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FRAGEN/033: Die Konstruktion von extremer Maskulinität in neuen Kriegen (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 147, 1/19

Die Konstruktion von extremer Maskulinität in neuen Kriegen
Mary Kaldor im Interview über vergeschlechtlichte Konflikte

Die Fragen stellte Tania Napravnik


Junge frustrierte Männer verkörpern in den neuen Kriegen zentrale Handlungsakteure. Mary Kaldor, Professorin für Global Governance, erzählt über die Entwicklungen von Konflikten und ihren Bezügen zu Geschlecht(re)produktionen ab der europäischen Moderne bis in die Gegenwart.


Tania Napravnik: Inwiefern unterscheiden sich die neuen von den alten Kriegen?

Mary Kaldor (MK): Wir tendieren dazu, Krieg als einen politischen Wettbewerb zwischen zwei Seiten, die mit regulären bewaffneten Kräften ausgestattet sind, zu betrachten. Aber wenn man über Jemen, Syrien oder Libyen nachdenkt, existieren dort buchstäblich hunderte bewaffnete Gruppen, die von Gewalt an sich profitieren. Sie profitieren politisch, da sie oft extremistische Organisationen verkörpern, deren Ideologien nur durch Angst Unterstützung gewinnen können. Diese Organisationen profitieren auch ökonomisch, da sie jene Zivilist*innen ausbeuten, die sie eigentlich umzubringen versuchen.

Kriege ab den späten 1980ern bezeichne ich als neue Kriege, um sie von den alten Kriegen abzugrenzen, und das, obwohl sie sich in bestimmten Bereichen überschneiden. Dabei denke ich an ethnische Säuberungen oder Ressourcen-Konflikte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Waffen jedoch zu zerstörerisch für eine klassische Schlacht. Insofern mussten Überlegungen angestellt werden, die traditionelle Konfrontation zu umgehen. Hinzu kommt, dass alte Kriege zu Beginn der frühen Moderne in Europa klare Regeln hatten, um Verbrechen und Kriege zu unterscheiden. Diese Regeln wurden Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa kodifiziert. Die neuen Kriege brechen diese Regeln, da sie eben nicht nur Schlachten zwischen zwei Seiten beinhalten, sondern durch Gewalt gegen die zivile Bevölkerung und Vertreibung gekennzeichnet sind. Darin wird ein weiterer Unterschied zwischen den alten und neuen Kriegen erkennbar: die Partizipation. In neuen Kriegen kämpfen die meisten Menschen nicht, da sie schlichtweg Zivilist*innen sind.


Tania Napravnik: Warum finden heutzutage Kriege statt?

MK: Die neuen Kriege finden normalerweise in Situationen von autoritären Staaten statt, die einen Wandel politischer und ökonomischer Liberalisierung durchlaufen. Diese Kriege ernähren sich von Ungleichheiten, die in Folge von neoliberalen Politiken wesentlich gravierender wurden. Insofern bezeichne ich neue Kriege als Militarisierung des Neoliberalismus. Zudem stellen die neuen Kriege eine Form dar, wie demokratische Forderungen unterdrückt werden können, wie beispielsweise in Syrien oder der Ukraine. Sie sind ein Ausdruck von Politik, da sich Interessengruppen durch den Bezug auf Identitäten, egal ob sie sich als Sunnit*innen, Katholik*innen oder Protestant*innen bezeichnen, Rechte auf staatliche Ressourcen verschaffen. In alten Kriegen war der territoriale Zugewinn bzw. die militärische Überlegenheit von hoher Bedeutung, während in den neuen Kriegen die politische Einflussnahme einen zentralen Stellenwert einnimmt.


Tania Napravnik: Kann Krieg als maskulines Phänomen verstanden werden?

MK: Ich würde sagen, dass Männlichkeit, Weiblichkeit und deren Differenzen in Kriegen konstruiert werden. Besonders interessant ist die Geschlechterkonstruktion im Vergleich zwischen den alten und neuen Kriegen. In klassischen Kriegen gab es ein männliches Ideal, wo der Mann als Soldat einen Helden verkörperte, der fortging, um seine Frau und Familie zu Hause zu beschützen. Während in neuen Kriegen aus mehreren Gründen eine extreme und instabile Maskulinität konstruiert wird: Die heutigen Kriege sind oft durch ethnische oder religiöse Ideologien geprägt, die mit ungleichen Geschlechterverhältnissen assoziiert werden. Hierbei kann an religiöse Fundamentalist*innen gedacht werden und wie diese Frauen behandeln. Allgemein spielen junge frustrierte Männer, die ihre Würde verloren haben, eine zentrale Rolle in den neuen Kriegen. Diese Ideologie der heterosexuellen Familie und der Unterschiede zwischen Männern und Frauen wirkt reizvoll auf die Gruppe der jungen männlichen Kämpfer.


Tania Napravnik: Inwiefern manifestieren sich Geschlechterverhältnisse in den neuen Kriegen?

MK: Ungleiche Geschlechterverhältnisse manifestieren sich in den Ideologien und Praxen der neuen Kriege. In den alten Kriegen waren sexuelle Übergriffe eher Nebeneffekte, während in den neuen Kriegen sexuelle Gewalt systematisch angeordnet wird. Das heißt, in den modernen Kriegen wird sexuelle Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt. Sexuelle Gewalt wird als ein rationales Kriegsinstrument, als ein Mechanismus zur Zwangsumsiedlung betrachtet. Diese extreme Form von Maskulinität kann auf Dauer nur durch extremes Verhalten aufrecht erhalten bleiben.

Dieser männliche Extremismus ist, abseits der politischen und ökonomischen Faktoren, einer der Gründe, warum es so schwer ist, Kriege zu beenden: In friedlichen Zeiten ist so ein extremes Verhalten schlichtweg nicht praktizierbar. Dafür ist Syrien ein besonders interessantes Beispiel, da etliche Organisationen vor Beginn des Krieges zu Gender Equality arbeiteten. Frauenorganisationen spielten eine tragende Rolle bei den anfänglichen Protesten gegen Assad.

Selbst Männer im Alter zwischen 18 und 45 setzten sich für Geschlechtergerechtigkeit ein. Jedoch verloren viele Haushalte durch die Liberalisierungspolitik von Assad, beginnend im Jahr 2000, landwirtschaftliche und/oder soziale Subventionen, wodurc< etliche junge Männer in die Städte migrierten, um Arbeit zu finden. Diese Männer ließen sich letztendlich von bewaffneten Gruppierungen rekrutieren, um Einkommen zu generieren.


Tania Napravnik: Welche Bedingungen gibt es für Frieden?

MK: Der Unterschied zwischen Krieg und Frieden ist, dass der Friede Mechanismen besitzt, Konflikte zu managen. Denn wir leben in einer Gesellschaft voller Konflikte, daher stellt sich die Frage, wie diese Konflikte friedvoll organisiert werden können. Wir haben Komitees, Gerichte und Wahlen, um Konflikte zu managen. Das heißt, in Kriegen können eigentlich keine Konflikte stattfinden, da sich Gruppierungen gegenüberstehen, die eine freie Meinungsäußerung untersagen.


Tania Napravnik: Kann Sicherheit mit Frieden gleichgesetzt werden?

MK: Nein, gar nicht. Ich definiere Sicherheit als das Organisieren von großflächiger Gewalt. Sicherheit kann sowohl positiv als auch negativ sein. Wenn wir über Security Services sprechen, reden wir normalerweise über die Polizei oder das Militär.


Tania Napravnik: Wie kann der gleichberechtigte Zugang von Frau und Mann in Bezug auf diese Security Services in neuen Kriegen gewährleistet werden?

MK: Generell sind die Security Services männlich dominiert, da meistens Männer in Kriegen kämpfen bzw. sterben. Insofern müsste wohl darüber nachgedacht werden, wie Kriege bzw. Friedensprozesse geschlechtersensibel gestaltet werden können. Das soll nicht heißen, dass schlichtweg mehr Frauen beim Militär bzw. bei der Polizei tätig sein sollten, sondern dass ein weitaus differenzierteres Gender-Methodensetting angewandt werden müsste.


HÖRTIPP:
Das Radiointerview mit Mary Kaldor kann auf http://noso.at/ nachgehört werden.

ZUR INTERVIEWTEN:
Mary Kaldor ist Professorin für Global Governance an der London School of Economics. Sie war im Dezember 2018 in Wien zu Gast und referierte im Rahmen der Kapuscinski Development Lectures über "Human security in the age of geopolitics, terrorism and new wars"

ZUR INTERVIEWERIN:
Tania Napravnik leitet das SADOCC-Büro und koordiniert das Radioprojekt "Globale Dialoge".

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 147, 1/2019, S. 30-31
Text: © 2019 by Frauensolidarität / Tania Napravnik
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2019

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