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DISKURS/107: Innovation in der Bürgerbeteiligung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2015

Die Kombination ist entscheidend
Wie man die Vorteile deliberativer und direktdemokratischer Partizipationsverfahren nutzen kann

Von Birgit Böhm


Die drei Verfahren politischer Partizipation (Wahlen als Verfahren parlamentarischer, Bürger- und Volksentscheide als Verfahren direkter und öffentliche Beratschlagung als Verfahren deliberativer Demokratie) erreichen allein jeweils nicht mehr die Quantität und Qualität, die eine Demokratie lebendig erhält. Sie haben aber jeweils ihre Vorteile, die innovativ verbunden werden sollten, damit das Volk, von dem laut Artikel 20 des Grundgesetzes "die Staatsgewalt" im "demokratischen und sozialen Bundesstaat" Deutschland ausgeht, der Wirksamkeit seiner politischen Teilhabe wieder mehr vertraut.

Wahlen und politische Parteien erreichen nicht mehr die Quantität an Beteiligung, die für eine breite Legitimation wünschenswert wäre. Die Wahlbeteiligung ist, insbesondere auf Landes- und kommunaler Ebene, in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen und betrug z.B. 2015 in Bremen nur noch 50,1 %. Nur noch 1,8 % der bundesdeutschen Bevölkerung war 2013 Mitglied einer Partei, 1993 waren es noch 3,0 % (Oskar Niedermayer). Viele Bürgerinnen und Bürger, besonders sozial benachteiligte und bildungsferne Gruppen, engagieren sich nicht mehr in Parteien.

Soziale und politische Ungleichheit findet sich in allen drei Verfahrenstypen, auch unter den gewählten Abgeordneten ist kaum jemand aus einer armen Bevölkerungsgruppe. Und die Ungleichheit findet sich ebenso in der Präsenz- wie in der Online-Beteiligung. Solange die soziale Ungleichheit nicht verringert wird, ist Inklusion für keinen der Verfahrenstypen ausreichend möglich. Denn bei großer Ungleichheit geht die Fragmentierung, d.h. die Aufspaltung der Gesellschaft in immer mehr einzelne Gruppen und Milieus, mit "wechselseitiger Vergleichgültigung" einher, unter deren Bedingungen Solidarität "zu einem sehr knappen Gut" wird, wie Heinz Bude konstatiert.

Trotz Zurückhaltung bei Wahlbeteiligung und Parteimitgliedschaft möchte die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland Bürgerbeteiligung ausbauen und mehr darüber mitbestimmen dürfen, was entschieden wird. Das zeigen frühere und aktuelle Umfragen wie die von FORSA und die steigende Zahl von Bürger- und Volksentscheiden. Sie bieten als gesetzlich geregelte, direktdemokratische Verfahren den Vorteil, dass alle Wahlberechtigten abstimmen können und das Ergebnis verbindlich umgesetzt werden muss. Allerdings ist dabei nur noch eine Entscheidung zwischen zwei sich konträr gegenüberstehenden Vorschlägen, jedoch nicht mehr Diskussion, Kompromissfindung oder die Entwicklung neuer Lösungen möglich. Art und Umfang von Information und Deliberation sind im Vorfeld der Abstimmung, abgesehen von der Darstellung der konträren Vorschläge bei den Abstimmungsunterlagen, jedoch nicht verpflichtend geregelt. Ein Diskurs findet daher vor allem zwischen den sich gegenüberstehenden Interessengruppen statt, d.h. der gewählten Vertretung auf politischer, und organisierten Betroffenengruppen auf bürgerschaftlicher Seite. Und beide Seiten nehmen für sich in Anspruch, jeweils das Allgemeininteresse zu vertreten.

Deliberative Verfahren wie Bürgerdialoge oder Bürgerwerkstätten haben den Vorteil, dass sie Zeit und Raum für Information, Diskussion, gegenseitiges Verständnis und Meinungsbildung lassen, auf deren Basis ab- und ausgewogene Empfehlungen und neue Lösungen entwickelt werden können. Dieser intensive Diskurs erfordert allerdings einige Ressourcen, wenn sehr viele Personen beteiligt werden sollen. Zudem sind die Verfahren nicht gesetzlich geregelt und es gibt keine Verpflichtung zur Umsetzung ihrer Ergebnisse.

Jeder dieser demokratischen Verfahrenstypen kann allein nicht das leisten, was notwendig erscheint: informationsbasierte, tiefergehende Diskussion und Meinungsbildung mit Orientierung an Gemeinwohl und Solidarität, breite Abstimmung mit verbindlicher Ergebnisumsetzung und politische Inklusion. Daher wird hier im Sinne einer "hybriden Partizipation" (Norbert Kersting) eine verbindliche Kombination deliberativer und direktdemokratischer Verfahren vorgeschlagen.

Wie könnte das konkret aussehen? Nehmen wir an, eine Kommune möchte eine freie Fläche bebauen. Aufgrund des Partizipationsparadoxes, d.h. der Schwierigkeit, Personen dann zur Beteiligung zu motivieren, wenn die Planung, um die es geht, noch weit in der Zukunft liegt, oder auch aufgrund von Versäumnissen bei der frühzeitigen Beteiligung, kann es dazu kommen, dass sich nur direkt Betroffene, die im Umfeld der Fläche wohnen, organisieren und zur Durchsetzung ihrer Interessen beteiligen. Wenn sich schließlich zwei konträre Positionen gegenüberstehen, ein Bürgerbegehren erfolgreich und damit ein Bürgerentscheid vorgesehen ist, sollte es in der hier vorgeschlagenen Kombination zunächst eine verpflichtende Zwischenphase der deliberativen Beteiligung geben. Das Hauptargument für diesen Vorschlag ist die Notwendigkeit ausgewogener Information und Diskussion in dieser Phase. Diejenigen, die nicht in Interessengruppen organisiert sind, aber mit abstimmen werden, sollten sich umfassender erkundigen und auf Basis von Diskussionen eine Meinung bilden können. Dabei sollte man auf die Bevölkerungsgruppen, die sich bisher wenig beteiligen, im wahrsten Sinne des Wortes "zugehen", also sie aufsuchen.

Methode Planungszellen / Bürgergutachten

Die Bereitstellung ausgewogener Information kann durch das Vorgehen mit der Methode Planungszellen/Bürgergutachten (Peter C. Dienel) gewährleistet werden. Sie wird mit im Zufallsverfahren aus dem Einwohnermeldeamt ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt, die in Gruppen von je 25 Personen in zwei bis vier Tagen, moderiert von einer neutralen Prozessbegleitung, Empfehlungen zu einer konkreten Problemstellung erarbeiten. Die Teilnehmenden werden dafür von alltäglichen Verpflichtungen freigestellt und erhalten eine Aufwandsentschädigung. In einem strukturierten, standardisierten und transparenten Ablauf werden sie ausgewogen informiert, diskutieren in wechselnd zusammengesetzten Kleingruppen und erarbeiten Empfehlungen, die in einem Bürgergutachten zusammengestellt werden.

Bei der Verbindung von deliberativer und direktdemokratischer Partizipation in der hier vorgeschlagenen Zwischenphase würde das Bürgergutachten Empfehlungen dazu enthalten, welche Informationen im Vorfeld des Bürgerentscheids auf einer Plattform zusammengestellt und wie die Bevölkerung darauf aufmerksam gemacht werden sollte, um den Meinungsbildungsprozess zu unterstützen. Dabei sollte auch offengelegt werden, wo Informationen und Wissensbestände noch durch Unsicherheit geprägt sind. Ergänzend oder alternativ ließe sich das Verfahren auch für weitere deliberative Beteiligung vor dem Bürgerentscheid einsetzen, indem in Planungszellen die Gesamtproblematik vor dem Hintergrund der beiden sich gegenüberstehenden Vorschläge und weiterer möglicher Vorschläge und Informationen beratschlagt und nach Kompromisslösungen gesucht wird. Durch die Zufallsauswahl hat die Methode den Vorteil, dass der Gleichheitsgrundsatz bei der Auswahl durch gleiche Chancen zur Teilnahme für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet wird. Bei geschichteter Stichprobe könnte sogar ein noch repräsentativerer Querschnitt der Bevölkerung erreicht werden. Der Einfluss von Lobby-und Interessengruppen würde gemindert und die erarbeiteten Empfehlungen wären weniger an Partikular- und stärker am Gesamtinteresse orientiert. Daneben können in parallelen, offenen Bürgerdialogen vor Ort und online weitere Beteiligungsmöglichkeiten geboten werden. Zugleich bietet dieser Vorschlag den Vorteil einer Disziplinierung der öffentlichen Diskussionskultur, was angesichts der Entgleisungen, die z.B. aktuell in sozialen Netzwerken zu Themen wie der Aufnahme von Asylbewerbern zu beobachten sind, wünschenswert ist.

Am Ende dieses Vorgehens mit der Verbindung von Vorteilen direktdemokratischer und deliberativer Verfahren stehen entweder Vorschläge, die zu einer neuen Lösung führen, die von den sich konträr gegenüberstehenden Gruppen gemeinsam getragen werden kann. Dann kann in beiderseitigem Einverständnis auch auf eine Abstimmung verzichtet werden. Oder eine Abstimmung zwischen den konträren Vorschlägen findet statt. Dann aber auf Basis tieferer und breiterer Information und Meinungsbildung. Diese Aussicht, dass am Ende der Deliberation entweder eine gemeinsam getragene Lösung oder eine Abstimmung steht, deren Ergebnis verbindlich umgesetzt werden muss, hat auch Potenzial, größere Anteile der Bevölkerung für die politische Beteiligung zurück zu gewinnen. Denn die Bürgerinnen und Bürger wissen und erleben, dass Ergebnisse nicht in der Schublade landen. Damit unterstützt die Deliberation eine Entscheidungsfindung, die stärker am Allgemeinwohl orientiert ist als die Ergebnisse der jeweils einzelnen Verfahrenstypen. Schließlich finden Entscheidungen größere Akzeptanz und die Identifikation mit dem Gemeinwesen wird gestärkt.


Birgit Böhm leitet am nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung die Akademie für Partizipative Methoden und arbeitet parallel an der TU Berlin zum Thema Partizipation in der Forschung.
boehm@nexusinstitut.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2015, S. 24 - 26
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2015

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