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DISKURS/127: Debatten über Kapitalismus und gesellschaftliche Transformation - aktuelle Schlaglichter (spw)


spw - Ausgabe 3/2017 - Heft 220
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Debatten über Kapitalismus und gesellschaftliche Transformation - aktuelle Schlaglichter

von Benjamin Mikfeld und Thilo Scholle(1)


Wir erleben Zeiten dynamischer Veränderungen und großer Unsicherheiten, die durch den Verlust politischer Gewissheiten begleitet werden. Daher verwundert es nicht, dass auch die politischen Interpretationen, Lösungskonzepte und Diskurse vielfältiger werden. Durch die digital vermittelte Kommunikation wird dies noch verstärkt: In jeweils eigenen Filterblasen und Echokammern werden Bastelideologien geschaffen, Milieus und Lebenswelten driften auseinander. Auf der einen Seite haben wir es mit der "großen Regression"(2) zu tun, einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität im nationalistischen Rückwärtsgang. Auf der anderen Seite wird die Krise "des Kapitalismus" oder auch des "kapitalistischen Staates" in einer Vielzahl von disparaten Analysen und Diskursen auf unterschiedliche Weise thematisiert. In der Klemme zwischen alledem befindet sich die Sozialdemokratie. Ihre einstige Stärke, Milieus zu verbinden, Diskurse zu verzahnen und zukunftsfähige Leitbilder und Kompromisse zu entwickeln, scheint geschwächt. Offensichtlich ist jedenfalls, dass ohne eine Verständigung zumindest über die Eckpunkte eines grundsätzlichen Kapitalismusverständnis und der Einordnung der aktuellen ökonomischen Entwicklungen auch die Entwicklung eines zukunftsfähigen politischen Leitbildes nicht gelingen wird.

So abstrakt richtig die vielfach vorgetragene Forderung nach einem "neuen linken Narrativ" sein mag, so wohlfeil ist sie auch. Gibt es überhaupt die eine wirkmächtige linke Kapitalismuskritik, wo doch so viel Empörung über ebendiesen herrscht? Oder lautet die Frage eher: Wenn ja, wie viele sind es? Und wenn es viele sind, gibt es politische Akteure, die in der Lage sind, diese politisch zu verknüpfen und handlungsmächtig zu machen?

Zur zweiten Frage mag zunächst die Feststellung genügen, dass die "99 Prozent", die von so unterschiedlichen Akteuren wie der Occupy-Bewegung oder dem Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz als neues Subjekt der Veränderung angesprochen werden, nichts eint, außer der statistischen Tatsache, dass sie nicht zum oberen einen Prozent gehören. Sie eint kein gemeinsamer Diskurs, die tatsächlichen individuellen und kollektiven Interessenlagen sind keinesfalls deckungsgleich, und ein politisches Subjekt sind sie schon gar nicht.

Wir können an dieser Stelle keine Ideologiegeschichte der Kapitalismusanalyse vorlegen, sondern allenfalls einige Schlaglichter auf gegenwärtige Interpretationen und Konzepte links der Mitte werfen. In einem zweiten Schritt wollen wir uns dann mit der Frage beschäftigen, welche Anschlussmöglichkeiten für die Sozialdemokratie bestehen.

Als ein erster Versuch der Rationalisierung und Bündelung aktueller Kapitalismusdiskurse lassen sich vier, nicht völlig trennscharfe, Spannungsfelder der Debatte herausarbeiten.

Krise der Ökonomie, neue Verteilungsfrage, neue Unsicherheiten?

In dieser Debatte stehen die Ökonomie und ihre Krisenhaftigkeit im Zentrum. Ausgangspunkt ist für viele Beiträge die wachsende soziale Spaltung in den OECD-Staaten seit den 1980er Jahren und die Verschärfung der Krisenhaftigkeit im Zuge der Finanzkrise ab 2007 aber auch der wachsende Konkurrenzdruck, der nicht zuletzt die Mittelschichten erfasse.

Der wohl auch medial einflussreichste ökonomische Diskurs hat die "neue Ungleichheit" zum Thema. So beklagte der Historiker Hans-Ulrich Wehler eine "neue Umverteilung", der zufolge die Schere von Einkommen und Vermögen immer weiter auseinanderklaffe.(3) Marcel Fratzscher sieht einen "Verteilungskampf", der durch eine Wirtschaftspolitik verstärkt werde, die "immer stärker darauf ausgerichtet ist, Einkommen, Vermögen und Privilegien den einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen zuzuteilen, ohne das langfristige Interesse der Gesellschaft als Ganzes zu wahren".(4) International haben vor allem der große Erfolg des Werks "Das Kapital im 21. Jahrhundert" von Thomas Piketty(5) sowie weitere renommierte Beiträge(6) die Debatte über die ungleiche Entwicklung von Kapital und Lohneinkommen befeuert, in der neben empirischen Verteilungsdaten auch Themen wie Armut, Reichtum und Macht, gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie die Frage nach der Gültigkeit grundlegender (u.a. meritokratischer) Prämissen der sozialen Marktwirtschaft verhandelt werden. Dabei stößt man im Segment der populär geschriebenen Werke vor allem auf US-amerikanische Beiträge, welche die Macht der Monopole und der Wall-Street, die Rent- Seeking-Ökonomie und die Verarmung der Mittelschicht thematisieren und diesen Entwicklungen mit einer linkskeynesianischen Agenda der Regulierung und Umverteilung begegnen wollen.(7) Ambitioniertere Versuche im Umfeld der deutschen Sozialdemokratie setzen auf Konzepte wie "soziales Wachstum"(8) oder einen "guten Kapitalismus".(9)

In einigen Debattenbeiträgen wird der Versuch unternommen, die Brücke zwischen "Innovation und Gerechtigkeit" nicht nur konzeptionell, sondern auch diskurspolitisch anzugehen. Mariana Mazzucato versteht ihren Beitrag über die innovationspolitische Rolle des Staates als "Appell, die Art und Weise zu ändern, wie wir über den Staat sprechen, über seine Rolle in der Wirtschaft; ein Appell, seine Rolle mit anderen Worten und Bildern zu beschreiben".(10) So kritisiert sie das fehlende "Bindeglied zwischen dem Mikro- und Makroaspekt" in der Wirtschaftswissenschaft und die "Verbindung zwischen der keynesianischen Ausgabenpolitik und den Schumpeterschen Investitionen in Innovationen".(11)

Soziologisch ausgerichtete Ansätze thematisieren die sozialstrukturellen Konsequenzen. So diagnostiziert Steffen Mau einen "Umschlag von einer Leistungs- in eine Besitzgesellschaft".(12) Sighard Neckel spricht von einer neuen "Oligarchie" und einer "Refeudalisierung der Gesellschaft".(13) Kritische Protagonist/innen dieses Diskurses spitzen diese Diagnose eines hohen Anteils prekärer Arbeitsverhältnisse in Begriffen wie dem einer "Abstiegsgesellschaft"(14) zu. Der Sozialforscher Heinz Bude diagnostiziert eine "Atmosphäre der Angst in der deutschen Mittelschicht, die sich wie ein leises Rauschen unmerklich, aber trotzdem unleugbar ausbreitet."(15) Als Symptome und Ursachen sieht er u.a. Orientierungsverlust, das Zerbrechen des "organischen Zusammenhangs von Autonomiestreben und Gemeinschaftsbindung",(16) das Auseinanderdriften von Milieus der gesellschaftlichen Mitte und einen politischen Kontrollverlust der "Niemandsherrschaft".(17) Auch Byung-Chul Han thematisiert als unermüdlicher Kritiker neoliberaler Dispositive die "Angst": Viele sind heute von diffusen Ängsten geplagt, Angst zu versagen, Angst zu scheitern, Angst abgehängt zu werden, Angst einen Fehler zu machen oder eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Wir leben längst in einer Gesellschaft der Angst."(18)

Ein zentraler Beitrag der Kapitalismusanalyse bestand in den vergangenen Jahren in der Diskussion über die Herausbildung eines "Finanzmarktkapitalismus"(19) bzw. einer "Finanzialisierung" der Ökonomie: Die Macht- und Entscheidungsverhältnisse in den großen Kapitalgesellschaften hätten sich gegenüber früheren Phasen des Kapitalismus grundlegend geändert. Für eine kurzfristige Renditesteigerung würden Unternehmen ausgeschlachtet und ausgebeutet, demontiert und verscherbelt. Damit handele es sich um eine Bewegung, die nicht nur hinsichtlich ihrer Dauer und transnationalen Ausdehnung, sondern auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Tiefe als historisch außergewöhnlich betrachtet werden müsse. Nicht nur die Finanzmärkte und die Wirtschaft als gesellschaftliches Teilsystem seien betroffen, sondern die gesamte Gesellschaft, angefangen von der Ebene der globalen Märkte über die der Nationalstaaten, der Banken und Nichtfinanzunternehmen bis hin zur Ebene der Individuen und privaten Haushalte.(20) Dabei - so eine differenzierte Bewertung - wurden "Finanz(markt)kapitalismus" oder "Finanzialisierung" jedoch nicht selten als analytisch unpräzise "Umbrella-Begriffe" einer "Epochenbeschreibung" eingesetzt, die vor allem einer normativen Anklage des Neoliberalismus dienten.(21)

Radikale Analysen gehen von einer bevorstehenden "Entscheidungsschlacht" aus. So sieht Immanuel Wallerstein die Grenzen des bestehenden Systems der Kapitalakkumulation angesichts einer "Strukturkrise" erreicht, sodass kein Gleichgewicht mehr bestehe. Er stellt als Alternativen den "Geist von Davos" als dem Versammlungsort der Politik- und Wirtschaftseliten den "Geist von Porto Allegre" als dem Ursprungsort der Weltsozialforen gegenüber. "Wir leben in einer Strukturkrise, in der es einen Kampf um das Nachfolgesystem gibt. Auch wenn der Ausgang nicht vorhersehbar ist, können wir sicher sein, dass in den kommenden Jahrzehnten die eine oder andere Seite gewinnt und dass ein neues, einigermaßen stabiles Weltsystem hergestellt wird (oder ein Komplex von Weltsystemen)."(22)

Die ökologische Frage

Während auf der einen Seite wirtschaftliches Wachstum als simple Notwendigkeit für die Stabilität einer ökonomischen Ordnung vorausgesetzt wird, treten wachstumskritische Diskurse in unterschiedlichen Gewändern auf. Neben konservativ-libertär anschlussfähigen Verzichtsdiskussionen und idealisierten Vorstellungen vom "einfachen Leben", die meist die Notwendigkeit von Wachstum als zu kritisierende "Ideologie" und nicht als Ergebnis einer Lesart ökonomischer Analyse einordnen, treten auch Ansätze, die das Wachstumsparadigma mit den ökonomischen Notwendigkeiten einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Bezug setzen. Im Hintergrund der Wachstumsfrage steht damit auch die Frage, was zur - ggf. auch sozialen - Stabilisierung des Kapitalismus notwendig ist, oder ob die ökologische Zukunftssicherung der Gesellschaften nur mit einer Überwindung des Kapitalismus zu bewerkstelligen ist.

Der Diskurs "Grünes Wachstum" geht von den ökologischen Grenzen des Wachstums aus, sieht aber die Lösung weniger im Konsumverzicht oder in alternativen Gesellschaftsmodellen und Lebensstilen, sondern vor allem (zumal im globalen Maßstab) in technologischer Innovation. "Grünes Wachstum ist im Wesentlichen das Produkt hoher (und im Vergleich zu heute) steigender Investitionen und einer höheren Innovationsgeschwindigkeit."(23) Formuliert wird die Hoffnung auf eine digitale Dividende: Zum einen sollen im internationalen Wettbewerb neue Produkte und Märkte zur Sicherung des Standorts und zum Erhalt bzw. zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. Zum anderen sollen diese einen Beitrag zur Lösung der ökologischen Problemlagen leisten und durch die Steigerung der Ressourcenproduktivität auch neue Verteilungsspielräume eröffnen. Der Topos des "qualitativen" oder inzwischen öfter auch "grünen Wachstums" ist verbunden mit einer Hoffnung auf dezentrale, vernetzte Strukturen, wobei hier Übergänge zum ebenso ökologisch ausgerichteten Postwachstums-Diskurs (siehe unten) bestehen. Andere Protagonist/innen wiederum grenzen sich von diesem Diskurs klar ab und charakterisieren ihn als "Seufzer einer akademischen Mittelschicht, die schon alles hat, was das Herz begehrt".(24)

Weit radikaler sind Diskurse und Konzepte, die mit dem gegenwärtigen kapitalistischen Wachstumsmodell brechen wollen und für eine Strategie des "Postwachstums" plädieren: Der zentrale Ausgangspunkt sind die ökologischen Grenzen des Wachstums, die Endlichkeit der Ressourcen, die begrenzte Aufnahmefähigkeit der Senken und die Einsicht, dass das vorherrschende Wirtschaftsmodell nicht für eine wachsende Weltbevölkerung verallgemeinerbar sei. Darüber hinaus wird diese Sichtweise stärker als in allen anderen dargestellten Diskursen mit einer Kritik an verschiedenen Herrschaftsverhältnissen zwischen den Nationen, Klassen und Geschlechtern sowie des Menschen gegenüber der Natur verknüpft.

So versuchen Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem aktuellen Buch "Imperiale Lebensweise", Diskussionen über die Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen mit grundsätzlichen Kapitalismusdebatten zu verbinden.(25) Unter imperialer Lebensweise verstehen die Autoren ein Leben auf Kosten der natürlichen Ressourcen, meist im globalen Süden, sowie auf Kosten von ausgebeuteten Menschen. Auf der anderen Seite soll die imperiale Lebensweise einen Doppelcharakter besitzen: als struktureller Zwang und als Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten.(26) Die "imperiale Lebensweise" sei tief in den politischen Institutionen und der Wirtschaft, der Kultur, Mentalitäten und den Interessen relevanter politischer und gesellschaftlicher Akteure sowie in den Alltagspraxen verankert, und damit ein Hauptgrund dafür, warum Strukturveränderungen so schwierig seien.(27) Ein wichtiger Schlüssel zur Überwindung zerstörerischer Naturverhältnisse liege im Abbau sozialer Herrschaft.(28)

Internationale Wirtschaftsbeziehungen und Gestaltungsmöglichkeiten des Nationalstaats

Der Blick auf die internationalen Zusammenhänge des Kapitalismus war immer schon ein wichtiges Thema der Linken. In den vergangenen Jahren hat sich dies vor allem an zwei Themenfeldern konkretisiert: der Debatte über Freihandel und der Debatte über die ökonomische Funktion sowie mögliche fortschrittliche Gestaltungsmöglichkeiten durch die Europäische Union.

Die Diskurse über Freihandel und Globalisierung weisen viele theoretische Stränge bzw. wirtschaftliche, ethische, ökologische, politische Begründungen auf und changieren zwischen moralischer Empörung, konkreten Alternativkonzepten für die Weltwirtschaft und radikaler Kapitalismuskritik. In jüngster Zeit haben die Auseinandersetzungen um Freihandelsabkommen wie TTIP diese Diskurse auch "massenwirksam" werden lassen.

Bei allen Differenzierungen ist man sich erstens in der zentralen Kritik einig, dass der Freihandel bzw. der globalisierte Kapitalismus zumindest nicht per se zu mehr Wohlstand führe und die positiven Wirkungen nach Sektoren, Nationen und Regionen sehr unterschiedlich verteilt würden. Dani Rodrik weist darauf hin, dass eine Bilanz des Freihandels die "gesellschaftlichen Kosten" nicht berücksichtige.(29) Ebenso sei der Freihandel keine Win-Win-Situation, sondern produziere Gewinner und Verlierer: "Je offener eine Volkswirtschaft ist, desto schlechter wird das Verhältnis zwischen Effizienzgewinn und Umverteilungsverlusten."(30) Stiglitz und Greenwald verweisen darauf, dass die Aufholprozesse, gerade der asiatischen Länder, nicht auf offenem Freihandel basierten, sondern auf einer strategischen Industriepolitik und gezielten Öffnung der Märkte: "Die Fortschritte in der modernen Wirtschaftstheorie haben die althergebrachte Hypothese auf den Kopf gestellt: Mittlerweile geht sie davon aus, dass Freihandel nicht wünschenswert ist."(31)

Der zweite Konsens der Globalisierungskritik besteht in der Schwächung der demokratischen Einflussnahme. Als "neuen Konstitutionalismus" bezeichnet Bieling die "Genese einer markt- und wettbewerbszentrierten Form inter- beziehungsweise transnationaler Rechtsstaatlichkeit, die Effizienz, Disziplin, und Investorenvertrauen belohnt, gleichzeitig aber derartige wirtschaftliche Kernfragen einer demokratischen politischen Kontrolle und Einflussnahme tendenziell entzieht".(32) Ein dritter - auch weitgehend geteilter Aspekt - ist die Kritik am globalen ressourcenintensiven Wachstumsmodell, das auf Dauer nicht tragfähig sei.(33)

Zugleich wird intensiv über die Rolle der Europäischen Union diskutiert. Neben der im sozialdemokratischen Mainstream nach wie vor präsenten Forderung nach einem "mehr" an wirtschaftlicher und sozialer Kooperation und Steuerung in Europa treten auch Debattenbeiträge, die eine intensivere Kooperation auf europäischer Ebene für faktisch aussichtslos halten, und die sich für eine stärkere Rückbeziehung auf die politische Handlungsebene des Nationalstaats aussprechen. Deutlich wurde dies beispielsweise in der publizistischen Debatte zwischen Jürgen Habermas und Wolfgang Streeck in den "Blättern" im Jahr 2013. So formuliert Streeck in seinem Beststeller "Gekaufte Zeit": "Gesellschaftliche Heterogenität in Europa wird auf absehbare Zeit auch Heterogenität zwischen unterschiedlichen lokalen, regionalen und nationalen Lebens- und Wirtschaftsweisen sein." Die Europäische Währungsunion sei ein Fehler gewesen, den man nun nicht durch die "Flucht nach vorn" vergrößern dürfe, in dem man die politische Union vervollständige. Besser sei ein "europäisches Bretton Woods" mit einem geordneten System flexibler Wechselkurse.(34)

Die digitale Frage

Oben skizzierte Debatten werden seit einigen Jahren ergänzt um Interpretationen des wohl gegenwärtig intensivsten öffentlich verhandelten Megatrends: der Digitalisierung. Dabei ist ein zentraler Kritikpunkt, der viele Diskurse der Digitalisierung verbindet und der weit bis ins bürgerliche Lager hineinreicht, das Unbehagen gegenüber der "kalifornischen Ideologie" und den Geschäftsmodellen, die ihren Ursprung im Silicon Valley haben. Neben der Kritik an der ökonomischen Marktmacht der großen IT-Konzerne und Plattformen ist vor allem die Hybris der digitalen Gesellschaftsoptimierung und die Gefahr einer neuen Kontrollmacht das Thema. Den Anspruch, auf sämtliche gesellschaftliche Probleme eine technologische Antwort finden zu wollen, kritisiert Evgeny Morozov als "Solutionismus": "Das Vorhaben des Silicon Valley, uns alle in eine digitale Zwangsjacke zu stecken und Effizienz, Transparenz, Gewissheit und Perfektion zu fördern und gleichzeitig ihre 'bösen' Zwillinge das Sperrige, das Undurchsichtige, das Mehrdeutige und Unperfekte auszumerzen, wird uns langfristig sehr teuer zu stehen bekommen."(35)

Zugleich werden aber auch die möglichen sozialen Verwerfungen der digitalen Ökonomie thematisiert. Diagnostiziert wird ein Formwandel des Kapitalismus hin zu einem "Plattform-Kapitalismus", "Informationskapitalismus" oder "digitalen Kapitalismus", in dem "bestimmte institutionelle Standards, wie zum Beispiel jener der lohnabhängigen Beschäftigung als zentraler gesellschaftlicher Integrationsmechanismus, systematisch gefährdet sind, aber auch neue Standards forciert werden."(36) Die über Plattformen vermittelte Arbeit - sei es im Bereich der On-Demand-Dienstleistungen (wie der Taxidienst UBER) oder das Crowdworking - bedeute eine neue negative Qualität der Arbeit und der Ausbeutung. Thematisiert wird eine Dualisierung der Ökonomie auch im Zeitalter der Digitalisierung: "Den exportstarken Branchen mit großen Anteilen von qualifizierten Beschäftigten im Hochtechnologiebereich steht ein expandierender Sektor mit niedrig entlohnten, instabilen und häufig wenig anerkannten Dienstleistungstätigkeiten gegenüber, dessen Arbeitsproduktivität nach herkömmlichen Maßstäben weit hinter der des industriellen Sektors zurückbleibt."(37)

Eine zentrale Leitfigur alternativer Digitalisierungsdiskurse ist der/die kreativ Tätige bzw. der/die Wissensarbeiter/in. Dieser Diskurs wendet sich gegen die Normierungen und Reglementierungen der industriellen Produktionsweise. In der konsequenteren Ausprägung wird lohnabhängige Erwerbsarbeit zugunsten eines "Leben jenseits der Festanstellung" abgelehnt. So stilisieren sich beispielsweise die Autoren Sascha Lobo und Holm Friebe selbst als eine Art "digitale Boheme". Aus der traditionellen Boheme übernehmen sie die Ansprüche der Selbstbestimmung, die informelle Gruppenstruktur, die Spontanität und den alternativen Lebensstil. Sie kombinieren diesen mit der nicht-hierarchischen, netzwerkartigen und verlinkten Internetkultur. Die digitale Wirtschaft wiederum mache es leichter, mit eigenen Ideen selbstständig zu arbeiten. Sie verorten sich dabei gesellschaftspolitisch jenseits von Neokonservatismus, "linkem Spießertum in den Gewerkschaften" und traditioneller Alternativkultur. Allerdings sind zwischen dem Diskurs der "digitalen Boheme" und eher nicht gesellschaftskritischen Konzepten der "New Work" wie in der Startup- oder der IT-Szene fließend.

Mit dem Verweis auf Open Source-Konzepte wie Linux und Wikipedia wird im Diskurs der "Digitalisierung von unten" von vielen Vertreter/innen die Idee der Commons, bzw. Gemeingüter, propagiert. Dabei greift der Diskurs die ältere Kritik an der Einhegung von Commons und der Kommerzialisierung von Allmende-Ressourcen auf. Das zentrale Argument mit Blick auf die digitale Ökonomie ist die "Null-Grenzkosten-These", wie sie besonders prominent Jeremy Rifkin vertritt. Da digitale Güter zwar Produktionskosten verursachen, aber jede weitere Kopie nicht mehr, führe dies zu einem neuen ökonomischen Paradigma. Tendenziell würden nicht nur klassische digitale Güter wie Medien dieser Null-Grenzkosten-Entwicklung unterliegen, sondern sie würde sich auch auf andere Bereiche wie die Produktion (durch lokalen 3D-Druck), die Bildung oder die (solare) Energiewirtschaft erstrecken und die Möglichkeit einer "Überfluss-Ökonomie" schaffen.

Rifkin sieht in den "neuen Commoners" eine wichtige Sozialfigur: "Sie stehen für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der wahrscheinlich nicht weniger bedeutend und dauerhaft sein wird als der, der die Gesellschaft zu Beginn der kapitalistischen Ära aus einer theologischen in eine ideologische Weltsicht katapultiert hat."(38) Rifkin prognostiziert die "Herausbildung eines Wirtschaftshybriden aus kapitalistischen Markt und kollaborativen Commons".(39) Da sich die Vorteile der Commons-Produktion aber nicht in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz erschließen ließen, spitze sich der Konflikt (u.a. über Finanzierungsmodelle und die Kontrolle von Kommunikations- und Energienetzen) zu. Rifkin betrachtet das Ringen zwischen Kollaboratisten und investierenden Kapitalisten als die "ökonomische Entscheidungsschlacht des 21. Jahrhunderts".(40)

Ähnlich, allerdings aus marxistischer Perspektive, argumentiert Paul Mason. Der Kapitalismus sei im Zuge der Digitalisierung an das Ende seiner Wachstumsfähigkeit geraten: "Erstens hat die Informationstechnologie den erforderlichen Arbeitsaufwand verringert, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischt und die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen gelockert. Zweitens berauben die Informationsgüter den Markt seiner Fähigkeit, die Preise richtig festzulegen. (...) Drittens entwickelt sich spontan eine kollaborative Allmendeproduktion (Peer-Produktion): Es tauchen immer mehr Güter, Dienstleistungen und Organisationen auf, die dem Diktat des Markts und der Managementhierarchie nicht mehr gehorchen. (...) Fast unbemerkt beginnen in den Nischen und Hohlräumen des Marktsystems Teile des Wirtschaftslebens anderen Gesetzen zu gehorchen."(41) Die Informationstechnologie habe die Marktkräfte ihrer Fähigkeit beraubt, die wirtschaftliche Dynamik anzuregen. Stattdessen schaffe sie die Bedingungen für eine postkapitalistische Wirtschaft: "Eine auf Wissen beruhende Volkswirtschaft kann aufgrund ihrer Tendenz zu kostenlosen Produkten und schwachen Eigentumsrechten keine kapitalistische Volkswirtschaft mehr sein."(42) Masons Plädoyer für "revolutionären Reformismus"(43) mündet in ein neues "Projekt Null", dessen Ziele eine Energieversorgung mit Null-Emissionen, die Erzeugung von Maschinen, Produkten und Dienstleistungen mit Null-Grenzkosten und die weitgehende Beseitigung der Arbeit seien.(44) Zentral ist dabei auch die Forderung nach einem Grundeinkommen für alle, dass die Trennung von Arbeit und Einkommen institutionalisieren und den Übergang zu einem kürzeren Arbeitstag subventionieren solle.(45)

Die Digitalisierungsdiskurse haben eine Verbindung zu der vor allem im postoperaistischen Umfeld formulierten Analyse eines "kognitiven Kapitalismus". Während in der traditionellen Ökonomie Wert durch den Verbrauch von Produktionsfaktoren geschaffen wurde, würden in der Wissensökonomie Werte geschaffen, die das Ergebnis kognitiver Prozesse sind. Der kognitive Kapitalismus wird definiert als "Paradigma des Wirtschaftens innerhalb dessen die Horizonte des potenziellen Wachstums, die Möglichkeiten, ökonomischen Wert zu generieren, immer mehr von der Fähigkeit der Arbeitenden abhängen, ihr 'subjektives Engagement' einzubringen, sich beständig neu zu orientieren, zu lernen, Erfahrung in Form von reflektierten kommunikativen Akten zum Ausdruck zu bringen; kurz ein nicht vorhersehbares Geschehen zu lenken."(46)

Debatten im Querschnitt: Demokratie und Klassenfrage

Teilweise überlappend zu den von uns ausgemachten ökonomischen Debattensträngen stehen Diskussionen über Demokratie sowie über die Relevanz der Klassenfrage. Beide Debattenstränge sind für die politische Einordnung und weitere Verarbeitung der ökonomischen Diskurse - mit dem Ziel eines zukunftsfähigen Leitbilds - allerdings von Relevanz.

Demokratische Beteiligung und ökonomische Transformation

Die Unzufriedenheit mit "dem System" wirft auch die Frage der Zukunft unserer Demokratie auf. Wachsende Bedeutung hat der Diskurs der "Bürgerdemokratie", der jedoch weniger eine Kapitalismus- als eine Staats- und Elitenkritik formuliert. Sein zentrales Anliegen ist die Stärkung der politischen Einflussnahme der Bürger/innen gegenüber dem Staat, wie von Roland Roth zum Ausdruck gebracht: "Wenn in diesem Buch von Bürgermacht die Rede ist, geht es um veränderte Machtbalance zwischen Bürgerinnen und Bürgern auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen, die zu einer Verbesserung der Qualität des politischen Gemeinwesens beitragen."(47) Während der Diskurs in früheren Jahrzehnten eine Dominanz linksliberaler und alternativer Milieus bzw. der Neuen Sozialen Bewegungen war, ist er inzwischen, sowie auch seine Protestformen und Forderungen (wie nach mehr direkter plebiszitärer Demokratie), auch in bürgerlich-konservativen sowie rechtspopulistischen Kreisen präsent. Gemeinsam ist diesen Diskursen der Topos der "Transparenz", dem ein Misstrauen gegenüber wirtschaftlichen und staatlichen Akteuren und Prozessen zugrunde liegt. Gefordert wird ein Mehr an Offenlegung und Kontrolle.

John Keane hat für diese Haltung den Begriff der "monitory democracy" geprägt.(48) Die repräsentative Demokratie wird als unzureichend angesehen und müsse durch mehr direkte Bürgerbeteiligung und eine plebiszitäre Demokratie ergänzt werden. Neben den Neuen Sozialen Bewegungen ist beispielsweise die Hackerkultur eine weitere Quelle dieses Diskurses, auch weil das Internet neue Möglichkeiten der direkten Beteiligung bietet. Im Zuge der zwischenzeitlichen Popularität der "Piratenpartei" wurde das Konzept der "liquid democracy" propagiert. Eine aktuelle parteipolitische Neugründung namens "Demokratie in Bewegung" will die Parteiendemokratie nicht überwinden, aber das Prinzip der Partei erneuern: "Aber wir müssen auch Mitbestimmung neu denken. DEMOKRATIE IN BEWEGUNG ist Demokratie zum Mitmachen: ein runderneuertes System von Mitbestimmung und Transparenz in der Politik".(49) Trotz der sehr expliziten Verwendung des Begriffs "Mitbestimmung" fehlt der Bezug auf die Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen jedoch, was kennzeichnend für die linksliberalen Demokratie-Diskurse ist.

Die demokratische Frage steht in Verbindung mit der Suche nach Subjekten, Instrumenten und Prozessen einer neuen sozialökologischen Transformation. Dieser Begriff hat sich in jüngster Zeit als Alternativbegriff zur "Reform" (und in gewisser Weise auch "Revolution") etabliert. Der sicherlich zutreffende Kerngedanke ist, das punktuelle Reformen nicht ausreichen, sondern Institutionen und Denkweisen "transformiert" werden müssen. "Es geht um einen prinzipiell neuen Entwicklungspfad, der im Kern durch einen sozial-ökologischen Umbau der Industriegesellschaften und einen entsprechenden Umbau der Sozialsysteme und einen Wandel der kulturellen Deutungsmuster und Lebensweise gekennzeichnet ist."(50) Erik Olin Wright entwickelt in seinem sehr ausführlichen Gesamtüberblick eine Transformationstypologie und unterscheidet drei Typen: Transformation durch Bruch, durch Freiräume und die symbiotische Transformation, wobei letztere im Wesentlichen eine Fortsetzung des sozialdemokratischen Klassenkompromisses meint.(51) Im deutschen ökologisch-linksliberalen Diskurs wiederum dominiert vor allem die "Transformation von unten",(52) wie sie von Autoren wie Claus Leggewie oder Harald Welzer propagiert wird. Diese entspricht der Wright'schen Einteilung folgend vor allem der "Transformation durch Freiräume" im Sinne bewusst entwickelter "Formen gesellschaftlicher Organisierung, die von den herrschenden Macht- und Ungleichheitsstrukturen abweichen". Zwar nicht völlig blind für die soziale Frage oder die Rolle des Staates zielen derartige alternativelitär-avantgardistische Beiträge doch darauf ab, dass das sozial und ökologisch bewusste Bürgertum neue Formen des Wirtschaftens und Konsumierens etabliert, in der Hoffnung, dass diese Formen hegemonial würde. In Verbindung zum Postwachstumsdiskurs steht die Kritik an einer "zukunftsvergessenen und innovationsbesessenen Kultur des unbegrenzten Wachsens und Konsumierens".(53)

(K)eine Klassenfrage?

Eine nicht erst in Reaktion auf Trump und den Brexit auch international diskutierte Frage lautet: Wie hältst du es mit der Klassenfrage? Richard Rorty thematisierte schon Ende 1990er Jahre den Bedeutungsverlust der reformistischen und den Aufstieg einer akademischen und kulturellen Linken, die sich auf eine Politik "der Differenz" oder "der Identität" spezialisiert, dabei durchaus Erfolge erzielt, aber zugleich soziale Verteilungsaspekte im eigenen Land aus dem Blick verloren habe. Er sorgte sich schon damals, dass die Globalisierungskritik vor allem von rechts komme und fürchtete angesichts einer "Proletarisierung des Bürgertums" eine "populistische Revolte von unten".(54)

Die "große Regression" hat nun in der Linken einen noch etwas zaghaften und vor allem intellektuell geführten Selbstreflexionsprozess ausgelöst. Im Mittelpunkt steht die Diagnose, dass zum einen akademische und kulturlinke postmoderne Diskurse, zum anderen aber auch die Sozialdemokratie der "Neuen Mitte" oder grüne Parteien der Besserverdienenden den Anschluss an die Arbeiterklasse (im weiteren Sinn unter Einbeziehung des neuen Dienstleistungsproletariats) verloren hätten.

Die Entfremdung zwischen einer sich in abstrakten Kategorien mit großem Distinktionsbedürfnis ausgestatten Linken und den "einfachen Menschen" ist Thema verschiedener teils autobiografischer Texte. Didier Eribon stellt in seinen Erinnerungen "Rückkehr nach Reims"(55) die These auf, die (auch kommunistische) Linke habe sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr auf Minderheitenrechte konzentriert, und darüber die "alte" Arbeiterfrage nicht mehr in den Blick genommen. Folge sei eine große Entfremdung zwischen den früher links wählenden sozialen Schichten und den kosmopolitischen linken Parteien, die in eine vermehrte Wahl des Front National münde. Ihre Bedürfnisse nach (sozialer) Sicherheit und (persönlichem) Respekt würden von linken Parteien nicht mehr bedient. Owen Jones thematisiert ausgehend von einer Kritik des Thatcherismus aber auch der Politik von New Labour den "Klassenhass" in der britischen Gesellschaft und in den Massenmedien.(56)

In diesem Spannungsfeld stellt sich die Frage des politischen Subjektes, der Bedeutung von klassischer Erwerbsarbeit und der Rolle der Arbeiterbewegung. In Deutschland existieren noch vergleichsweise starke Gewerkschaften, zumindest in den Kernbranchen. Vielen Linken scheint dies jedoch zu altbacken zu sein: Sie setzen auf eine "Multitude",(57) die sich u.a. aus prekär Beschäftigten im Dienstleistungsbereich, aus illegalisierten Migrant/innen, sowie aus teils prekär beschäftigten Wissensarbeiter/innen auf wundersame Weise zu einem neuen revolutionären Subjekt zusammenfinden sollen. Auch für Paul Mason sollen die Träger der neuen postkapitalistischen Bewegung die "vernetzen Individuen" sein, "diejenigen, die in den Stadtzentren Protestlager errichten, die Fracking-Anlagen blockieren, Punkrock-Konzerte auf den Dächern russischer Kathedralen veranstalten, im Gezi-Park mit Bier anstoßen, um den Islamismus herauszufordern, eine Million Menschen auf die Straßen Rios und Sao Paulos bringen und Massenstreiks in den Industriebezirken Südchinas organisiert. Sie sind die 'aufgehobene' Arbeiterklasse, die verbesserte Version, welche die alte ersetzt."(58)

Gerade mit dem auch in anderen Ansätzen hergestellten Bezug auf Wissensarbeiter/innen treten ein anti-institutioneller Reflex und ein Bedürfnis nach einem "Anderssein" zutage, das Boltanski und Chiapello mit dem Konflikt zwischen Künstler- und Sozialkritik am Kapitalismus beschrieben haben.(59) Im Laufe der kapitalistischen Entwicklung sei es immer wieder gelungen, Wünsche einzelner nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung in der Arbeit aufzunehmen und kapitalistisch in Wert zu setzen. Die "Künstlerkritik" am Kapitalismus führe zu einer Expansion kreativer Tätigkeiten und Geschäftsfelder im Kapitalismus, nicht aber zu dessen Überwindung. In der Folge wurden immer wieder ursprünglich widerborstige Ansprüche in den Kapitalismus integriert. Aus der Perspektive der Künstlerkritik erscheinen Teile des aktuellen Kapitalismus mit seinem (vermeintlichen) Aufbrechen starrer Arbeitsstrukturen und von Hierarchien so für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit als durchaus akzeptabel.

Nancy Fraser spricht in Reaktion auf diese Entwicklung von einem "progressiven Neoliberalismus",(60) dessen US-amerikanische Form auf einem "Bündnis 'neuer sozialer Bewegungen' (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, 'symbolischer' und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie)" beruhe. "Wenn auch unbeabsichtigt leihen sie Letzteren dabei ihren Charme und ihr Charisma. Seither bemänteln - prinzipiell für sehr unterschiedliche Ziele einsetzbare - Ideale wie Diversität und Empowerment neoliberale Politiken, die zu einer Verheerung der alten Industrien mitsamt den Mittelklasse-Lebenswelten der in ihnen Beschäftigten geführt hat."(61) Ein umfassendes linkes Narrativ, dass Wähler/innen mit einer Fundamentalkritik der finanzmarktgetriebenen Wirtschaft einerseits und einem antirassistischen, antisexistischen und antihierarchischen Emanzipationsverständnis hätten verschmelzen können, sei so nicht möglich gewesen: "So blieben die beiden unverzichtbaren Pole einer lebensfähigen Linken meilenweit voneinander entfernt und warteten nur darauf, einander als Antithesen gegenüber gestellt zu werden."(62)

Entstanden ist so letztlich eine kulturelle Heimatlosigkeit der Arbeiter sowohl im Verhältnis zu einer Sozialdemokratie der "Neuen Mitte" als auch zu einer akademisch geprägten Linken, deren politische Diskurse mit den Lebensrealitäten, kulturellen Prägungen und Alltagspraktiken der breiten Masse von Arbeiterinnen und Arbeitern wenig zu tun haben - und zum Teil auch in offene Missachtung umschlagen.

Was folgt aus alledem?

Die oben knapp aufgeworfenen Schlaglichter machen die große Pluralisierung von ökonomischen Diskursen links der Mitte deutlich. Für sich genommen erscheint keiner der Diskurse mehrheitsfähig; stattdessen kommt es zu einem massiven Auseinanderdriften der Diskursstränge und der möglichen Allianzperspektiven. So lässt sich beispielsweise das Ziel von "Diversity" in der Belegschaft auch ohne eine Problematisierung grundsätzlicher kapitalistischer Ausbeutungsstrukturen verhandeln. Von Seiten der neuen Kosmopoliten werden sozialstaatliche Absicherungssysteme teilweise impliziert delegitimiert, etwa wenn das "Normalarbeitsverhältnis" als Privileg des weißen heterosexuellen männlichen Arbeiters denunziert wird, - und weniger die Forderung nach einem modernisierten "Normalarbeitsverhältnis für alle", sondern die Wegnahme dieser vermeintlichen "Privilegien" verlangt wird.

Umgekehrt führt dies in mancher Lesart aus dem Umfeld der Sozialdemokratie auch zu einer Schlussfolgerung, die arbeitenden Menschen unterstellt, mit kultureller Differenz irgendwie nicht umgehen zu können, und für deren politische Ansprache dann angeblich chauvinistische Töne geeignet sein sollen. Lösungsangebote im Bereich der sozialen Frage werden so durch einen Wechsel des Spielfelds hin zu vermeintlich kulturellen Einstellungsmustern beantwortet. Auf Ebene der politischen Handlungsvorschläge äußert sich das meist in Ideen, die politische Linke müsse "die nationale Frage" stärker besetzen, dürfe nicht so "politisch korrekt auftreten", und solle sich überhaupt weniger mit Minderheitenrechten beschäftigen. Völlig ignoriert wird hier die Tatsache, dass die politischen Niederlagen gerade der Sozialdemokratie in Europa in den vergangenen Jahren wohl doch eher Folge ihrer Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten bzw. ihrer "Neuen-Mitte-Diskurse" waren. Wenn die Sozialdemokratie des "dritten Wegs" Erfolge vorweisen kann, dann in erster Linie im Bereich der gesellschaftlichen Modernisierung. Letztlich fatal wirkte sich aus, dass diese gesellschaftliche Modernisierung zugleich mit einer Delegitimierung kollektiver Absicherungswünsche und -systeme begleitet wurde.

Es kann also nicht um ein "gegeneinander Ausspielen" von verschiedenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsformen gehen. Offensichtlich ist lediglich, dass ohne einen ernsthaften Fokus auf die sozialen und arbeitspolitischen Anliegen von arbeitenden Menschen keine progressive Verbindung zu den Problemen diskriminierter Gruppen entstehen kann. Politisch muss die Sozialdemokratie daher einen Spagat zwischen ihrer Rolle als "Schutzmacht der kleinen Leute" bzw. einem eher paternalistisch-etatistischen Ansatz und einer viel stärker von Künstlerkritik am Kapitalismus getragenen Lebensstil-, Institutionen und Demokratiekritik vor allem in den linksliberalen Mittelschichten versuchen.

Dabei wird es unter anderem darauf ankommen, die mit der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen verbundene Vorstellung nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung in einer Diskussion um die Gestaltung einer solidarischen Arbeitsgesellschaft aufgehen zu lassen, ohne dabei auf vereinfachende Analysen einer "Abstiegsgesellschaft" zu setzen. Die verbindende Klammer zwischen den Ansprüchen "alter" Arbeitnehmer/innenmilieus und neuer kreativer Schichten kann nur in einer solidarischen Neugestaltung der Erwerbsarbeitsgesellschaft bestehen. Auf der Policy-Ebene gibt es hier durchaus Ideen, die allerdings noch nicht Element einer neuen sozialstaatlichen "Erzählung" der Sozialdemokratie sind.

Nötig wäre es zudem, die skizzierten Spannungsfelder der ökonomischen Diskussion stärker in gemeinsamen Debatte zusammenzuführen. Dies gilt für die Bewertung der "Finanzialisierung" ebenso wie für das aktuelle "Modethema" der Digitalisierung, an dem besonders offenbar wird, wie unterschiedlich dieser mögliche Produktivkraftsprung bewertet und dementsprechend auch sehr kontroverse Schlussfolgerungen gezogen werden.

Mit Bezug auf die ökologischen Herausforderungen besteht eine weitere Spannung, die für die Debatten der Sozialdemokratie keineswegs neu ist: Wie weit kann der gesellschaftliche und ökonomische Veränderungsanspruch eigentlich innerhalb einer kapitalistisch verfassten Ökonomie reichen? Wie kann eine Akteurskonstellation der "Transformation" aussehen, die eben nicht allein von einer Avantgarde des ökologisch-kosmopolitischen Kreativ-Bürgertums angeführt wird, der Arbeitsplätze in Energiewirtschaft und Industrie nicht gerade ein Herzensanliegen sind?

Nötig ist die Arbeit an einem linken "Fortschrittsnarrativ", das im Bereich der ökonomischen Analyse die Perspektive eröffnet, den möglichen Produktivkraftsprung der Digitalisierung zu einem neuen "sozial-ökologischen Transformationsprojekt" zu nutzen. Wichtig ist, dass es im Bereich der Akteure gelingt, die Ansprüche der "alten" Arbeiter/innenmilieus nach Aufstieg, Sicherheit und Respekt zu verbinden mit der Perspektive einer diversen und diskriminierungsfreien Gesellschaft und dem grundsätzlichen Anspruch nach Individualität und Autonomie in einer solidarischen Arbeitsgesellschaft.

Eine solche verbindende Debattenführung ist anspruchsvoll, die möglichen Akteure und gemeinsamen Debattenorte bislang auch nur in Ansätzen erkennbar. Es wird auch auf die spw und die anderen linken politischen Zeitschriften ankommen, hier Impulse zu setzen.


Anmerkungen

(1) Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen. Benjamin Mikfeld ist Sozialwissenschaftler und Mitherausgeber der spw.

(2) Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression, Berlin 2017.

(3) Wehler, Hans-Ulrich (2013): Die neue Umverteilung, München.

(4) Fratzscher, Marcel (2016): Verteilungskampf, München, S. 20.

(5) Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert, München.

(6) Atkinson, Anthony B. (2016): Ungleichheit, Stuttgart; Milanovic, Branko (2016): Die ungleiche Welt, Berlin.

(7) u.a. Reich, Robert (2016): Rettet den Kapitalismus!, Frankfurt/New York; Stiglitz, Joseph E. (2015): Reich und Arm, München.

(8) Friedrich-Ebert-Stiftung / Thementeam "Soziales Wachstum" (2011): Soziales Wachstum. Leitbild einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik, WISO-Diskurs, Bonn.

(9) Dullien, Sebastian/Herr, Hansjörg/Kellermann, Christian (2009): Der gute Kapitalismus ... und was sich nach der Krise ändern müsste, Bielefeld.

(10) Mazzucato, Mariana (2014): Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, München, S. 249.

(11) ebd., S. 48.

(12) Mau, Steffen (2015): Die halbierte Meritokratie, in: ders./Schöneck (Hrsg.): (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten, Berlin, S. 43.

(13) Neckel, Sighard (2016): Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, in: Bude/Staab (Hrsg.): Kapitalismus und Ungleichheit, Frankfurt/New York; S. 170.

(14) Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft, Berlin.

(15) Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst, Hamburg, S. 72.

(16) ebd., S. 73.

(17) ebd., S. 119.

(18) Han, Byung-Chul (2014): "Sehnsucht nach dem Feind", Süddeutsche Zeitung v. 17.12.2014.

(19) Windolf, Paul (2005 Hrsg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Sonderheft 45/2005 der KZfSS, Wiesbaden.

(20) Christoph Deutschmann, Finanzialisierung als Mehrebenenproblem: Chancen und Probleme einer soziologischen Erklärung, in: Michael Faust/Jürgen Kädtler/Harald Wolf (Hg.), Finanzmarktkapitalismus?, Frankfurt/ Main 2017, S. 101ff, S. 117.

(21) Michael/Kädtler, Jürgen, Wolf, Harald (2017): Finanzmarktkapitalismus? Problemaufriss und Einführung, in (dies./Hrsg.): Finanzmarktkapitalismus?, Frankfurt/New York., S. 12ff.

(22) Wallerstein, Immanuel (2014): Die strukturelle Krise oder Warum der Kapitalismus sich nicht mehr rentieren könnte, in: ders./ u.a.: Stirbt der Kapitalismus?, Frankfurt/New York, S. 46f.

(23) Fücks, Ralf (2013): Intelligent wachsen, München, S. 33.

(24) ebd., S. 140

(25) Ulrich Brand/Markus Wissen, Imperiale Lebensweise, München 2017.

(26) Ebenda, S. 18.

(27) Ebenda, S. 43.

(28) Ebenda, S. 164.

(29) Rodrik, Dani (2011): Das Globalisierungs-Paradox, München, S. 86

(30) ebd., S. 94

(31) Stiglitz, Joseph E./Greenwald, Bruce C. (2014): Die innovative Gesellschaft, München, S. 323.

(32) Bieling, Hans-Jürgen (2014): Politische Ökonomie des Welthandels - Transformationsprozesse und Machtbeziehungen, in: Apuz 1-3 2014, S. 40-46. S. 43.

(33) u.a. Klein, Naomi (2014): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima, Frankfurt/Main.

(34) Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Berlin 2015, 292f.

(35) Morozov, Evgeny (2013): Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen, München, S. 11

(36) Staab, Philipp (2016): Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus, Hamburg, S. 11

(37) Dörre, Klaus (2015): Digitalisierung- neue Prosperität oder Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungen?, in: Hirsch-Kreinsen/Ittermann/Niehaus, (Hrsg.): Digitalisierung industrieller Arbeit. Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen, Baden-Baden, S. 278

(38) Ebd., S. 254.

(39) Ebd, S. 9.

(40) Ebd., S. 254.

(41) Paul Mason, Postkapitalismus, Berlin 2016, S. 16.

(42) Ebenda, S. 234

(43) Ebenda, S. 336

(44) Ebenda S. 340

(45) Ebenda, S. 362.

(46) Isabell Lorey/Klaus Neundlinger (2012): Kognitiver Kapitalismus, in dies. (Hrsg): Kognitiver Kapitalismus, Wien, S. 11.

(47) Roth, Roland (2011): Bürgermacht, Hamburg, S. 251.

(48) Keane, John (2009): The Life and Death of Democracy, London.

(49) https://bewegung.jetzt/programm/.

(50) Rolf Reißig (2009): Gesellschaftstransformation im 21. Jahrhundert, Wiesbaden, S. 19.

(51) Wright, Erik Olin (2017): Reale Utopien, Berlin.

(52) Leggewie, Claus (2011): Mut statt Wut, Hamburg, S. 118

(53) Bernd Sommer/Harald Welzer (2014): Transformationsdesign, S. 10

(54) Richard Rorty (1999): Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patritotismus, S. 81

(55) Didier Eribon (2016): Rückkehr nach Reims, Berlin

(56) Owen Jones (2012): Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse

(57) Michael Hardt/Antonio Negri (2004): Multitude, Frankfurt/New York

(58) Mason, S. 279

(59) Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz.

(60) Nancy Fraser, Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus, in: Geisselberger, a.a.O., S. 77ff., S. 78.

(61) Ebenda, S. 78f.

(62) Ebenda, S. 83f.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2017, Heft 220, Seite 28-38
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2017

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