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ENTWICKLUNGSHILFE/402: Was können Hilfsorganisationen in Afghanistan erreichen? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 04/2010

Unheilige Allianzen vermeiden
Was können Hilfsorganisationen in Afghanistan erreichen?

Von Oliver Müller


Aus Afghanistan gibt es weiterhin kaum positive Nachrichten. Die Sicherheitslage hat sich verschlechtert, die lokalen Politiker genießen wenig Vertrauen und das internationale Engagement geht in seine entscheidende Phase. Gleichzeitig benötigt das bitterarme Land dringend humanitäre Hilfe. Hilfsorganisationen wie Caritas international können allerdings nur arbeiten, wenn sie sich strikt unabhängig und bedarfsorientiert verhalten.


Seit 2001 versucht die westliche Welt, in Afghanistan den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Seit 2002 wird begleitend der Wiederaufbau des nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg weitgehend zerstörten Landes vorangetrieben. In Bezug auf den zivilen Aufbau Afghanistans galt bislang für die westlichen Regierungen und Militärs die von Nato-Sprecher Richard Nugee ausgegebene Maxime: "Wir müssen den Afghanen zeigen, dass es ihnen ohne die Taliban auch wirklich besser geht."

Solange wie die Intervention in Afghanistan inzwischen dauert, solange wird über Ziele, Strategien und Ergebnisse des Einsatzes diskutiert. Diese Debatte verlief immer kontrovers. Dabei waren die Rollen bislang klar verteilt: Während offizielle Stimmen aus Regierung, Diplomatie und Militär vor allem die politischen und humanitären Fortschritte herauszustellen versuchten, waren es die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen, die, aus der Perspektive der betroffenen Bevölkerung, kritische Zwischentöne in die Debatte einbrachten und auf Defizite in der Entwicklung hinwiesen (vgl. dazu auch die Stellungnahmen des Dachverbandes der deutschen Entwicklungshilfeorganisationen VENRO). Diese klaren Diskussionslinien scheinen sich derzeit aufzulösen.

Wer die Debatte der vergangenen Wochen und Monate Revue passieren lässt, stellt fest: Es hat sich etwas verändert im Reden über Afghanistan. Erstmals wird offen, weitgehend ohne Rücksicht auf Zugehörigkeit zum jeweiligen Lager, diskutiert. Es herrscht ein neuer Ton, wenn der scheidende UN-Sondergesandte für Afghanistan, Kai Eide, der eher für seine diplomatische Zurückhaltung bekannt ist, feststellt: "Wir müssen zugeben, dass wir alle hätten mehr erreichen müssen und können." Noch ungewöhnlicher ist es, wenn der stellvertretende Leiter des Einsatzführungsstabes des Bundesverteidigungsministeriums, Ralf Schnurr, in wünschenswerter Klarheit bemerkt: "Nach acht Jahren deutschen Engagements in Afghanistan stellen wir fest, dass wir unsere Ziele nicht erreicht haben." Damit kommt eine neue Offenheit in die Diskussion, die das Ringen um den richtigen Weg für Afghanistan hoffentlich erleichtert.

Zu diesem Wandel in der Beurteilung der Lage haben nicht zuletzt viele Enttäuschungen beigetragen. Zu nennen sind aus jüngster Zeit die vielen Rückschläge des ISAF-Einsatzes, der verheerende Tanklaster-Angriff der Bundeswehr und das Desaster der afghanischen Präsidentschaftswahlen von 2009. Nicht zuletzt die Wahl, die die Legitimation der vom Westen unterstützten Machthaber nachhaltig erschütterte, warf ein grelles Licht auf den desaströsen Zustand der afghanischen Macht- und Regierungsstruktur. All dies führte dazu, dass heute mit so viel Ernüchterung und Realitätssinn wie noch nie über das Land diskutiert wird. Zu offensichtlich sind die Mängel und Defizite in Afghanistan, als dass ein einfaches "Weiter so" in der Öffentlichkeit noch verfangen würde.


Zu den Realitäten gehört, dass Afghanistan - trotz massiven Militäreinsatzes - nach wie vor kein stabiles Land ist. Die Sicherheitslage hat sich vielmehr, obwohl mittlerweile rund 100000 Soldaten aus über 40 Nationen im Einsatz sind, in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert. Wie prekär die Sicherheitssituation ist, zeigen Berichte von Hilfsorganisationen aus Masar-i-Scharif, wo Patienten aus Angst vor Übergriffen ihre Kliniken nicht mehr aufsuchen. Statistiken bestätigen den Eindruck, dass das Land desto unsicherer wurde, je mehr Soldaten zum Einsatz kamen. So ist im Jahr 2009 die Zahl der Angriffe der bewaffneten Opposition von 387 im Januar auf 1092 im August gestiegen. Zugleich bleibt die Zahl ziviler Opfer kontinuierlich hoch, derzeit liegt diese bei über 2000 pro Jahr. Eine Zahl, die einen britischen Befehlshaber besorgt darauf hinweisen ließ, dass "jeder tote Zivilist 100 neue Feinde bedeutet".


Wichtiger aber noch für die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes scheint die Tatsache, dass das Land am Hindukusch nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt ist. Trotz großer Summen von Hilfsgeldern verharrt Afghanistan auf dem Entwicklungsindex HDI (Human Development Index) der Vereinten Nationen seit Jahren auf dem vorletzten Platz. Die Details sind niederschmetternd: Die Lebenserwartung der Afghanen liegt bei 43 Jahren, zwei Drittel der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze und müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. 50 Prozent sind chronisch unterernährt. Kein Land mit derart alarmierenden Sozialindikatoren kann ein politisch stabiles Gemeinwesen aufbauen.

Der in den ersten Jahren vor allem vom Militär propagierte "Ruckzuck-Aufbau" ("Quick Impact"), der darauf ausgelegt war, schnelle Ergebnisse vorzeigen zu können, aber ohne Evaluierungen betrieben wurde, ist im Großen und Ganzen gescheitert. Punktuelle Fortschritte gibt es in einigen Regionen etwa im Gesundheits- und Bildungsbereich sowie der Infrastruktur, aber von einem großen Durchbruch ist das Land weit entfernt. Ein zentraler Grund dafür liegt unter anderem in dem Ungleichgewicht der Ausgaben für zivile und militärische Aufgaben, das für Deutschland bei 1:4 liegt und im internationalen Maßstab sogar noch deutlich stärker zuungunsten des Zivilen ausfällt.


Kein Anhängsel der ISAF-Truppen

Angesichts der Verschlechterung der Sicherheitslage und der unbefriedigenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes stellt sich auch für Hilfsorganisationen wie Caritas international, dem Hilfswerk der deutschen Caritas, immer wieder aufs Neue die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Arbeiten in Afghanistan noch möglich, sinnvoll und verantwortbar ist. Vor allem die Frage nach der Sicherheit der Mitarbeiter steht dabei im Mittelpunkt. Schließlich gab es in Afghanistan allein im Jahr 2009 nicht weniger als 172 Übergriffe auf Hilfsorganisationen, darunter die spektakuläre Attacke auf das UN-Gästehaus Ende Oktober 2009.

16 Menschen kamen bei diesen Angriffen insgesamt ums Leben. Angesichts dieser bedrückenden Zahlen wird auch immer wieder die Frage gestellt, ob denn die Projektarbeit ohne militärischen Schutz möglich ist. Es ist eine verständliche Frage, sie führt aber in die Irre. Denn schon die Grundannahme, dass Soldaten Entwicklungshelfer und deren Arbeit schützen könnten, ist falsch. Ebenso unzutreffend ist auch die Behauptung, dass ohne militärischen Schutz ein Arbeiten der zivilen Hilfsorganisationen (NGO) nicht möglich sei. Viele Projekte deutscher NGO zeigen, dass es auch in Afghanistan noch "humanitäre Räume" gibt, die ein Arbeiten für Hilfsorganisationen zulassen. Das zeigen die Hilfsprojekte von Caritas international im Hazarajat, genauer in der Provinz Daikundi, wo es bislang keine regulären ISAF-Truppen gibt.

Aber auch in Herat gibt es Hilfsorganisationen wie die Grünhelme, die dort beispielsweise Schulen bauen, ohne dass sie jemals mit ISAF-Soldaten in Kontakt gekommen wären. Vielmehr ist es sogar so, dass wichtige deutsche Hilfsorganisationen sich in der Vergangenheit nach tödlichen Zwischenfällen aus Einsatzgebieten der Bundeswehr zurückgezogen haben, um ihre Unabhängigkeit zu betonen und nicht in den Ruf zu geraten, Anhängsel der ISAF-Truppen zu sein.


Welche Folgen der Verlust von Unabhängigkeit für Hilfsorganisationen haben kann, zeigte sich im Winter 2006/2007 in den Provinzen Helmand und Kandahar. Dort starben laut Medienberichten Hunderte von Menschen, weil sie wegen der angespannten Sicherheitslage nicht mit Lebensmitteln versorgt werden konnten. Hilfsorganisationen wurde der Zugang zu Notstandsgebieten verwehrt, weil die islamistischen Taliban-Milizen sie als Teil der westlichen Truppen betrachteten. Dieses Beispiel zeigt: Militärischer Schutz ist keine Antwort auf allgemeine Sicherheitsprobleme.

Keine der zehn in Afghanistan tätigen VENRO-Organisationen arbeitet deshalb mit dem Militär zusammen oder unter dem Schutz des Militärs. Dies würde im Übrigen auch der Genfer Rot-Kreuz-Konvention widersprechen und der ohnehin festzustellenden zunehmenden Verwischung der Grenzen zwischen zivil-humanitärer Hilfe und militärischen Operationen nur weiter Vorschub leisten. Ein genauer Blick auf die Fakten zeigt sogar, dass nur die Distanz zum Militär Mitarbeitern von Hilfsorganisationen das Überleben sichert.

So ergab eine Sicherheitsanalyse jüngst, dass 18 von 42 Angriffen in Kabul im Umfeld des ISAF-Camps stattfanden. Das Meiden dieser militärischen Zonen verringert das Risiko für die eigenen Mitarbeiter also signifikant, ohne dass die Qualität der eigenen Projekte leiden würde. Die Sicherheitsanalyse zeigte auch, dass es im Januar 2010 in Afghanistan insgesamt elf Angriffe auf Hilfsorganisationen gab. Allein sieben dieser Angriffe trafen jedoch eine bestimmte Hilfsorganisation, die sich bewaffneter Wächter bedient und unter dem Schutz des Militärs arbeitend mit Geldern der US-Regierung große Infrastrukturprojekte umsetzt.


Diese und andere Beispiele bestärken Caritas international in der Ansicht, dass zum einen die Distanz gegenüber dem Militär für das Arbeiten von Hilfsorganisationen unabdingbar ist und zum anderen ein Rüstungswettlauf mit den Taliban keinen Sinn macht. Tatsächlich wäre es für die Taliban und andere terroristische Gruppen ein Leichtes, Caritas so zu treffen, dass ihr ein Arbeiten im Land unmöglich wäre. Hilfsorganisationen sind ein klassisches Beispiel für das, was Experten "Soft target", ein "weiches Ziel" nennen. Jeder in Kabul, der wissen will, wie und wo Caritas international arbeitet, kann dies erfahren.

Für Caritas international folgt daraus: NGOs können nur dann arbeiten, wenn sie sich strikt unabhängig und bedarfsorientiert verhalten und auf diese Weise ihre Bedeutung für die Entwicklung des Landes deutlich wird. Geschützt sind Hilfsorganisationen vor allem durch die Akzeptanz der Hilfsprojekte in der lokalen Bevölkerung. Das Vertrauen der Menschen, denen die Hilfe gilt, ist die wichtigste Lebensversicherung für die Mitarbeiter der Caritas in Afghanistan.


Religion spielt bei der konkreten Arbeit keine Rolle

Keine besondere Gefährdung erwächst aller Erfahrung nach hingegen aus der Tatsache, dass Caritas als katholisches Hilfswerk in muslimischem Umfeld arbeitet. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass die Hilfe unabhängig und streng nach Bedarf geleistet wird. Wir pflegen aber eine ehrliche Kommunikation vor Ort über unsere Werte und die christliche Motivation unserer Arbeit. Als Vertreter einer anerkannten Schriftreligion besitzen wir einen klaren Status. Die Motivation der Hilfe ist für Muslime nachvollziehbar und verständlich, aber Religion spielt bei der konkreten Hilfsleistung keine Rolle und das ist der einheimischen Bevölkerung auch bewusst. Wichtiger ist den Menschen eine Frage, die unseren Mitarbeitern vor Ort immer wieder gestellt wird: "Kommt Ihr mit brennendem Herzen oder weil es euer Job ist?"

Caritas international unterstützt seit den achtziger Jahren Hilfsprojekte in Afghanistan. Von 1996 bis 2001 zu Zeiten der Taliban-Herrschaft ging es vor allem um Schulprojekte in Moscheen, da Bildung aufgrund der einschränkenden Gesetze der Taliban stark vernachlässigt wurde. Nach dem Regimewechsel infolge des 11. September 2001 öffnete Caritas international Anfang 2002 ein eigenes Büro in Kabul, in dem derzeit bis zu drei internationale und zehn afghanische Mitarbeiter tätig sind. Das Büro arbeitet mit internationalen Schwester-Organisationen wie Caritas Holland (Cordaid), Caritas Irland (Trocaire), Caritas USA (CRS) und Caritas Italien eng zusammen. Caritas international ist in Afghanistan schwerpunktmäßig in zwei Projektgebieten tätig, zum einen in der Hauptstadt Kabul und zum anderen im Hazarajat (Zentralafghanistan).

Geografischer Schwerpunkt im Hazarajat ist die Provinz Daikundi im zentralen Hochland, einer der ärmsten Regionen von Afghanistan. Neben dem Wiederaufbau der ländlichen Infrastruktur (Bau von Schulen, Krankenhäusern und Straßen durch die lokale Bevölkerung) kümmern sich die Caritas-Partner um die Trinkwasserversorgung und leisten Dürrehilfe. Alljährlich wird zudem im Winter das Überleben der Bergbevölkerung am Hindukusch durch medizinische Hilfe und Nahrungsmittellieferungen gesichert.

Die Caritas-Projekte im Hazarajat haben für die gesamte Region eine nicht zu unterschätzende konkrete wie auch symbolische Bedeutung. Vorzeigeprojekte wie die in der kleinen Provinzstadt Sanghdat eröffnete Klinik wirken als Hoffnungsträger in der gesamten Region. Die Menschen der Region sprechen angesichts solcher Hilfsprojekte von der "goldenen Chance". Nicht zuletzt, weil sich in der Region außer Caritas international kaum Hilfsorganisationen befinden und kein Militär vor Ort ist.


Der zweite Arbeitsschwerpunkt betrifft die psychosoziale Beratung. Seit Ende des Jahres 2004 unterstützt Caritas international Einzelpersonen und Familien, die unter Traumata, Depressionen, Gewalt in der Familie oder anderen psychischen Problemen leiden. Zu diesem Zweck wurde eine afghanische Hilfsorganisation mit dem Namen "Window for life" gegründet. 60 bis 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben laut offiziellen Statistiken psychische Probleme, zum Teil sind sie schwer depressiv. Vom jahrelangen Krieg gepeinigt, mussten viele Afghanen die Erfahrung des Verlustes von Familienmitgliedern und häufig auch der Heimat machen.

Die Verwundbarkeit und das traumatische Leiden bedürfen psychosozialer Hilfestellung, die in Afghanistan bislang nicht existiert. Es mangelt an ausgebildeten Fachkräften auf dem Gebiet der Psychologie (Schätzungen gehen von weniger als 100 afghanischen Psychologen und Psychiatern im ganzen Land aus). Ziel des Projektes ist neben der konkreten Hilfestellung für Traumatisierte die Ausbildung von qualifizierten psychosozialen Beratern und Beraterinnen, die nach erfolgreichem Abschluss Beratungszentren in Kabul leiten. Dort wird Gruppen- und Einzeltherapie für Menschen mit Depressionen, Angstzuständen, Traumata und familiären Problemen angeboten. Das Projekt wurde - in angepasster Weise - jüngst auf die Regionen Bamyan, Herat und Balkh ausgeweitet. Ein wichtiger Erfolg der Lobbyarbeit war es, dass die psycho-soziale Beratung auf Weisung des Ministeriums mittlerweile integraler Bestandteil der Gesundheitsfürsorge ist.


Das Arbeitsprinzip von Caritas international zeichnet sich durch die Förderung von Projekten afghanischer Hilfsorganisationen aus. Dahinter steht die Überzeugung, dass es auf allen Ebenen mehr afghanische Eigenverantwortung und Führung braucht, um die Akzeptanz im Land zu erhöhen. Die westliche Hilfe darf nur als (kultur-sensible) Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden. Der Wiederaufbau muss den gesellschaftlichen, politischen und historischen Kontext bedenken. Diese "Afghanisierung" wird so konsequent wie eben möglich betrieben, das eigene Personal und der eigene administrative Apparat hingegen so schlank wie eben möglich gehalten. Die Projekte streben realistische Ziele an und vermeiden Überkomplexitäten. Dreh- und Angelpunkt der Hilfe sind die dörflichen Gemeinschaften. Projekte werden in enger Absprache mit den lokalen Verantwortlichen vorangetrieben.

Caritas international übernimmt mit einem Minimum an deutschem Personal entsprechend dem Partnerprinzip die Rolle als "Auslöser" und überlässt den Afghanen (Projektmitarbeiter, Bevölkerung und örtliche Funktionsträger) nach vorheriger Aus- und Fortbildung so weit wie möglich die Entscheidungsfindung, Abwicklung und Durchführung der Projekte. Dadurch wird ein Maximum an Akzeptanz der Bevölkerung erreicht. Dieser Weg ist oft steiniger und zeitraubender, aber langfristig Erfolg versprechender als das Arbeiten über die Köpfe der Afghanen hinweg. Finanziert werden die Projekte durch eigene Spendenmittel sowie Gelder öffentlicher Geber wie der deutschen Regierung (Auswärtiges Amt und Entwicklungshilfeministerium) sowie der Europäischen Union.


Hohe Abhängigkeit von öffentlicher Hilfe

Entwicklungsprojekte von unabhängigen Hilfswerken existieren in Afghanistan neben militärischen Hilfsprojekten. Einige Projekte der militärischen so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRT), die im Rahmen des Konzeptes der Nato zur zivilmilitärischen Zusammenarbeit umgesetzt werden, ähneln auf den ersten Blick denen einer Hilfsorganisation. Es werden damit jedoch letztlich nicht ausschließlich humanitäre Ziele verfolgt, sondern die Beeinflussung der Bevölkerung und die Informationsgewinnung angestrebt. Statt Armutsbekämpfung steht somit im Grunde die Aufstandsbekämpfung im Mittelpunkt des Interesses. Ausschlaggebend für Hilfe sind strategische Interessen der Geberländer, nicht unbedingt Not und Bedarf der afghanischen Bevölkerung. Eine Folge dieser Ausrichtung ist, dass sehr arme Regionen nicht entwickelt werden, wenn diese nicht von militärisch-strategischem Interesse sind.

Allgemeine Grundsätze der Entwicklungszusammenarbeit wie Selbstbeteiligung und Partizipation werden in sehr vielen Fällen nicht berücksichtigt. Solche Projekte leisten aus Sicht der deutschen Hilfsorganisationen deshalb keinen grundlegenden Beitrag zur sozialen Entwicklung Afghanistans, auch wenn Einzelmaßnahmen punktuell sinnvoll sein mögen. Aufgabe des Militärs sollte es vielmehr sein, die Sicherheit herzustellen und die afghanische Zivilbevölkerung zu schützen.


Die Hilfe in Afghanistan kann von den meisten dort tätigen deutschen Hilfsorganisationen nicht allein durch Spenden finanziert werden, sondern ist auch in weit höherem Maße als in anderen Regionen abhängig von öffentlicher Finanzierung. Dies hängt damit zusammen, dass für Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen und insbesondere für Afghanistan eine eher geringe Spendenbereitschaft in der Bevölkerung besteht. Für die Opfer bewaffneter Konflikte geht generell nicht einmal ein Zehntel der Spenden ein wie nach Naturkatastrophen.

Vor diesem Hintergrund ist die recht unverhohlene Drohung von Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel im Vorfeld der Londoner Afghanistan-Konferenz, dass ohne Kooperation mit der Bundeswehr keine Finanzierung für Projekte von Hilfsorganisationen durch das Bundesministerium für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu erwarten ist, besonders besorgniserregend. Die Ankündigung, dass die deutsche Entwicklungshilfe sich sehr konzentriert dort engagieren wird, "wo wir auch militärisch Verantwortung tragen" und damit die Hilfe möglicherweise eben nicht vorrangig am Bedarf orientiert wird, stößt deshalb auf scharfe Kritik aller deutschen Hilfsorganisationen. Es wäre ein fataler Irrweg, wenn die Verteilung staatlicher Entwicklungsgelder künftig nicht mehr vom humanitären Bedarf abhinge, sondern strategischen militärischen Zielen untergeordnet würde.


Die meisten in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen fühlen sich dem Land nicht erst seit 2001 verpflichtet, sondern vielfach - wie im Fall von Caritas - seit Jahrzehnten. Selbst unter schwierigsten Bedingungen, wie etwa zu Zeiten der Herrschaft der Taliban, ist es gelungen, humanitäre Hilfe zu den Menschen zu bringen. Wie eine repräsentative Umfrage der ARD vom Januar 2010 zeigt, in der drei von vier Afghanen sich ein starkes Engagement internationaler Hilfsorganisationen wünschen, wird dieser beständige, von den Wirren der Zeitläufte unabhängige Hilfseinsatz von der Bevölkerung gewürdigt.

Aus der Erfahrung des jahrzehntelangen Wirkens in Afghanistan resultiert die Gewissheit, dass humanitäre Hilfe auch nach dem angekündigten Abzug der westlichen Truppen, der von 2011 an beginnen soll, notwendig sein wird. Wie immer in solch schwierigen Kontexten bedarf es Expertise, Mut und Herz um einen solchen Hilfseinsatz erfolgreich zu bewältigen. Vor allem muss aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt werden. Dazu zählt, dass der Wiederaufbau anfangs mit zu viel kurzatmigem Aktionismus und zu wenig Landeskenntnis angegangen worden ist.

Afghanistan wurde gerade in den Anfangsjahren von zu vielen Akteuren als "Umerziehungslager des Westens" angesehen, wie es der Afghanistan-Experte Conrad Schetter einmal genannt hat, ohne Verständnis und Respekt für die Traditionen des Landes. Zu den gravierenden Fehlern gehörte auch, sich mit Kriegsfürsten, Drogenhändlern und Milizen einzulassen, die zum Teil bis heute in höchsten Ämtern sitzen. Dieses Vorgehen diskreditierte den ISAF-Einsatz im Namen westlicher Werte in den Augen der afghanischen Bevölkerung sehr früh.

Der zivile Aufbau in Afghanistan, das ist eine andere Lehre aus der Vergangenheit, ist bislang auch an einem falschen Einsatz der staatlichen Hilfsgelder gescheitert. Das "Wie" in der Hilfe ist letztlich noch wichtiger als das "Wie viel". Es ist oftmals zu wenig Wert auf die Nachhaltigkeit der Projekte gelegt worden. Um möglichst viel Geld umsetzen zu können, sind unheilige Allianzen mit zweifelhaften Machthabern eingegangen worden. Vielfach war der Einsatz zu stark politisiert und zu wenig am Bedarf orientiert. Dabei spielt die Verbesserung der Lebensverhältnisse eine zentrale Rolle für die Befriedung des Landes.

Nach einer kürzlich in Afghanistan durchgeführten Umfrage einer englischen Nichtregierungsorganisation nennen 70 Prozent der Befragten Armut und Arbeitslosigkeit als die Hauptursache für den bewaffneten Konflikt im Land. An zweiter Stelle folgen die Korruption im Land (nur Somalia steht noch schlechter da) sowie die wenig vertrauensvolle afghanische Regierung. Die Taliban werden (erst!) an dritter Stelle genannt. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer zivilen Konfliktlösung in Afghanistan, die mehr auf soziale und wirtschaftliche Entwicklung unter Einbeziehung der breiten Bevölkerung denn auf die selektive Bekämpfung der Aufständischen zielt.


Der Politikwissenschaftler und promovierte Theologe Oliver Müller (geb. 1965) leitet Caritas international, das Hilfswerk der deutschen Caritas, seit 2006.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 4, April 2010, S. 207-211
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2010