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MELDUNG/034: Dr. Leopold Lucas-Preis 2012 für die Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 10.02.2012

Der Dr. Leopold Lucas-Preis geht 2012 an die amerikanische Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib

Universität Tübingen zeichnet eine Lobbyistin des Weltbürgerrechts auf Gastfreundschaft im Zeitalter der Globalisierung aus.


Der diesjährige Dr. Leopold Lucas-Preis wird am 8. Mai der amerikanischen Professorin für politische Theorie, Seyla Benhabib, von der Yale University in New Haven (Connecticut, USA) verliehen. Die mit 50.000 € dotierte Auszeichnung würdigt auf den Gebieten der Theologie, der historischen Geisteswissenschaften und Philosophie hervorragende Leistungen, die sich in besonderer Weise um die Verständigung zwischen Menschen und Völkern sowie um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht haben.

Seyla Benhabibs Publikationen zum Zusammenleben von Zivilgesellschaften, die immer wieder im Zeichen von Globalisierung, internationaler Migrationsströme und anwachsender Multikulturalität mit Spannungen und Konflikten zwischen unterschiedlichen Werte-Orientierungen von Individuen und Gruppen belastet sind, haben weltweit und vielfach Beachtung gefunden. Im Mittelpunkt ihres Denkens steht die diskursethische Begründung und Durchsetzung eines Menschenrechts auf Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden, eines universalen Anspruchs, dem moralisch und rechtspolitisch ein Vorrang gegenüber den bedingt berechtigten Interessen einzelner souveräner Demokratien an der Regelung ihrer Staatsbürgerzugehörigkeit gebührt.

Das politische Denken Seyla Benhabibs stellt sich vor allem den Widersprüchen und Konflikten, die sich aus dem Prozess der Globalisierung in ihren Auswirkungen auf die politische Kultur liberaler Demokratien ergeben: Wie gehen diese mit Minderheiten und solchen Menschen um, die durch Flucht und Vertreibung Gefahr laufen, den Schutz der Menschenrechte zu verlieren? Wie ist ein zivilgesellschaftliches Zusammenleben möglich angesichts der zunehmenden Konfrontation mit dem Fremden, mit der andersartigen Lebensweise und Werte-Orientierung etwa von Migranten, Flüchtlingen, Exilanten und Asylsuchenden? Welche staatsbürgerlichen Rechte sind ihnen zuzubilligen? In welchem Verhältnis stehen dabei demokratische Staatsbürgerrechte und universelle Menschenrechte? Kann ein noch so liberales politisches System seine Identität und Souveränität bewahren, wenn es seine Grenzen bedingungslos öffnet und die Identitätsansprüche des Anderen vorbehaltlos anerkennt?

Solchen und ähnlichen Fragen, die sich gegenwärtig besonders in der Konfrontation Europas mit der islamischen Kultur in immer wieder neuen, exemplarischen Varianten stellen, geht die Politikwissenschaftlerin und Philosophin Seyla Benhabib nach, indem sie die argumentative Diskussion politischer Prinzipien und Beurteilungskriterien mit luziden Analysen aktueller, brisanter Fallbeispiele (wie etwa den württembergischen Kopftuchstreit der Fereshta Ludin) verbindet. Deutlich wird dabei ihr philosophisches Engagement für die universellen Menschenrechte, auf die sich im konkreten Einzelfall zurück zu besinnen, die Vorherrschaft der bloß ökonomistischen Sichtweise auf die Globalisierung unterläuft. Der Durchlässigkeit der Grenzen muss auch rechtspolitisch und moralisch Rechnung getragen werden. Gegenüber nationalen Gesetzgebungen tritt Seyla Benhabib entschieden als Lobbyistin der internationalen Menschenrechte auf. In diesem Zusammenhang plädiert sie im Anschluss an Kants Essay "Zum ewigen Frieden" aus dem Jahr 1795 für die Gewährung eines Weltbürgerrechts auf Gastfreundschaft unter den Bedingungen einer globalisierten Welt - nicht als Inbegriff einer sozialen Tugend der Menschenfreundlichkeit gegenüber dem Fremden, sondern als Verwirklichung des elementaren Rechts der Anderen, "Rechte zu haben" (H. Arendt).

Seyla Benhabib wurde im Jahr 1950 in eine sephardisch-jüdische Familie in Istanbul geboren. Nach einem Bachelor-Studium der Geisteswissenschaften am Istanbuler American College for Girls (B.A. 1970) setzte sie ihr Philosophiestudium zunächst an der Brandeis University im US-Bundesstaat Massachusetts fort (B.A. 1972). Sie schloss ihr Studium an der Yale University in New Haven mit einer Dissertation über Hegels Rechtsphilosophie ab (Ph.D. 1977), nachdem sie zwei Jahre lang als Alexander von Humboldt-Stipendiatin am Max Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt unter dem Direktorat des Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker am Starnberger See verbracht hatte.

Es folgten in rascher Abfolge Assistenzprofessuren an der Yale University (1977-1979) und an der Universität von Boston (1981-1985), bevor sie als Associate Professor für Politische Theorie in Harvard (1987-1989), anschließend als Associate Professor für Philosophie und Frauenstudien an der Staatsuniversität von New York (1989-1991) tätig wurde. Im Jahr 1991 nahm sie einen Ruf auf die Professur für Politische Wissenschaften und Philosophie der New School for Social Research in New York an, wechselte zwei Jahre später auf die Professur für Politische Theorie am Department of Government der Harvard University, wo sie zugleich Senior Research Fellow am Zentrum für Europäische Studien wurde (1993-2001). Seit 2001 lehrt sie Politische Wissenschaften und Philosophie auf der Eugene Meyer Professur der Yale University in New Haven (Connecticut), wo sie von 2002 bis 2008 zugleich Direktorin des Programms für Ethik, Politik und Wirtschaft war.

Ihren internationalen Ruf begründete Seyla Benhabib durch renommierte Gastvorlesungen, aus denen eine Reihe von viel diskutierten Publikationen hervorgegangen ist, die auch in deutscher Übersetzung erschienen sind, u.a. die Horkheimer Vorlesungen im Jahr 1997 ("Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung", Frankfurt/Main 1999), die Tanner Lectures von 2004 im kalifornischen Berkeley ("Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte, Frankfurt/Main 2008) sowie die John Robert Seeley-Gedächtnisvorlesung von 2002 am King's College der Universität Cambridge ("Das Recht der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger", Frankfurt/Main 2008).

Für ihr philosophisches Gesamtwerk wurde Seyla Benhabib im Jahr 2009 mit dem Ernst Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen ausgezeichnet. Eine wichtige Grundlage ihres philosophischen Denkens stellt für Seyla Benhabib die Rekonstruktion der politischen Theorie Hannah Arendts dar, der sie im Jahr 1996 eine ausführliche Darstellung gewidmet hat ("Hannah Arendt - die melancholische Denkerin der Moderne", Frankfurt/Main 2006). Die philosophischen Konsequenzen aus den Erfahrungen der deutsch-jüdischen Philosophin Arendt mit dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts enthalten für Benhabib auch entscheidende Anregungen und Anknüpfungspunkte für das Durchdenken der politischen Probleme auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert.

Die Tübinger Auszeichnung des Dr. Leopold Lucas-Preises wurde 1972 von dem im Juli 1998 verstorbenen Generalkonsul Franz D. Lucas, ehemals Ehrensenator der Eberhard Karls Universität Tübingen, zum 100. Geburtstag seines in Theresienstadt umgekommenen Vaters, des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Dr. Leopold Lucas aus Marburg, zu dessen Gedenken gestiftet. Er wird alljährlich von der Evangelisch-Theologischen Fakultät im Namen der Universität Tübingen verliehen.

Zu den bisherigen Preisträgern gehörten prominente Gelehrte wie Schalom Ben-Chorin (1974), Karl Raimund Popper (1981), Karl Rahner (1982), Fritz Stern und Hans Jonas (1984), Paul Ricoeur (1989), Michael Walzer (1998), André Chouraqui (1993), Moshe Zimmermann (2002), Yosef Hayim Yerushalmi (2005) und Dieter Henrich (2008) oder Repräsentanten des religiösen und kirchlichen Lebens wie der 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso (1988), der polnische Erzbischof Henryk Muszynski (1997) und der evangelische Bischof Eduard Lohse (2007) oder Vertreter aus Kultur und Politik wie der frühere senegalesische Staatspräsident und Dichter Léopold Sédor Senghor (1983) und der Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (2000). Der Preisträger des vorigen Jahres war der israelische Sozialphilosoph Avishai Margalit.

Die diesjährige Preisverleihung findet am 8. Mai 2012, um 17.15 Uhr, im Festsaal der Eberhard Karls Universität Tübingen statt.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution81


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Michael Seifert, 10.02.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2012