Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


MILITÄR/998: Beschleunigtes Aufrüsten (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 28. Juli 2023
german-foreign-policy.com

Beschleunigtes Aufrüsten

Unter deutscher Beteiligung beschleunigt die NATO ihre 2014 begonnene Vorbereitung auf einen Krieg mit Russland. Bundeswirtschaftsministerium fordert Demokratieabbau zugunsten schnellerer Aufrüstung.


VILNIUS/BERLIN - Unter Leitung von Minister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) stellt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz das parlamentarische Mitspracherecht bei militärischen Großanschaffungen in Frage. Dies geht aus einem Gutachten hervor, das Habeck-Berater am Dienstag vorgelegt haben. Von dem Demokratieabbau verspricht sich das grün geführte Ministerium Zeitgewinne beim Aufrüsten. Erst im April hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei seiner Reform des militärischen Beschaffungswesens "den Faktor Zeit" zum wesentlichen Maßstab erklärt. In der aktuellen Reform des Beschaffungswesens setzen sich transatlantische Stimmen durch, die einen schnellen Fähigkeitszuwachs der Bundeswehr der Förderung einer eigenständigen europäischen Rüstungsindustrie vorziehen; das führt zu neuen Spannungen mit Frankreich. Deutschland vollzieht seine Hochrüstung zur Zeit weitestgehend im Rahmen der NATO. Das Militärbündnis hat zuletzt auf seinem Gipfel in Vilnius seinen Rüstungskurs bestätigt. Die NATO-Staaten verabschiedeten dort weitere Maßnahmen, um "schneller und in größerem Maßstab" einsatzbereit zu sein.

Keine Zeit für parlamentarische Kontrolle

Bei rüstungspolitischen Großprojekten ist die Bundesregierung zur Zeit noch auf die Zustimmung des Haushaltsauschusses des Bundestages angewiesen. In einem Gutachten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz kommen Berater von Minister Robert Habeck nun zu dem Schluss, die parlamentarische Kontrolle führe dazu, das Vergabeverfahren "in die Länge zu ziehen".[1] Sie solle deshalb aufgehoben werden, fordern die Gutachter. Außerdem positioniert sich das Bundesministerium gegen Sonderrechte für europäische Rüstungsunternehmen bei der Auftragsvergabe; "Anbieter aus anderen NATO-Staaten, insbesondere aus den USA", könnten mit den geltenden Regeln ausgeschlossen werden, konstatieren Beobachter. Wichtiger als das Fördern einer eigenständigen europäischen Rüstungsindustrie durch protektionistische Sonderregeln sei jedoch der zeitnahe konkrete Fähigkeitszuwachs der Bundeswehr.

Vorteil USA

Das Verteidigungsministerium war bereits im April zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Die Bundeswehr müsse wieder befähigt werden, hieß es, "in größeren Verbänden zu kämpfen".[2] Mit Verweis auf Russland erklärte Verteidigungsminister Pistorius anlässlich der Reform des Beschaffungswesens, die "schnellstmögliche" Beschaffung der notwendigen Rüstungsgüter sei nun "oberste Priorität".[3] Entscheidend sei vor allem der "Faktor Zeit". Mit seinem Tagesbefehl zur Beschleunigung des Beschaffungswesens hatte Pistorius die Bevorzugung marktverfügbarer Waffensysteme über zeit- und kostenintensive Neuentwicklungen bereits angeordnet. Schon dies hatte zu Streit mit Frankreich geführt, das dem Aufbau einer eigenständigen europäischen Rüstungsindustrie höhere Bedeutung einräumt und beispielsweise befürchtet, der von Berlin beschlossene Kauf teurer US-Kampfjets vom Typ F-35 werde zu Lasten der Entwicklung des deutsch-französischen FCAS (Future Combat Air System) gehen.[4] Mit ihren Initiativen knüpfen Habeck und Pistorius an das Beschaffungsbeschleunigungsgesetz von 2022 an.

Nukleare Konkurrenten

Die Aufrüstung der Bundeswehr wird überwiegend mit Blick auf die deutschen Aktivitäten innerhalb der NATO geplant und umgesetzt, die inzwischen laut Verteidigungsminister Pistorius "nahezu die gesamten deutschen Streitkräfte" binden.[5] Auf ihrem jüngsten Gipfel in Vilnius bekräftigten die NATO-Staaten ihre Absicht, "die volle Bandbreite" militärischer Fähigkeiten für die "hochintensive, mehrdimensionale Kriegsführung" aufzubauen - und zwar "gegen nuklear bewaffnete ebenbürtige Konkurrenten".[6] Besonderes Augenmerk bei der Aufrüstung liege auf "gefechtsfähigen, überwiegend schweren High-end-Truppen" mit schneller Einsatzbereitschaft. In hoher Einsatzbereitschaft sollen, so sehen es die NATO-Konzepte vor, künftig rund 300.000 Soldaten gehalten werden. Darüber hinaus setzt das transatlantische Militärbündnis auf die Bereitstellung von "signifikant erhöhten Vorräten an Munition" sowie auf ein modernisiertes Nuklearwaffenarsenal. Um die zunehmende Menge an militärischem Gerät "nachhaltig" liefern zu können, sei eine "starke und fähige" Rüstungsindustrie mit krisensicheren Lieferketten notwendig, heißt es in der Gipfelerklärung aus Vilnius.

Epochenjahr 2014

Das erste Maßnahmenpaket zur Vorbereitung auf eine militärische Konfrontation mit Russland hatten die NATO-Staaten bereits 2014 auf ihrem Gipfel in Newport (Wales) mit dem Readiness Action Plan beschlossen.[7] Auch Berlin hat seinen bis heute andauernden Rüstungskurs nicht erst mit der "Zeitenwende" im Jahr 2022, sondern ebenfalls bereits 2014 eingeschlagen. Die deutschen Rüstungsanstrengung standen zu Beginn allerdings noch nicht unter dem Deckmantel der NATO, sondern im Kontext des nationalen Strategiepapiers "Neue Macht, Neue Verantwortung".[8] Die darin geäußerte Forderung, Deutschlands gewachsene ökonomische Macht müsse in entsprechende politische und militärische Stärke auf globaler Ebene übersetzt werden, war damals in Regierungskreisen wie auch in den heute regierenden Teilen der damaligen Opposition zum Konsens geworden. Neben einem stetig steigenden Wehretat sollte auch damals eine Reform des Beschaffungswesens zur neuen militärischen Macht Deutschlands beitragen. Die 2014 vom Verteidigungsministerium ausgerufene Agenda Rüstung sollte das Beschaffungswesen modernisieren und die nationale Rüstungsindustrie stärken. Seit 2019 erstattet die Task Force Beschaffungswesen regelmäßig Bericht über Fortschritte und Hemmnisse bei der Effizienzsteigerung der Aufrüstungsprozesse.

Nationale Ambitionen, transatlantische Abhängigkeiten

Uneinigkeit herrscht in Berlin trotz des Konsenses über eine beschleunigte Aufrüstung noch darüber, wie stark die neue militärische Stärke Berlins transatlantisch verankert sein soll. Während transatlantische Hardliner Deutschland zur Entlastung der USA bei Konflikten in Europa und zur Stärkung des transatlantischen Blocks aufrüsten wollen, streben Anhänger einer Strategischen Autonomie ein militärisch gestärktes Deutschland im Zentrum der EU an, das in der Lage sein soll, die Abhängigkeit von den USA abzuschütteln. Transatlantiker setzen bevorzugt auf die Beschaffung marktverfügbarer Waffensysteme; in der Regel sind das solche aus den Vereinigten Staaten. Autonomisten dagegen setzen trotz aller Mehrkosten auf Neuentwicklungen im europäischen Rahmen, um den Aufbau einer eigenständigen Rüstungsindustrie voranzutreiben. Unter dem Schlagwort "Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO" gelang es Berlin bislang, den Rüstungskonsens trotz aller Differenzen über die strategische Orientierung zu erhalten. Mit der von Pistorius und Habeck vorangetriebenen Priorisierung marktverfügbarer Lösungen setzen sich die Transatlantiker in dieser Frage durch. An der prinzipiellen Ausrichtung der Bundeswehr auf einen Krieg gegen eine Großmacht ändert dies allerdings nichts.


Anmerkungen:

[1] Manfred Schäfers: Wie Geld schneller zu Waffen wird. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.07.2023.

[2] Beschaffung bei der Bundeswehr: Schnelligkeit hat Priorität. bmvg.de 26.04.2023.

[3] Tagesbefehl: Beschleunigung des Beschaffungswesens. bmvg.de 26.04.2023.

[4] S. dazu Eine neue Epoche der Konfrontation.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9227

[5] New Force Model: Wie Deutschland sich ab 2025 in der NATO engagiert. bmvg.de 25.07.2022.

[6] Vilnius Summit Communiqué. 11.07.2023

[7] S. dazu Einflusskampf im Baltikum.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9289

[8] S. dazu Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6099

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. Juli 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang