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DISKURS/084: Lifestyle- und Aktivbürger (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010

NEUE BÜRGERLICHKEIT?
Lifestyle- und Aktivbürger
Bürger-Projektionen

Von Thomas Meyer


"Neue Bürgerlichkeit" war, als Gunter Hofmann das Wort 1998 in die Debatte warf, ein Programmbegriff, der die selbstbewusste politische Kultur meinte, die er als gesellschaftliche Grundlage der rot-grünen Reformpolitik ausgemacht hatte. Aufgeklärt, offen, ökologisch verantwortlich, zivilgesellschaftlich engagiert und gerechten Zuständen verpflichtet - so das Leitbild dieser Aktivbürger. Es gab sie und es gibt sie in großer Zahl. Aber es hat nur ein paar Jahre gedauert, da war der neue Begriff in den Medien in koordinierter Aktion nach rechts umgepolt und beschwor fortan das Gegenteil von alledem, eine Art politisch kalkuliertes Biedermeier. Diese Rechnung scheint - fürs erste - aufgegangen.

Die Zweideutigkeit des deutschen Wortes "Bürger" stiftet immer neue Verwirrungen, weil sich mit dieser Konfusion trefflich spielen lässt. Anlässe dazu entstehen im politischen Leben des Landes immer wieder. Das jüngste Beispiel ist die forsche Selbstetikettierung der schwarz-gelben Koalition als "bürgerlich". Das ist der unausgesprochene Anspruch eines Bündnisses der verantwortlichen, den Staat tragenden Bürger des Landes gegen den Rest der vaterlandslosen Gesellen. Denn "bourgeois" wird diese Koalition ja offiziell kaum sein wollen. Sie gibt, soll der Begriff insinuieren, nun die Regierung in die Hände der eigentlichen Bürger zurück. Der Fluch ereilte die böse Tat freilich postwendend, als schon ihre ersten Gesetze die Begriffe unmissverständlich zurechtrückten. Was sich da selbst dem Begriffsstutzigsten zeigte, war besitzbürgerliche Interessenpolitik reinsten Wassers. Staatsbürgerlich jedenfalls war das nicht.

Ein guter Staatsbürger ist nur, so das frühliberale Motiv der schwarz-gelben Selbstetikettierung, wer im Interesse der Besitzbürger handelt. Diese raffinierte Kombination zweideutiger Begriffe mit eindeutigen Absichten will ausschließen. Den Oppositionsparteien und denen, für die sie stehen, weist sie den Status von Nicht-Bürgern zu, zum Regieren nicht berufen. Fehlte nur noch das "Neubürgertum" als sozial-kulturelles Unterfutter dieses Unterfangens. Den Grundstein dazu hatten indes andere schon mit Bedacht gelegt.


"Bürgerlich" als Wechselbalg

Wenige politische Begriffe haben so viel nützliche Verwirrung gestiftet wie der des "Bürgerlichen". Unter Stalin konnte hingerichtet werden, wer dieser Etikettierung verfiel. Für Marx und sein Gefolge war er der Inbegriff einer dem Untergang geweihten Ausbeutungsordnung mit allem was in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kunst dazu gehörte. Diese Gleichsetzung von "besitzbürgerlich" und "bürgerlich" hat viele 68er und einen großen Teil der Linken überall auf der Welt genarrt. Sie erzeugte die Vorstellung, dass staatsbürgerliche Gleichheit nicht möglich sei, solange ein Besitzbürgertum existiert. Bürgerliche Demokratie wurde gleichbedeutend mit der politischen Diktatur des Besitzbürgertums. Zur Ehre gereichte hingegen der Begriff des "Bürgerlichen" den mit ihm im Diffamierungsjargon der Nazis Geschmähten. Er sollte alles todbringend brandmarken, was an liberale Gesinnung gemahnte. Die Zahl der späten Bildungsbürger vom Schlage Heidegger und Carl Schmitt, die sich mit diesem antibürgerlichen Affekt verbündeten, war nicht gering. "Bürgerlich" war ihnen allen nicht nur das politisch und kulturell allzu Zahme, es war vor allem der Inbegriff ästhetischer und existenzieller Langeweile. Das Etikett des "Bürgerlichen" konnte also adeln oder vernichten.

Nun findet auf einmal, sozusagen als Rückstoß gegen das Establishment der 68er Kultur, ein klein-feines Nachwuchs-Milieu der Wohlstandsmitte den Reiz des Besonderen und Gewagten, paradox wie es ist, gerade in der Rückkehr zu einem selbst gemachten Phantom von "Bürgerlichkeit". "Bürgerlich" ist zur Übertretung geworden und damit chic. Das ist mehr als ein Spiel, hofft man doch, mit der Retro-Projektion auch die alten Sicherheiten und Distinktionen zurück zu gewinnen, die in seiner Epoche mit dem Status des "Bürgerlichen" einst verbunden waren. Vor allem in der scharfen Abgrenzung nach "Unten", das damit auf den ihm gebührenden Platz verwiesen wird und in der Verhöhnung aller Themen und Forderungen, die als links gelten. Durch die Gesellschaft geht mental wieder ein Riss.

Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, Staatsbürger - diese Begriffe hatten klare Bedeutungen in ihrer Epoche. Die Besitzbürger waren als Inhaber des Produktionsmitteleigentums Herren der Gesellschaft, privilegiert in ihrer Verfügungsmacht über die Eigentumslosen, ihren Lebenschancen, ihrer Bildung, aber auch ihrem Zugang zur politischen Macht. Im Frühliberalismus waren sie die eigentlichen Staatsbürger, denen allein die Teilhabe an der Gesetzgebung oblag. Bloß Passivbürger war der besitzlose Rest. Die Besitzbürger wollten die eigentlichen Staatsbürger sein und nur in der Wirtschaft, freilich durch den Zauber des Marktes auch da schon im Interesse aller, scheinbare Egoisten. Was Wunder, dass dort, wo sie den Staat beherrschten, die Interessen ihrer besitzlosen Mitbürger fast immer unter den Schlitten gerieten.

Das änderte sich erst, als das Prinzip Staatsbürger zuerst mit dem allgemeinen Wahlrecht und dann, nicht zu vergessen, dem universellen Grundrecht der social citizenship auf demokratische Grundlagen gestellt wurde. Die Bourgeoisie verlor damit ihre politische Legitimation und musste ihre Privilegien fortan sorgsam kaschieren. Das ging, immerhin, nicht ohne den großen historischen Kompromiss ab, den der grundrechtsgestützte Sozialstaat darstellt. Er gehört zum Wesen moderner Bürgerschaft.


Prägende Wirtschafts- und Bildungsbürger

Das Bildungsbürgertum, auch eine Kategorie des 19. Jahrhunderts, hatte schon seit der Mitte des 18. begonnen, sich politisch einzumischen. Professoren und Pastoren, Lehrer und Ärzte, Rechtsanwälte und Kaufleute, Künstler, Ingenieure und leitende Beamte, alle ihre Stellung erworbener Bildung verdankend, standen im Vormärz für Demokratie und Grundrechte. Als ihre Revolution in Deutschland gescheitert war, zogen sich die meisten ins Private zurück. Es blieben aber weiterhin die Repräsentanten dieses Milieus, die maßgeblich die Deutung der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung besorgten, im Guten wie im Schlechten.

In ihrer Zeit waren Wirtschafts- und Bildungsbürger prägende gesellschaftliche Milieus. Lebensstil und öffentliche Rolle sorgten für soziale Unterscheidung. Bei den Besitzbürgern waren es Familie, Nation und Leistung, die den Egoismus des Wirtschaftsbürgers mit dem Idealismus des Staatsbürgers verbinden sollten. Im Bildungsbürgertum galt der Anspruch, das eigene Leben in den Dienst der Kultur zu stellen. Das alles waren Selbstbilder, die Sinn und Halt gaben.

Die ökonomischen und kulturellen Grundlagen dieser Milieus zerbröseln in den modernen Dienstleistungsgesellschaften. Der Zugang zu wirtschaftlicher Macht ist nicht länger auf Eigentum beschränkt und führt nicht mehr automatisch zu Herrschaftspositionen. Bildung hat sich ausgebreitet und ist diffus geworden. Funktions- und Leistungswissen dominieren überall, als virtuose Vermittlungskunst auch in den Feuilletons, den mediengesellschaftlichen Nachfolgern der einstigen bürgerlichen Öffentlichkeit. Bildungswissen, das Kapital des Bildungsbürgertums, begründet für sich genommen nicht länger gesellschaftliche Einflusspositionen. Stattdessen ist der privilegierte Zugang zu öffentlichen Kommunikationschancen und deren mediengerechte Nutzung zur Schlüsselressource für gesellschaftlichen Einfluss geworden. Er ist unter der Parole der "neuen Bürgerlichkeit" zum organisierenden Prinzip für ein selbstbewusstes sozial-kulturelles Milieu geworden.

Es gibt eine einflussreiche Fraktion der kreativen Klasse der Kommunikationsprofis, die das eigene Lebensbild in jene verblassten historischen Milieus des Bürgerlichen zurückspiegeln und diese als ob wiederbeleben. Es handelt sich dabei um wichtige Teile zweier miteinander korrespondierender "neubürgerlicher" Milieus, die eine sozio-kulturelle Schlüsselrolle innehaben. Die empirische Sozialforschung nennt sie Neues Bürgertum und Moderne Performer. Beide dienen als soziales Substrat der mit viel ideologischem Überschuss befrachteten Erfindung der "neuen Bürgerlichkeit", einer originellen Mischung aus kultureller Dichtung und sozialer Wahrheit mit hartem Interessenskern.


Nietzsche-Light für die Ich-AGs der Neubürger

Das Neue Bürgertum neigt zum Cocooning, zum angenehmen Leben mit Freunden und Familie, jenseits öffentlicher Zumutungen. Seine neu belebten Abstiegsängste beschwichtigt es mit forcierten Berufserfolgen, Leistungsorientierung und einem nach unten ostentativ abgrenzenden "bürgerlichen" Habitus als Lifestyle.

Durchaus passend dazu greifen viele von ihnen zu Sloterdijks artistischem Privatheldentum als sinnstiftender, aber unverbindlicher Gloriole. Sie soll die Leere überdecken, die die Abkehr von der Aktivbürgerschaft hinterlässt. Sloterdijk ist eine Art Ersatz-Nietzsche für die Helden der Ich-AGs in der Mediendemokratie. Das Tagesgeschäft dieser Sinn-Dichtung besorgt ein mit beiden Beinen fest im Milieu der Modernen Performer verankerter Journalismus. Geistesverwandte akademische Publizisten liefern den Content, entpolitisierende Sinndeutungen für die neue Verantwortungsflucht.

Die journalistisch-publizistischen Performer, mediengesellschaftliche Erben des vormaligen Bildungsbürgertums, teilen drei Merkmale: eine herausgehobene Rolle in den Deutungsapparaten der Mediengesellschaft, privilegierte ökonomische Positionsinteressen im mittleren und gehobenen Angestelltensegment oder als von ihnen abhängige Zulieferer (die Heroismus- und Risiko-Apostel Sloterdijk und Bolz, im öffentlichen Dienst komfortabel verbeamtet), und eine Hinwendung zu kulturellen Normen und gesellschaftlichen Deutungen, die die eigenen sozialen Positionsinteressen immunisieren und gleichzeitig die "linken" Themen, die sie infrage stellen, höhnisch entlegitimieren. Das exemplarische Outing dieses neuen Habitus verdanken wir dem Spiegel-Journalisten Jan Fleischhauer.


Das neue Aktivbürgertum

Die gesellschaftliche Mitte, der soziale Ort des Bürgertums, befindet sich in einem Prozess der kulturellen und politischen Transformation. Die spätberufenen Erben von Besitz- und Bildungsbürgertum tun sich zu einer Art kleiner Kommunikations-Bourgeoisie, zum "neuen Bürgertum" zusammen. Das erklärt den Mentalitätswandel in einem bedeutenden Teil des Journalismus, der eine neue politisch-kulturelle Hegemonie im Lande organisieren will. Sie überschatten gegenwärtig in der Medienwelt jenen anderen Teil der gesellschaftlichen Mitte, den Gunter Hofmann beschwor: engagierte Aktivbürger, die Individualismus, demokratische Gesinnung, Leistungsethos und Solidarität im Handeln miteinander verbinden.

Sie sind der progressive Teil jener Sozialmilieus von Modernen Performern und Bürgerlicher Mitte, mit sozialem Schwerpunkt in den Milieus der Postmateriellen und Experimentalisten, Angehörigen der jüngeren Generationen in Kreativ-, Kultur- und Sozialberufen. Sie sind die Aktivbürger, auf die eine sozial-ökologische Reformpolitik von Mitte-Links setzen kann - und muss. Fürwahr, ein neues Bürgertum, das diesen Namen verdiente.


Thomas Meyer (* 1943) ist Professor (em.) für Politikwissenschaft an der Universität Dortmund und Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Zuletzt im VS Verlag erschienen: Was ist Demokratie? und Soziale Demokratie. Eine Einführung.
thomas.meyer@fes.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010, S. 17-20
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2010