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PARTEIEN/091: Renaissance der Politik durch Reform der Parteien (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009

Hinwendung zur Gesellschaft
Renaissance der Politik durch Reform der Parteien

Von Thomas Leif


Die Legitimationsreserven der Parteiendemokratie schwinden. Ohne wirksame Öffnungs- und Reformprozesse wird sich dieser Trend noch verstärken. Unser Autor sieht die Parteien vor 16 wichtigen Herausforderungen.


1. Die Nachwuchsfalle ist die größte Gefahr für die Volksparteien. Ohne eine Frischzellenkur bluten die Parteien langsam aus und verlieren ihre Legitimationsbasis und wichtige Innovationstreiber.

Die chronische Überalterung und geringe Mitwirkungsbereitschaft der Parteien produziert automatisch die Abschottung junger Interessenten. Immer öfter treten nur noch Kandidaten für wichtige Ämter und Mandate an, die in der Politik noch einen Karriereausweg sehen. Immer seltener gibt es Kampfabstimmungen um wichtige Ämter und Funktionen. Immer mehr Kommunalwahllisten in Großstädten, Kreisen und Gemeinden können nicht mehr aus dem Kreis der Parteimitglieder gefüllt werden. Die jahrelang kritisierte Problemlösungsschwäche, die Politikverflechtung der konkurrierenden Kommunal-, Landes- und Bundespolitik und die freiwillige Aufgabe des "Primats der Politik" zugunsten der stillen Dominanz der Wirtschaft führt zu einer Akzeptanzauszehrung. Der politische Preis ist hoch: eine wachsende Distanz zum politischen Betrieb, die Entfaltung einer Misstrauenskultur und eine grundlegende Politikskepsis.


Demokratieentfremdung wird erfolgreich verdrängt

2. Die Sklerose der Volksparteien gefährdet langsam, aber weitgehend unbemerkt die Demokratie und zehrt die Legitimationsreserven der Parteien im parlamentariachen System auf.

Die massive Demokratieentfremdung und Distanz zu den Parteien wird von den Verantwortlichen erfolgreich verdrängt. Eine 2008 von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie förderte dramatiache Demokratiewerte zu Tage: Für 37% der Bürger funktioniert die Demokratie "weniger gut" bzw. "schlecht", 32% sagen "die Demokratie kann unaere Probleme nicht lösen" und ein Viertel hat "mit der Demokratie nichts zu tun". Die politische Klasse verdrängt diese Befunde, der parlamentarische Betrieb würde auch mit weniger Kandidaten und weniger Parteimitgliedern funktionieren.

3. Im Zuge dieses Auszehrungsprozesses verbrauchen die Parteien Zug um Zug ihre im Grundgesetz gesicherte Legitimationsbasis.

Die Privilegien der Verfassung, die den Parteien eine umfassende Mitwirkung in Staat und Gesellschaft garantieren, erfordern im Gegenzug von den Parteien ein stabiles Beteiligungsfundament für die Bürger und eine feste Verankerung von Mitgliederparteien im Volk. Zudem müssen die Parteien den Meinungsbildungsprozess zu zentralen Fragen organisieren und haben eine Bringschuld bei der Bereitstellung von qualifiziertem Personal.

4. Diese Trends sind schon lange bekannt, wurden aber systematisch verdrängt oder kosmetisch "aufgehübscht".

Die Parteispitzen haben sich in einer Wagenburgmentalität eingerichtet. Der Grund: Kleine Gruppen der politisch Mächtigen in den Parteien können ohne spürbare Nachteile weitermachen wie bisher. Politische Konkurrenz durch die jüngere Generation, durch eigenwillige, unabhängige Köpfe, sind den Führungsspitzen lästig. Nichtwähler, Protestwähler, fehlender Nachwuchs oder der Rückzug von einst Aktiven sind keine Krisentendenzen, die sie direkt und persönlich betreffen. Das ist der wesentliche Grund, warum alle Öffnungs- und Reformprozesse der Parteien seit vielen Jahren versanden.


Die Verankerung in der Bevölkerung sinkt

5. Die Parteien in Deutschland leiden unter einem massiven Realitätsverlust. Die Parteirealität vieler Spitzenpolitiker unterscheidet sich fundamental von der Lebensrealität der Bürger und Wähler.

Die Folge: Die Parteien verlieren zunehmend ihre Problemsensorik und ihre Orientierungsfunktion für die Bürger. Die Verankerung in der Bevölkerung sinkt, die Parteien verlieren an politischer Deutungsfähigkeit. Eine Konsequenz: "Das leise Verschwinden der Politik" als "Profilierer der Interpretationsordnung", wie der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld sagte. Die sich vertiefende Kluft zwischen Parteirealität und Lebensrealität der Bürger verlangt grundlegende Anpassungen an die Wirklichkeit, weil andernfalls demokratisch nicht legitimierte Akteure und Lobbykräfte ihren politischen Einfluss noch weiter ausbauen und so die eigentlichen gewählten Volksvertreter - aus der Sicht der Bürger - überflüssig machen.

6. Die Parteien vergeuden zu viel Zeit mit der Konsensfindung und der Konfliktverarbeitung in den eigenen Reihen.

Die Parteien sind zunehmend mit Selbstorganisation und internem Konfliktmanagement beschäftigt und nehmen sich zu wenig Zeit für die notwendige Programmentwicklung und die Klärung grundlegender Positionen. Die Demoskopie und die täglichen Pressemappen werden für Spitzenpolitiker zum "inneren Geländer" und ersetzen den eigenen geklärten Standpunkt. Auf diese Weise verlieren Parteien in der Mediendemokratie ihre Urteilsfähigkeit und ihr persönliches Kraftzentrum und produzieren so ihren eigenen Bedeutungsverlust.

7. Die Parteien schaffen zu wenige echte Entscheidungssituationen, die Meinungsbildung vorantreiben und alle interessierten Akteure zu einer argumentativen Auseinandersetzung zwingen.

Wirksame Teilhabe, auch in den wichtigen Gremien und Vorständen, ist in Parteien der Ausnahmefall. Selbst Parteitage sind zunehmend Teil einer event-orientierten Politikvermittlung, die mit Hilfe professioneller Inszenierung bestimmte vorab bereits abgeklärte Botschaften über die Medien transportieren und eine attraktive Politikshow präsentieren will.

8. Der Leidensdruck zur Durchsetzung von Reformen ist zu schwach.

Die in allen Parteien laufenden zaghaften Öffnungsversuche sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nachwuchsakademien zur Schnellausbildung von aufstrebenden Jungpolitikern ziehen oft die falschen "Karrieristen" an. Ohne Ideale, große Ideen und die notwendige Konflikt- und Einsatzbereitschaft für Positionen und Visionen fehlen zentrale Antriebskräfte für eine gemeinsinnorientierte Politik. Es wächst eine graue, sinnentleerte Funktionärskultur heran, angetrieben von hektischer, tagesgetriebener Symbolpolitik und der Orientierung auf die politische Agenda der Medien. Nur in diesem Klima kann ein "System der Selbstnominierung" für zentrale Führungspositionen wachsen.

9. Parteireformen werden meist technokratisch gedacht und dienen lediglich der Simulation von Aktivität und der Beruhigung in unruhigen Krisenzeiten.

Keine der beschlossenen Reformen, die mehr Partizipation, bessere Information und gesellschaftliche Öffnung versprachen, wurde kontinuierlich und konsequent vorangetrieben. Der Grund: Kein Parteiführer oder Spitzenpolitiker machte bislang das Thema Parteireform zum persönlichen Anliegen - über den Tag hinaus. Denn Parteiführer werden von der Sorge umgetrieben, dass die Veränderung die noch existierenden schwachen "Vereinsstrukturen" nach einem Modernitätsschub ganz wegspülen würden und die Parteien vor dem virtuellen Nichts stünden.

10. Die Politik leidet unter dem Verlust von Typen mit Willen, Charisma und Konfliktbereitschaft.

Erhard Epplers Diagnose "Willy Brandts wachsen nicht auf Bäumen" stimmt. Die ganze, viel erschreckendere Wahrheit aber ist: Typen wie Brandt und andere kämen in den Parteien heute nicht mehr in Spitzenämter. Sie würden unter dem Druck eines massiven Anpassungszwangs früh ausgemendelt. Die größten Aufstiegschancen haben heute Personen, die sich geräuschlos an die jeweilige kleine Führungsschicht - eines Patronats - anpassen und unauffällig die eingeführten Machtsysteme stützen. Aus dieser erkalteten Glut kann kein intellektuelles Feuer entstehen.

11. Das reale Anforderungs- und Aufgabenprofil in der Politik kollidiert mit den Wünschen, Erwartungen und Hoffnungen interessanter, persönlich unabhängiger Kandidaten.

Mit den massiven Anpassungsanforderungen können nur bestimmte Typen leben, denen - mangels anderer Alternativen - ein beruflicher Aufstieg in der Politik in Aussicht gestellt wird. Aus diesem Prozess entsteht auf Dauer ein negativer Ausleseprozeas, der nicht die Besten, sondern eher die Angepassten auf die vorderen Listenplätze bei der Mandatsverteilung befördert.

12. Quereinsteiger haben selten eine Chance in der Politik.

Quereinsteiger werden in ihrer Wirkung und ihrem vermeintlichen Potenzial überschätzt. Echte Öffnungsprozesse in den Parteien, wirksame Teilhabe und qualifizierte Informationen für die Mitglieder sind effizienter und nachhaltiger als öffentlichkeitswirksame Kooptationen bestimmter Images, die über Quer- und Seiteneinsteiger "eingekauft" werden sollen.

13. Die meisten Politiker auf allen Ebenen kennen die Tabus und Lebenslügen des politischen Betriebs.

Die beschriebenen unausgesprochenen Verhaltensweisen gehören zur hidden agenda der Parteien. Die Macht der kleinen Machteliten, die Bedeutung der informellen Kreise, der gewachsene Lobbyeinfluss und Mediendruck auf die Parteien ist vielen Aktiven durchaus bewusst. Diese Einflusszonen werden aber nicht angesprochen, weil der Sanktionsdruck derjenigen, die von diesem System zu profitieren glauben, zu groß ist.


Nur Beteiligung kann Mitwirkung befördern

14. Parteien bieten in der politischen Praxis modernes
Illusionstheater an.

Parteien vermitteln noch den Eindruck, dass sie an den Hebeln der Macht sitzen würden. Tatsächlich existiert das "Primat der Politik" aber nicht mehr. Politiker arbeiten unter dem "Primat der Wirtschaft". Im Dreieck potenter Lobbyinteressen, einflussreicher Regierungsadministration und steuernder Medienakteure versuchen die Parteien mitzuspielen.

15. Die undurchschaubare Informalisierung von Entscheidungswegen - von oben nach unten nach oben - befördert eine closed-shop-Mentalität und löst Loyalitätsbeziehungen und Mitwirkungsoptionen auf.

Viele Parteifunktionäre verhalten sich wie Warlords, die nur ihre eigenen Positionen durchsetzen, bzw. gegnerische Konzepte frühzeitig unterbinden sollen. Diese top-down-Prozesse werden mit einem massiven Autoritätsverlust von führenden Politikern bezahlt, deren Halbwertszeit folglich immer kürzer wird. Auch dieser Prozess der Schnellabnutzung wichtiger Persönlichkeiten birgt ein Gefährdungspotenzial für die Demokratie.

16. Die Flucht ins Ungefähre, die gezielte Unverbindlichkeit und die grassierende Multioptionspolitik verschärfen die Krise. Die Parteien verzichten freiwillig auf die orientierende Kraft einer gründlichen Programmarbeit.

Eine möglichst unpräzise politische Sprache im Vakuum des Sowohl-als-auch und eine Kultur der Nicht-Festlegung fördern die Distanz zur Politik. Wo alles möglich und gleichzeitig unmöglich erscheint, alle Bündnisformationen denkbar sind, wird Orientierung und Identifikation unmöglich. Unterscheidbarkeit und erkennbares programmatisches Profil ist aber die Voraussetzung für Entscheidungsfähigkeit: für gut und böse, richtig und falsch, bezahlbar und nicht bezahlbar.

Fazit: Die Politik darf sich nicht länger den zentralen Konfliktfeldern entziehen. Das Primat der Politik muss wieder der gültige Maßstab in der Demokratie sein. Parteien müssen sich öffnen und die Beteiligung der Bürger mit einem möglichst großen Set an Mitwirkungsmöglichkeiten als durchgehendes Prinzip ihrer Arbeit verankern. Analog zu der erfolgreich durchgesetzten Frauenquote müssen alle Parteien umgehend eine vergleichbare Jugendquote einführen, um sich selbst auf diese Weise einen Demokratieschub zu verordnen. Denn nur Beteiligung kann Mitwirkung befördern.


Thomas Leif (* 1959) ist Chefreporter Fernsehen beim SWR Mainz. Seine jüngste Veröffentlichung: angepasst und ausgebrannt, Parteien in der Nachwuchsfalle, München 2009.
thomas.leif@faberdesign.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009, S. 49-52
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2010