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DISKURS/085: Die "neue" Bürgerlichkeit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010

Die "neue" Bürgerlichkeit
Flucht aus der Politik oder politische Neuorientierung?

Von Thomas E. Schmidt


Die "Neue Bürgerlichkeit" ist so neu auch nicht mehr. Der Begriff, ursprünglich eine Variante aktueller Lebensmodellbildung bezeichnend, nahm zu Beginn des Jahrzehnts von den Feuilletons aus seinen Aufstieg. Thomas E. Schmidt beschreibt, wie und wo sich heute das "neue Bürgertum" manifestiert und in der Parteienlandschaft widerspiegelt.


Erst war die "Neue Bürgerlichkeit" ein gesellschaftlicher Trend, dann bald, dank liebevoller medialer Aufmerksamkeit, anscheinend auch schon solide soziale Wirklichkeit. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie Neubürgerlichkeit sich quantitativ niederschlägt und ob sie womöglich nur in winzigen großstädtischen, materiell abgesicherten Zirkeln gelebt wird. Die "bürgerlichen" Parteien waren bürgerlich gemäß ihres jeweiligen Verständnisses, christlich oder wirtschaftsliberal akzentuiert. Die "Neue Bürgerlichkeit" artikulierte dagegen offensiv ein gesellschaftliches Selbstbewusstsein, in Distanz zur Sphäre der Politik, zu deren aktuellen Leitbildern und gesellschaftlichen Steuerungsversuchen - war sie doch ursprünglich nicht im Bereich der Politik beheimatet. Inzwischen spricht allerdings manches dafür, dass die Politik das Phänomen bemerkt hat und für ihre Zwecke nutzbar zu machen versucht.


"Bürger" ohne Reduzierung aufs Materielle

"Neue Bürgerlichkeit" entstammte dem Selbstverständigungsdiskurs der Post-68er, und zwar zu einem Zeitpunkt, da die Töchter und Söhne der kulturrevolutionären Helden publizistisch artikulationsfähig geworden, mehr noch: die kulturelle Hegemonie im Lande zu übernehmen in der Lage waren. Das neue Interesse an gesellschaftlichen Formen, Sekundärtugenden, an Ritualen, Traditionen und Herkunftsbeständen speiste sich aus vielerlei individuellen Motivlagen. Die "Neue Bürgerlichkeit" wertete die Kraft zur individuellen Unterschiedsmarkierung auf, zur Selbststilisierung, auch im Sinne von Disziplin und Maßhalten. Sie schlug eine anspruchsvolle Idee von persönlicher Integrität vor. Das Wort war elitär, insofern darin ästhetische Fragen zum legitimen Bestandteil eines ernsthaften und bedeutungsvollen Diskurses erklärt wurden. Im Unterschied zu den 68ern sollten Bildung und Haltung in dieser gezielten Absetzbewegung zum Kennzeichen einer freien Selbstbestimmung werden. Der Begriff war weder ideologisch, noch verband sich mit ihm ein gesellschaftliches "Projekt".

Vermutlich war genau das ein Grund für seinen Erfolg. Seine kulturalistische Stoßrichtung schützte ihn vor einer Identifikation mit besitzbürgerlichen Interessen. "Neue Bürgerlichkeit" war nicht bourgeois, sondern stand polemisch gegen die Politik, indem es einen "Bürger" ohne Reduzierung aufs Materielle behauptete. Das war im Kern mehr als stille, private Bildungsbürgerlichkeit. Es war auch nicht bloß Spießigkeit, weil es Repräsentationsmöglichkeiten für Lebensformen einforderte, die von den Parteien gar nicht oder nur verzerrt angesprochen wurden. Traditionalistisch oder gar reaktionär war die Idee keineswegs, wohl aber ein Protest gegen die Schrumpffigur des Homo oeconomicus. Wer "bürgerlich" ist, will nicht nur Konsument sein und politisch nicht nur als möglicher Fall sozialstaatlicher Grundversorgung angesprochen werden. Und schon gar nicht als bloßer Steuerzahler, der argwöhnisch sein Netto vom Brutto abrechnet und vom "fiskalischen Bürgerkrieg" (Peter Sloterdijk) träumt.

Die Forderung nach Anerkennung einer Würde des Geräuschlosen und Dezenten ist weder per se unpolitisch noch impliziert sie parteipolitische Präferenzen. Aber sie verändert die Prioritätensetzung der Politik in Richtung auf Bildung, Familie und Good Governance. Im besten Fall bewegt sich mit dem Phänomen etwas an der Schnittstelle zwischen einer zur Wahlbürgerlichkeit degenerierten Staatsbürgerlichkeit und der politischen Sphäre. Der "Bürger", der mehr sein will als Klientel oder Modernisierungsopfer, leistet sich nämlich keine Politikverachtung. Jede sich als Volkspartei verstehende politische Kraft wird sich mit der Provokation eines anspruchsvollen, gelingenden Lebens auseinanderzusetzen haben. Das ist keine Frage von Einkommensniveaus. Die Integration von Haltungen, die nicht schon von sich aus nach staatlicher Fürsorge oder nach Vertretung ihres Klientelinteresses streben, ist keine Selbstverständlichkeit, nicht einmal für die Parteien, die schon "bürgerlich" zu sein behaupten. Zu gewinnen wäre ein Potenzial stabilen Engagements.

Spätestens an dieser Stelle muss der Einwand kommen: Die "Neue Bürgerlichkeit" habe ja auch einer unerträglichen Verschnöselung der Republik Vorschub geleistet, vor allem sei sie daran schuld, dass in Berlin die Kulissen der Wohlerzogenheit geschoben wurden, bis es quietschte.


Verschnöselung der Republik?

Ob in der Zehlendorfer Variante mit Halstuch oder in Gestalt der geburtenstarken Bioladen-Selbstzufriedenheit in Prenzlauer Berg, die Hauptstadt wurde zum Schauplatz einer Neuerfindung des Bürgerlichen. Die Wertedebatten von Altpolitikern und Ex-Vorständen, die neoborussische Verkitschung Potsdams als geistige Lebensform, Joops Mode für die bohemistischen Augenblicke der angereisten Etablierten, auch die inflationären Literatursalons - all das sonnte sich im Glanz einer Wiederauferstehung der bürgerlichen Lebensform.

Es war unvermeidlich, dass der Begriff gefährlich zu schillern begann, nachdem er der medialen Verwertung anheim gegeben war. Von Anfang an hatte das Phänomen auch eine karikaturhafte Seite, vielleicht sogar eine Leitfigur. Sie kommt ausgerechnet aus der Politik. Keinem anderen stehen die neobourgeoisen Attribute so gut wie Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Er ist gebildet und ideologiefrei, seine Manieren sind so untadelig wie seine Kleidung. Anfangs bestaunte man ihn als Aristokraten, aber in Wirklichkeit ist er der ideale Neubürger unter den Mächtigen und vermutlich der Einzige, dem man seine CSU-Mitgliedschaft nicht übel nimmt. Zu Guttenberg kann weder Verdienste vorweisen noch ein scharfes politisches Profil, aber genau das macht seine Beliebtheit aus. Er ist Teil des politischen Establishments und weist doch gleichzeitig die Distanzierungsreflexe einer neobürgerlichen Haltung auf, und zwar ohne dass daraus antipolitisches Ressentiment würde.

Darüber kann man sich natürlich mokieren. Es ist auch zweifelhaft, ob Karl-Theodor zu Guttenberg eine bürgerlich-überparteiliche Rolle überhaupt anstrebt und sich etwas von der moralischen Autorität eines Helmut Schmidt oder Richard von Weizsäcker zulegen will. So manches spricht dafür, dass die Attraktivität von Politik und Politikern heute auf anderen Eigenschaften beruht als noch vor Jahren. Jüngere Leute nehmen andere Signale wahr und das politische Angebot ist in Sachen Wahlentscheidung und Engagement etwas in Richtung lebensweltliche Identifikation gerutscht. Parteien büßen dramatisch an Anziehungskraft ein, Politiker, die erkennbar anders sind als die unvertilgbaren Machtprofis, haben Zulauf. Unter ihnen sind auch solche mit bürgerlichem Habitus. Dass die Volksparteien bei der letzten Bundestagswahl Stimmen zugunsten der Ränder abgeben mussten, liegt ja auch daran, dass die Opposition mit Figuren aufwarten konnte, die den Typus des sympathischen oder auch sinistren Fremdlings im Betrieb verkörperten. Zu Guttenberg, Rösler, Gysi - aus unterschiedlichen Gründen strahlten sie alle das Flair des Nicht-Zugehörigen aus.

Strenge Gemüter werden das als mediale Verzerrung der Demokratie werten, aber es tut nun einmal seine Wirkung. In der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen lag die FDP bei der Bundestagswahl weit vor der SPD. Das ist mit dem liberalen Wahlprogramm kaum zu erklären, denn diese Gruppe hat andere Interessen als Steuerentlastungen. Deswegen führt die Frage, ob die "Neue Bürgerlichkeit" eine Flucht vor der Politik vorbereite, nicht sehr weit. Außerhalb der politischen Sphäre ist das Desinteresse an der Politik nicht mehr rechtfertigungsbedürftig. Eher müssen sich die Parteien legitimieren, warum sie sich noch ins gelebte Leben einzubrechen getrauen. Im Kern geht es nicht um die beste mediale Wahlkampfstrategie oder das richtige Gesicht, sondern um die kulturelle Anziehungskraft von Parteien. Dem tun soziale Bewegungen oder NGOs keinen Abbruch. Der Bürger, zumal der junge, "neue", hat sich von einer von Parteien getragenen Politik keineswegs abgekoppelt. Er bewegt sich im Fünf-Parteien-System unbefangen und zeigt sich unbeeindruckt von den alten Mythen, dem Kampf zwischen Kapital und Arbeit und dem Mythos vom alles verschlingenden Sozialstaat.


Gerechtigkeit als "bürgerliche" Sache

Selbstverständlich bewegen den Bürger noch Gerechtigkeitsfragen, besonders die Frage nach der Billigkeit von Ansprüchen. Dem Gerechtigkeitsgefühl liegt nicht das Bild ewiger und unlösbarer Interessenkonflikte zugrunde, die feine Tragik der Moderne, sondern die Erfahrungen und Lernprozesse einer im Prinzip funktionierenden Bundesrepublik. Berechtigt oder unberechtigt sind Ansprüche von Gruppen im Licht des politischen Dauerhandelns, das Gerechtigkeit herstellt und sich dabei oft genug in Dialektiken und Folgekosten verstrickt, die das Handlungsziel vernebeln. Die Kritik daran ist mit einem anderen Maßstab verknüpft: Gerechtigkeit als "bürgerliche" Sache ist dann die reflektierte Praxis traditioneller und moderner Anspruchsgruppen, und zwar im Medium einer Binnenethik des Gemeinwesens, genauer: einer Republik, die seit ihrer Gründung gelernt hat, die materiellen, aber auch die sozialen und kulturellen Ambitionen moderierend und im Geist der Verhältnismäßigkeit auszugleichen.

Bürgerlich daran ist, dass keine Identifikation mit einer vordefinierten Interessensposition erfolgt. Genau darin läge dann eine Gemeinwohlvermutung. In der tatsächlichen Politik der Bundesrepublik, egal welche Partei die Regierung stellte, schlugen sich "bürgerliche" Tugenden viel sinnfälliger nieder als in nachgetragenen Wertediskursen. Regierungskunst, das Gelingen von Politik, hat sich im kollektiven Gedächtnis viel tiefer eingegraben als die Mythologien der politischen Parteien. Das wäre der normative Kern des neubürgerlichen Phänomens. Jenseits von Kleidungs- und Etikettefragen existiert da eine politische Haltung. Die SPD hat augenscheinlich wenig Interesse daran, diese Haltung zu integrieren, während die Koalition aus Union und FDP gerade dabei ist, dieses Legitimitätsreservoir zu verspielen.


Thomas E. Schmidt (* 1959) ist Journalist und zurzeit als Kulturkorrespondent der Zeit in Berlin tätig.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010, S. 21-23
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2010