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MILITÄR/994: Rüstungstreiber Europa (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 25. April 2023
german-foreign-policy.com

Rüstungstreiber Europa (II)

Europa hat seine Militärausgaben im vergangenen Jahr um 13 Prozent gesteigert - mehr als jede andere Weltregion. Allein die NATO tätigt 55 Prozent aller Militärausgaben weltweit.


BERLIN - Die Staaten Europas haben ihre Militärausgaben im vergangenen Jahr stärker gesteigert als jeder andere Kontinent. Damit waren sie treibende Kraft beim Anstieg der Aufwendungen für die Streitkräfte weltweit auf rund 2,2 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung: 2,24 Billionen US- Dollar. Der Anstieg in Europa erreichte gut 13 Prozent (inflationsbereinigt), während etwa Afrika, Lateinamerika und Südostasien Rückgänge bei ihren Militärausgaben verzeichneten. Das geht aus einer gestern publizierten Studie des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI hervor. Das Papier belegt zudem, dass der Anstieg zwar durch den Ukraine-Krieg beschleunigt, aber nicht durch ihn verursacht wurde; vielmehr vollzieht er sich bereits seit geraumer Zeit und lässt sich mit den eskalierenden Machtkämpfen des Westens gegen Russland und gegen China in Verbindung bringen. Dabei bestätigt die aktuelle Studie eine frühere, die SIPRI schon im März veröffentlicht hat; diese zeigt, dass einem starken Rückgang der Großwaffenimporte etwa in Afrika oder Südamerika ein massiver Anstieg in Europa gegenüberstand. Die Ukraine fordert noch mehr und dringt auf Waffenlieferungen im Wert von einer halben Billion Euro.

Auf dem Niveau des Kalten Kriegs

Die weltweiten Militärausgaben sind im vergangenen Jahr inflationsbereinigt um 3,4 Prozent auf 2,24 Billionen US-Dollar gestiegen. Dies geht aus einer aktuellen Studie des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI hervor.[1] Laut SIPRI entspricht der Betrag 2,2 Prozent der global erzielten Wirtschaftsleistung. Stärkster Treiber des Anstiegs war die Aufrüstung in Europa, wo die Militärausgaben - massiv beschleunigt durch den Ukraine-Krieg - um gut 13 Prozent in die Höhe schnellten (ebenfalls inflationsbereinigt). Einen starken, allerdings noch unter dem europäischen Durchschnitt liegenden Anstieg verzeichnete Russland, das die Ausgaben für seine Streitkräfte um 9,2 Prozent auf 86,4 Milliarden US-Dollar steigerte. Das sind 4,1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. Die Ukraine erhöhte ihre Aufwendungen für das Militär um 640 Prozent auf 44 Milliarden US-Dollar. Das sind 34 Prozent ihres katastrophal eingebrochenen Bruttoinlandsprodukts. Allein die Staaten West- und Zentraleuropas steckten im vergangenen Jahr 345 Milliarden US-Dollar in ihre Streitkräfte; das ist inflationsbereinigt zum ersten Male mehr als im Jahr 1989, dem letzten Jahr des Kalten Kriegs. Die höchsten Zuwächse verzeichneten dabei Finnland (plus 36 Prozent), Litauen (plus 27 Prozent), Schweden (plus 12 Prozent) und Polen (plus 11 Prozent).

NATO: 55 Prozent aller Militärausgaben weltweit

Lag beim Anstieg der globalen Militärausgaben im vergangenen Jahr Europa klar vorn, so liegen bei der Summe der 2022 getätigten Ausgaben die Vereinigten Staaten unverändert mit erheblichem Abstand auf Platz eins. Ihre Aufwendungen für ihre Streitkräfte beziffert das Stockholmer Institut mit 877 Milliarden US-Dollar; das sind 39 Prozent aller Militärausgaben weltweit. Die NATO - das Militärbündnis, das im Fall eines Krieges an der Seite der USA kämpfen würde - verzeichnete laut SIPRI im vergangenen Jahr entsprechende Budgetposten ihrer Mitgliedstaaten in Höhe von 1,23 Billionen US-Dollar; das sind rund 55 Prozent aller Militärausgaben weltweit. China, das Land, das im Westen von Politik und Medien häufig als zentraler Rüstungstreiber charakterisiert wird, gab SIPRI zufolge im vergangenen Jahr 292 Milliarden US-Dollar für seine Streitkräfte aus - lediglich ein Drittel des US-Betrags. Zwar trifft es zu, dass die Volksrepublik ihre Rüstungsgüter vielfach im eigenen Land einkauft und damit in der Regel deutlich niedrigere Preise zahlt; Experten gehen davon aus, dass Chinas Rüstungsausgaben nach Kaufkraftparität etwa die Hälfte der US-Ausgaben erreichen. Doch muss auch berücksichtigt werden, dass SIPRI in Chinas Fall Ausgaben abseits des offiziellen Militärhaushalts einbezieht, was es im Fall der westlichen Staaten kaum tut.

Langfristige Aufrüstung

SIPRI weist darauf hin, dass vor allem die westlichen Militärausgaben zwar im vergangenen Jahr durch den Ukraine-Krieg einen massiven Schub erhalten haben, dass sie aber bereits seit längerer Zeit kontinuierlich steigen - und zwar zum Teil stärker als der globale Durchschnitt. Weltweit nahmen demnach die Aufwendungen für die Streitkräfte von 2013 bis 2022 um 19 Prozent zu. Während das Wachstum in Nordamerika mit 3,7 Prozent recht moderat ausfiel - bedingt dadurch, dass die Vereinigten Staaten seit je gewaltige Summen für das Militär bereitstellen -, lag es in Europa bei bemerkenswerten 38 Prozent; diese waren seit 2014 vor allem Resultat einer systematischen Aufrüstung gegen Russland. Höhere Steigerungsraten erzielten von 2013 bis 2022 insbesondere asiatische Staaten, so etwa Indien (47 Prozent) und China (63 Prozent). Eine starke Zunahme gab es auch bei den engsten Verbündeten der westlichen Staaten in der Asien-Pazifik-Region, so etwa in Japan (18 Prozent), Südkorea (37 Prozent) und Australien (47 Prozent), die sich alle drei an der Seite des Westens gegen China positionieren. Die Tatsache, dass die Aufrüstung langfristig erfolgt, zeigt, dass sie nicht einfach dem Ukraine-Krieg geschuldet, sondern Teil des großen Machtkampfs der westlichen Staaten gegen Russland und vor allem gegen China ist.

Waffenimporteur Nr. 1

Dies ließ sich bereits an einer im März veröffentlichten SIPRI-Studie ablesen, die sich mit dem internationalen Waffenhandel befasste. Das Stockholmer Forschungsinstitut kam in dem Papier zu dem Schluss, dass im Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 weltweit 5,1 Prozent weniger Großwaffen verkauft worden waren als im Fünfjahreszeitraum von 2013 bis 2017.[2] Dies lag an drastischen Rückgängen der Waffenimporte der Staaten Südamerikas (minus 34 Prozent) und Afrikas (minus 40 Prozent). Dem stand ein Anstieg der Einfuhr von Kriegsgerät in den Staaten Europas um 47 Prozent gegenüber; bei den europäischen NATO-Staaten belief er sich sogar auf 65 Prozent. Der massive Anstieg korreliert mit Maßnahmen zur Umsetzung des NATO-Beschlusses aus dem Jahr 2014, die Militärausgaben der Bündnismitglieder im Machtkampf gegen Russland auf zwei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung anzuheben. Parallel diagnostizierte SIPRI starke Rüstungseinfuhren auch bei den asiatisch-pazifischen Verbündeten des Westens im Machtkampf gegen China. So steigerte etwa Südkorea den Import von Großwaffen um 61 Prozent und nahm im Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 rund 3,7 Prozent aller internationalen Lieferungen ab. Der Anteil der japanischen Importe am globalen Waffenimport lag bei 3,5 Prozent (plus 171 Prozent), derjenige Australiens bei 4,7 Prozent. Globaler Hauptexporteur waren mit einem Weltmarktanteil von 40 Prozent die USA.

"Rüstungslieferungen verzehnfachen"

Dabei ist der seit Jahren anschwellende Militarisierungsschub noch lange nicht an seinem Ende angelangt. In der NATO ist im Gespräch, einen Wert von zwei Prozent der jeweiligen Wirtschaftsleistung als verbindlichen Mindestwert für die nationalen Streitkräftehaushalte festzuschreiben. Tschechien ist bereits dabei, den Vorstoß in Gesetzesform zu gießen.[3] In Polen hat die Regierung angekündigt, den Militäretat in diesem Jahr auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Höhe zu schrauben und perspektivisch sogar fünf Prozent zu erreichen. Auch in Deutschland ist - nicht zuletzt dank der angekündigten Sonderausgaben von 100 Milliarden Euro - eine weitere deutliche Steigerung abzusehen. Allein für die Ukraine hat der Haushaltsausschuss des Bundestags Ende März weitere zwölf Milliarden Euro bereitgestellt.[4] Kiew genügt das freilich nicht. Am Wochenende hat Andrij Melnyk, einst ukrainischer Botschafter in Deutschland, inzwischen stellvertretender Außenminister seines Landes, erklärt, zwar sei man "unseren Verbündeten dankbar für ihre militärische Hilfe".[5] Doch seien die Waffen im Wert von insgesamt gut 55 Milliarden US-Dollar, die bislang geliefert worden seien, "nicht genug": "Die Ukraine braucht zehn Mal mehr". Das wäre eine halbe Billion Euro - rund das Zehnfache des aktuellen Bundeswehretats.


Anmerkungen:

[1] Angaben hier und im Folgenden: World military expenditure reaches new record high as European spending surges. sipri.org 24.04.2023. Trends in world military expenditure, 2022. SIPRI Fact Sheet. Solna, April 2023.

[2] Trends in International Arms Transfers, 2022. SIPRI Fact Sheet. Solna, March 2023.
S. dazu Rüstungstreiber Europa.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9193

[3] Tschechien legt per Gesetz Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigung fest. tagesschau.de 21.04.2023.

[4] Zwölf Milliarden Euro für Ukraine-Waffenhilfe. tagesschau.de 29.03.2023.

[5] Melnyk fordert Verzehnfachung der Militärhilfen. n-tv.de 22.04.2023.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 25. April 2023

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