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MILITÄR/882: Alte und neue Weltmächte (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 17.12.2010
(german-foreign-policy.com)

Alte und neue Weltmächte, 17.12.2010


BERLIN - Deutsche Marineexperten sagen für die kommenden 20 Jahre eine dramatische Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den führenden Seestreitkräften der Welt voraus. Während die Marinen mehrerer Staaten in Ost- und Südasien stark wüchsen, werde die US Navy leicht schrumpfen. Den europäischen Flottenverbänden, darunter auch dem deutschen, stünden äußerst drastische Einbrüche bevor. Ursache für den zu erwartenden Rückgang der deutsch-europäischen Seemacht sei neben der aktuellen Eurokrise die Tatsache, dass die NATO-Staaten zur Zeit erhebliche Summen in laufende Einsätze und die in Afghanistan kämpfenden Landstreitkräfte steckten, heißt es in einer Analyse, die in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "MarineForum" erschienen ist. Die "'Championsleague' der Marinerüstung" spiele heute "im asiatisch-pazifischen Raum". Die zweifellos "bedeutendste Veränderung im maritimen Kräftespiel zwischen alten und neuen Weltmächten" sei "das Spannungsfeld zwischen dem massiven Ausbau der chinesischen Marine und der zeitgleich weiter schrumpfenden US-Navy". Europa spielt der Analyse zufolge in der globalen Rivalität der Seestreitkräfte künftig keine entscheidende Rolle mehr.


Perspektive 2030

Die Analyse, die von einem Experten aus dem Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung verfasst und in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "MarineForum" veröffentlicht worden ist, vergleicht die Entwicklung sämtlicher Marinen weltweit. Vergleichsmaßstab ist zum einen die Zahl der Schiffe ("Einheiten"), die eine Marine zur Verfügung hat. Weil Kriegsschiffe jedoch höchst unterschiedliche Eigenschaften besitzen, errechnet der Autor der Analyse für jede Marine einen spezifischen Indexwert, der einen Vergleich der jeweiligen Fähigkeiten erlaubt. Dabei kann eine geringere Anzahl von Schiffen durchaus über größere Fähigkeiten verfügen. Berücksichtigt sind neben dem aktuellen Schiffsbestand auch die bereits in Auftrag gegebenen Neubauten und die noch nicht in der Umsetzungsphase befindlichen Planungen für die nächsten 20 Jahre. Auch die bis 2030 abzuwrackenden Schiffe, deren Zahl dem Autor zufolge recht genau bestimmt werden kann, sind in der Analyse berücksichtigt. Von den 120 bis 130 Marinen weltweit können laut der Analyse nur 18 aufgrund ihrer Fähigkeiten als "bedeutend" gelten [1]; sie verfügten, heißt es, über zwei Drittel aller existierenden Einheiten und seien "meist global orientiert".[2]


US Navy: "Leichte Schrumpfung"

Die mit deutlichem Abstand größte Marine ist mit aktuell 511 Einheiten und einem Fähigkeitsindex von 645,7 [3] die United States Navy. Trotz ehrgeiziger Aufrüstungsprogramme geht die Analyse davon aus, dass die US-Seestreitkräfte ihren gegenwärtigen Stand nicht auf Dauer halten können. Die US Navy, heißt es, erlebe seit Beginn der 1990er Jahre einen Prozess leichter Schrumpfung, der wohl fortdauern werde. Konkret prognostiziert der Autor der US-amerikanischen Flotte für das Jahr 2030 eine Zahl von 450 Einheiten mit einem Fähigkeitsindex von ebenfalls 450. Dabei wird die US Navy künftig nicht mehr mit ihrer langjährigen Hauptkonkurrentin, der Marine Russlands, rivalisieren. Dieser sagt die Analyse wegen zahlreicher überalterter Schiffe bis 2030 einen Absturz bei den Einheiten von 298 auf 50 und bei den Fähigkeiten vom Indexwert 247,4 auf ebenfalls 50 voraus. Damit stehe die einstige Marineweltmacht "an der Schwelle zu Seestreitkräften von Mittelmächten" und falle sogar hinter die Türkei zurück.


China: "Stärker global orientiert"

Besondere Bedeutung misst der Autor der Marine Chinas bei. Diese erreiche trotz der hohen Zahl ihrer Schiffe (493) nur ein Viertel der Fähigkeiten der US Navy (167,0), werde aber von Beijing in hohem Tempo aufgerüstet. Neben Flugzeugträger-Programmen seien auch "der Ausbau der amphibischen Komponente mit großen Landungsschiffen" sowie die Teilnahme am internationalen Einsatz vor dem Horn von Afrika ("Piratenbekämpfung") "Indikatoren für eine stärkere globale Orientierung der chinesischen Marine". Abzuwarten sei, "ob auch noch der für weltweite Operationen notwendige Aufbau einer leistungsstarken logistischen Komponente erfolgen wird". Jedenfalls sei damit zu rechnen, dass die Volksrepublik im Jahr 2030 über 550 Schiffe verfüge, die einen Indexwert von 300 erreichen könnten. Bei anhaltendem chinesischen Wachstum, schreibt der Autor, wäre der Kräfteunterschied zwischen der US Navy und der Flotte Beijings "in etwa 30 bis 50 Jahren (...) egalisiert".


Indien: "Gegenspieler Chinas"

Daneben rechnet die Analyse mit Aufrüstungsschritten seitens der asiatischen Rivalen Beijings. So würden Japan, Südkorea, Taiwan und Australien zwar nicht in jedem Fall die Anzahl ihrer Schiffe, aber durchweg ihre Marinefähigkeiten erhöhen. Auch auf Indien treffe dies zu: "Als zukünftiger Gegenspieler Chinas auf der Weltbühne betreibt das Land ebenfalls einen signifikanten Ausbau seiner maritimen Fähigkeiten." In der Prognose des Autors nehmen die genannten Länder im Jahr 2030 nach den USA und China die Plätze drei bis fünf sowie elf (Australien) auf der Rangliste der stärksten Marinemächte ein.[4] Von ihrer Aufrüstung profitiert nicht zuletzt die deutsche Kriegsschiffbauindustrie.


Europa: "Erhebliche Schrumpfung"

Europa hingegen fällt der Analyse zufolge im weltweiten Marinerüsten deutlich zurück. Wie der Autor schreibt, werde die französische Marine voraussichtlich um gut 45 Prozent schrumpfen; die britischen Seestreitkräfte könnten sogar bis zu zwei Drittel ihrer Einheiten und ihrer Fähigkeiten verlieren. Schrumpfen werde auch die italienische Flotte; allenfalls Spanien könne sich behaupten, wenn es nicht in den Sog der Eurokrise gezogen werde. Griechenland müsse sparen und die Flotte mindestens halbieren; damit falle es von Platz 13 auf der Rangliste der stärksten Marinen der Welt weit zurück. Auch die deutsche Marine sei von Schrumpfung betroffen. Weil Berlin vor allem den Krieg in Afghanistan und dafür benötigte Vorhaben der Landstreitkräfte sowie den Lufttransport finanziere, bleibe für neue Schiffe wenig Spielraum. Deutschland wird laut der Analyse bis 2030 rund 45 Prozent seiner Kriegsschiffe und ein Drittel seiner Marinefähigkeiten verlieren. Die EU-Marinen werden dann insgesamt ungefähr dieselbe Zahl an Schiffen wie die USA besitzen, aber nur über halb so starke Marinefähigkeiten verfügen.


Ein neues Wettrüsten

Damit verschiebt sich das internationale Kräfteverhältnis zwischen den bedeutenden Marinen klar in Richtung Pazifik. Im Jahr 2030 wird dort eine weiterhin aufstrebende chinesische Marine einer schrumpfenden US Navy gegenüberstehen, die allerdings auf starke Verbündete - Indien, Japan, Südkorea, Australien - zurückgreifen kann. Europa verliert in der Marinerivalität seine mächtige Position. Die entscheidende Fragen wird der Analyse zufolge in China gestellt: Die Frage, ob die chinesischen Seestreitkräfte an ihrer vorwiegend regionalen Orientierung festhalten wollen oder sich global ausrichten. "Letzteres wäre", urteilt der Autor, "eine Neuauflage des Wettrüstens der US-Navy mit dem 'russischen Bären' unter Admiral Gorschkow in den 80er Jahren." Damals war die Sowjetunion im Abstieg begriffen. In 20 Jahren werden es nach Ansicht mancher Beobachter die Vereinigten Staaten sein.[5]


Anmerkungen:

[1] Die 18 "bedeutenden" Marinen gehören in der Reihenfolge ihrer "Fähigkeiten": 1. USA, 2. Russland, 3. China, 4. Großbritannien, 5. Japan, 6. Frankreich, 7. Indien, 8. Türkei, 9. Südkorea, 10. Italien, 11. Taiwan, 12. Deutschland, 13. Griechenland, 14. Spanien, 15. Australien, 16. Kanada, 17. Nordkorea, 18. Brasilien.

[2] Zitate hier und im Folgenden aus: Christian Peters: Trendanalyse zur weltweiten Flottenentwicklung. Rasante Phase des Wandels und grundlegender Veränderung, MarineForum 12/2010

[3] Der Autor schreibt über den Index: "Die Bezugsgröße für diese Normierung ist eine moderne Fregatte, also ein Überwasser-Kampfschiff mit 'dreidimensionalen' Fähigkeiten (Luftverteidigung, Überwasserseekrieg, U-Boot-Jagd). Definitionsgemäß ergibt sich für diesen Schiffstyp der Referenzwert von 1,0". Weitere Referenztypen: Flugzeugträger (60.000 t) = 6,0; nukleares Jagd-U-Boot = 3,0; Zerstörer (7.500 t) = 2,0; Hubschrauberträger (20.000 t) = 0,5; Korvette (2.000 t) = 0,4; Patrouillenschiff (4.000 t) = 0,15.

[4] Die 14 "bedeutenden" Marinen des Jahres 2030 werden nach dem Urteil der MarineForum-Analyse folgenden Staaten gehören: 1. USA, 2. China, 3. Japan, 4. Indien, 5. Südkorea, 6. Frankreich, 7. Russland, 8. Türkei, 9. Taiwan, 10. Italien, 11. Australien, 12. Großbritannien, 13. Spanien, 14. Deutschland.

[5] s. dazu Europas Abstieg
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57967


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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2010