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FRAGEN/027: Die Globalisierung ist alternativlos (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 157/September 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Globalisierung ist alternativlos

Defizite, Stärke und innere Widersprüche der liberalen Weltordnung

Interview mit Michael Zürn von Gabriele Kammerer


Die Welt scheint aus den Fugen. Nationalistischer Populismus feiert Erfolge, die Europäische Union schwächelt, Gewalt ersetzt Debatten. Wer aus der Vielzahl der täglichen Ereignisse und Meldungen ein großes Bild zu formen versucht, gelangt zu dem Eindruck, dem Ende einer Epoche beizuwohnen. Jedenfalls steht die liberale Weltordnung, geprägt von demokratischen Rechtsstaaten, starken internationalen Institutionen und Individual- und Minderheitenrechten, enorm unter Druck. Michael Zürn, Direktor der WZB-Abteilung Global Governance, hält nichts von Untergangsszenarien. Gabriele Kammerer hat mit dem Politikwissenschaftler über seine Deutung der Welt-Situation gesprochen.


Wie würden Sie die Verunsicherung beschreiben, die wir erleben?

Ich gehe da mal ein Stück zurück in der Geschichte, zum Optimismus der 1990er-Jahre. Die Mauer war gefallen, die europäische Einigung schritt voran, mit Abkommen wie der Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofs oder dem Kyoto-Protokoll setzte die Staatengemeinschaft Meilensteine multilateraler Verständigung. Die liberalen Ordnungsvorstellungen des Westens schienen sich weltweit durchzusetzen. 2001 erlitt dieser Optimismus plötzlich zwei Schläge, und zwar innerhalb nur weniger Wochen. Der eine war "9/11", der terroristische Anschlag in New York und Washington. Und, was häufig übersehen wird: Nur sechs Wochen später prägte Jim O'Neill, Chefvolkswirt bei Goldman Sachs den Begriff der BRICs. Brasilien, Russland, Indien und China sah er als die wirtschaftlich aussichtsreichsten Schwellenländer. Zum ersten Mal wurde überdeutlich formuliert, dass Europa im Jahr 2050 nur noch eine kleine regionale Ökonomie sein würde. Alle Wachstumsmärkte liegen heute schon in Asien.

Diese beiden Ereignisse haben auf der weltpolitischen Ebene in gewisser Weise die Wende eingeläutet. Seitdem erleben wir zunehmende Proteste gegen eine weitere Liberalisierung der Weltordnung. Die kommen zunächst von den so genannten rising powers, den Schwellenländern, die ihre politische Souveränität stärker betonten, aber parallel auch von vielen transnationalen Gruppierungen. Von Seattle 1999 bis kürzlich in Hamburg sehen wir zweitens massive Proteste, nicht gegen die internationale Weltordnung als solche, aber sozusagen gegen den ökonomisch neoliberalen Teil. Und drittens stellen nun seit geraumer Zeit innerhalb der westlichen Welt ökonomische und politische rechtspopulistische Bewegungen die ökonomische und politische Ordnung in Frage.


Was macht diese liberale Ordnung aus?

Kernelemente sind Menschenrechte, offene Grenzen, die Bedeutung von internationalen Institutionen. Bei allen Unterschieden, die die rechtspopulistischen Bewegungen von Land zu Land haben, ist ihnen die vehemente Ablehnung dieser drei Bestandteile der liberalen Ordnung gemein.


Der anti-liberale Widerstand insgesamt ist ja sehr disparat.

Wir sehen in der Tat keinen einheitlichen Block. Wir dürfen aber nicht nur auf die Merkmale dieser Akteure schauen. Offensichtlich ist da irgendwas im System, das diesen Widerstand produziert. Auf der ökonomischen Seite kann man das unter dem Schlagwort "Neoliberalismus" fassen. Das andere aber ist, dass wir, vor allem wenn wir die internationalen Institutionen anschauen, große Legitimationsprobleme haben. Es gibt die verbreitete Wahrnehmung: Diese internationalen Institutionen behandeln gleiche Fälle nicht gleich. Der Iran wird angegangen für Nuklearwaffen, Israel nicht. Es gibt ein Gefühl der mangelnden Verrechtlichung, der mangelnden Regelhaftigkeit.


Warum steigt gerade jetzt der Rechtfertigungsdruck der Institutionen?

Seit die Welt nicht mehr in Ost und West geteilt ist, sind die internationalen Institutionen viel stärker geworden, es wurde viel Autorität auf sie übertragen. Sie haben in die nationalen Gesellschaften eingegriffen, ökonomisch, aber auch durch die Einforderung von Menschenrechten. Der ganze europäische Erweiterungsprozess war ja an die Übernahme der europäischen Prinzipien gebunden. Plötzlich üben also politische Institutionen tatsächlich Autorität aus - und da erst entsteht die Frage nach der Legitimität. In dem Maße, in dem wir im Zuge der Globalisierung viele transnationale Probleme haben, muss international regiert wird. Es kann ja nicht sein, dass die gesamte europäische Wirtschaftspolitik von Frau Merkel gemacht wird und in Deutschland Entscheidungen getroffen werden, die für die Griechen von Bedeutung sind, ohne dass die ein Mitspracherecht haben. Wir brauchen in dem Sinne europäische Institutionen, um europäische Wirtschaftspolitik zu machen - auch aus demokratischen Gründen, nicht nur aus Effizienzgründen. Das Problem ist aber, dass sich die internationalen Institutionen selbst nur teilweise an diese liberalen Regeln halten.


Wo tun sie das nicht?

Es gibt zum Beispiel nur eine sehr schwach ausgeprägte internationale Gewaltenteilung. Nehmen Sie als Beispiel den Weltsicherheitsrat: Seine ständigen Mitglieder üben legislative und exekutive Funktionen gleichzeitig aus, wenn sie Resolutionen erlassen, Interventionen beschließen und diese dann auch ausführen lassen. Und es gibt ein strukturelles Ungleichgewicht in internationalen Institutionen: Ihre wichtigsten Entscheider sind die Sekretariate und, was noch schwerer wiegt, die Vertreter der mächtigsten Mitgliedsstaaten. Einflussreiche internationale Institutionen schaffen damit Hierarchien - nicht nur zwischen der globalen und der nationalen Ebene, sondern auch zwischen unterschiedlich starken Mitgliedern. Das gilt übrigens auch für die EU. Es gibt die Angst vor einem deutschen Diktat.


Wie kann die Legitimität internationaler Institutionen gestärkt werden?

Zunächst müssen wir, die wir in einer westlich-liberalen Tradition zu Hause sind, anerkennen, dass es andere Quellen für politische Legitimität gibt als nur die Demokratie und die faire Partizipation. Die Erdogans und die Putins haben nicht nur kurzfristige politische Unterstützung, sondern die Projekte, für die sie stehen, die nationale Idee, die Bekämpfung fremder Einflüsse, die Aufrechterhaltung der eigenen Kultur. Das sind auch legitimitätsstiftende Muster für politische Herrschaft. Wir müssen wohl auch akzeptieren, dass vieles von dem, was wir gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Unterstützung der liberalen Idee gesehen haben, schlicht der Wunsch nach westlichem Wohlstand war. Das haben wir lernen müssen in Deutschland, auch in den neuen Bundesländern, das müssen wir jetzt lernen in Osteuropa, und das gilt auch für andere Weltregionen.


Lässt sich Wohlstand ohne Freiheit schaffen?

Jahrzehntelang ist man davon ausgegangen: Wenn man den westlichen Wohlstand haben will, dann muss man den westlichen Weg der Modernisierung gehen, also den Weg der Demokratisierung. Es gibt aber andere Modelle, wie wir in China sehen. Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurden dort 300 Millionen Menschen aus der absoluten Armut geführt. Das ist eine historische Leistung. Und diese historische Leistung hat politische Wirkung entfaltet, weil man sieht: Wachstum, Konsum, ist auch möglich ohne - polemisch formuliert - das Trara, das die westlichen Gesellschaften politisch darum machen.


War dann die liberale Weltordnung nur eine Zwischenphase?

Nicht zwangsläufig. Die Herausbildung einer liberalen internationalen Ordnung hat das Prinzip etabliert, dass politische Maßnahmen auf nationaler und auf internationaler Ebene gegenüber Gesellschaften und Individuen gerechtfertigt werden müssen. Auch chinesische und russische politische Systeme haben anerkannt, dass es diesen Rechtfertigungsbedarf gibt. Das ist schon ein Schritt der Anerkennung der Individuen als letzte Instanz. Und die Legitimationsprobleme der Weltordnung werden von rising powers genau erkannt. Im ganzen Mittleren Osten hören wir diese Argumentation, Putin macht sie immer wieder sehr stark: Der Westen lebe nach doppelten Standards. Hier werden die westlichen Werte genommen, um sie gegen den Westen zu wenden. Die Tatsache, dass die westlichen Werte nach wie vor stark im Zentrum aller Rechtfertigungsmuster stehen, nährt bei mir die Hoffnung, dass man mittelfristig eine liberale Weltordnung erhalten und ausbauen kann.


Sie geben das Modell also nicht verloren?

Ich halte die Idee einer liberalen Weltordnung - um es provokativ zu formulieren - für alternativlos. Denn die Rückkehr zu nationalen Gesellschaften hätte unvorstellbar hohe politische Kosten, bis hin zu Kriegen. Und neben der Globalisierung gibt es ja auch die Digitalisierung. Beides ist nicht mehr zurückzudrehen. Wir leben also zumindest in Ansätzen in einer globalen Gesellschaft, in einer Gesellschaft, in der das Schicksal der Menschen in Syrien auch durch Entscheidungen in westlichen Gesellschaften mit verursacht ist. Das politische und ökonomische Schicksal Griechenlands wird eben auch durch Entscheidungen der deutschen Bundesregierung mitbestimmt. Und die Tatsache, dass in 10 oder 15 Jahren jene Menschen, die heute auf wunderschönen pazifischen Inseln leben, keine Heimat mehr haben werden, weil diese Inseln unter Wasser stehen, ist nicht deren politischen Entscheidungen geschuldet, sondern Folge des Lebenswandels in den Industriegesellschaften. Daher brauchen wir eine Internationalisierung der Politik, eine stabile Weltordnung, die allen Menschen über ihre Vertreter eine Stimme gibt. Auch eine nationale Regulierung der Finanzmärkte wird nicht mehr erfolgreich sein. Die Rettung des Klimas geht langsam voran, erfordert schrecklich viel Geduld, ruft enorme Frustrationen hervor, aber es gibt eben keine Alternative zu einer internationalen Klimapolitik. Wir müssen diesen steinigen Weg der Liberalisierung und der Demokratisierung gehen.


Und die Anti-Globalisierungsproteste?

Man darf die derzeitigen Proteste nicht nur als eine Negativ-Bewegung sehen, als ein "Schluss damit" oder "Wir wollen zurück zum alten Nationalstaat". Was wir erleben, ist eine Politisierung der internationalen Politik: Sie wird zunehmend zum Gegenstand des politischen Streits. Und in diesem politischen Streit liegt Potenzial zur Veränderung.


Michael Zürn ist Direktor der Abteilung Global Governance des WZB und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin.
michael.zuern@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 157, September 2017, Seite 21-22
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2017

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