellow beim Wissenschaftszentrum Berlin und Privatdozent an der FU Berlin.
wessels@wzb.eu


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2009, S. 17-19
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2009