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PARTEIEN/113: Demokratischer Wandel und "kulturelle Hegemonie" (spw)


spw - Ausgabe 4/2012 - Heft 191
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Demokratischer Wandel und "kulturelle Hegemonie"

Von Ernst Dieter Rossmann



Parteien haben in der Demokratie den Auftrag, über Wahlen vermittelt Macht zu erringen. Sie setzen diese demokratisch legitimierte Macht dann im positiven Sinne als Gestaltungsmacht in den öffentlichen Angelegenheiten ein oder sie verkommen zur Verwaltungsmacht eines positivistisch bewerteten Status quo. An diesen zentralen Gestaltungsauftrag von Parteipolitik darf ein Jahr vor einer Bundestagswahl erinnert werden, bei der es ja nicht um den bloßen Austausch von Funktionseliten und den Ersatz einer in sich paralysierten Koalition bürgerlicher Parteien durch eine markt- und mediengängigere neue Parteienkombination gehen kann, sondern das Politische, und das meint die reale klare Alternative zur herrschenden Regierungspraxis, muss wieder eine echte und Menschen mobilisierende Chance bekommen.


Demokratie braucht Alternativen

Auch deshalb darf uns das Beispiel Frankreich ja begeistern und zuversichtlich stimmen, erleben wir hier doch, dass ein sozialistischer Präsident und eine sozialistische Regierung, die das Leben der normalen Menschen zu ihrem Maßstab machen wollen, in ihren ersten Regierungsmonaten zeigen, dass mit Wahlen etwas geändert werden kann bis in die zentralen Machtbereiche von ökonomischer Macht und Verteilung privaten Reichtums und öffentlicher Güter hinein. Gegner diesen Wandels wissen deshalb ja auch noch nicht, ob sie als Sachwalter eines konservativ-neoliberalen Status quo darauf orientieren sollen, diese Veränderungen ganz zu verschweigen oder klein zu reden. Oder ob sie gut daran tun, schon jetzt das unabänderliche Scheitern dieser politischen Alternative an den sogenannten unveränderbaren ökonomischen und sozialen Fakten zu beschwören. Die Angst, dass Wahlen wirklich etwas ändern könnten, ist jedenfalls groß bei denen, die parlamentarische Demokratie an erster Stelle als Fassade für das eigentliche Spiel des finanzmarktgesteuerten Kapitalismus aus den globalen Kulissen heraus begreifen, das sie hinter der Souveränität der Staaten ohne Mitwirkung der Menschen in den realen Demokratien vollziehen wollen.

Weil "Fassadendemokratie", wie sie von Jürgen Habermas, Julian Nida-Rümelin und Peter Bofinger in ihrer jüngsten Streitschrift gegen die Allmacht des Finanzkapitalismus apostrophiert wird, am Besten funktioniert, wenn es kein nachhaltiges demokratisches Bewusstsein und Verhalten gibt, haben Desorientierungsstrategien zum Machterhalt schon eine ebenso lange wie ungute Tradition im Kampf um die politische Herrschaft. Je weniger Menschen an die Chance auf einen wirklichen Politikwechsel glauben und sich aus realer oder suggerierter Erfahrung in der Dichotomie des unten und oben nur noch in der Ausweglosigkeit des ewigen Unten-Seins definieren können, umso weniger haben die Oben um ihre Macht zu fürchten. Und umso mehr wird diese Haltung, dass sich ja letztlich politisch-gesellschaftlich nichts ändern würde, was das eigene Leben zum Besseren verändern könnte, von den einschlägigen Institutionen in Verbänden, Wissenschaft und Medien dann auch nachdrücklich bestätigt in ihrem Wunsch und in ihrem Auftrag, das Oben zu perpetuieren. Denn diese müssen nichts mehr fürchten als die positive Erfahrung eines wirklichen Politikwechsels.


Antonio Gramscis "kulturelle Hegemonie" als aktuelle politische Kategorie

Es war der Gründer der italienischen kommunistischen Partei, Antonio Gramsci (1891-1937), der aus dem faschistischen Gefängnis heraus mit seinem Hegemoniekonzept aufgearbeitet hat, wie Herrschaft nicht nur durch Gewalt und Zwang, sondern auch über die mentale und lebenskulturelle Zustimmung der Beherrschten gesichert bleiben kann. Indem er die Herrschaftsverhältnisse nicht nur aus den ökonomischen Produktions- und Reproduktionsbedingungen ableitete, sondern auch die Regeln und Codes des sozialen und kulturellen Lebens mit einer eigenen politischen Systemqualität ausstattete, erweiterte er für die Linke in ihren verschiedenen Ausdrucksformen sehr nachhaltig das Instrumentarium ihrer politischen Analysen und Veränderungsstrategien. Leitbegriffe wie der der "kulturellen Hegemonie," nach dem Macht sich wesentlich über die als Konsens wirkende Kraft von Ideen und deren institutionelle und mediale Absicherung herstellt und behauptet (Wolfgang Fritz Haug) haben über den reinen Ökonomismus eines sich selbst kastrierenden Unterbau-Marxismus hinausgeführt und die linke Diskussion in ihren verschiedenen Konjunkturen bis in die Gegenwart hinein befördert.

Wie es bei so komplexen Denkern wie Gramsci nur sein kann, verbinden sich mit solchen einzelnen Leitbegriffen aus einem umfassenden Theoriesystem in der Gegenwart dann politisch-praktisch mehr analytische Werkzeuge als aktualisierte tiefengängige politische Theorien. Es ist sicherlich kein Zufall, dass für die Sozialdemokratie nicht zuletzt Peter Glotz, Parteigeschäftsführer bei Willy Brandt und im Gramscischen Sinne ganz gewiss ein Intellektueller, der sich für seine Partei an die vorderste Front begeben hat im Kampf um die Macht, das Konzept der kulturellen Hegemonie positiv für die SPD und die Linke erschließen wollte. Für ihn ging es darum, nach den hart erkämpften ersten sozialdemokratischen Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt und der Sozialdemokratie auf der Höhe ihrer Kraft als Partei mit über einer Million Mitglieder Wege zu finden, deren gesellschaftliche Verankerung und politische Prägekraft zu erhalten.


Die Fragilität in der sozialdemokratischen Reformpolitik

Denn schließlich war es die erste sozial-liberale Reformregierung von Willy Brandt, die gegen alle ökonomischen Probleme in den ersten aufbrechenden Widersprüchen des deutschen Nachkriegs-Kapitalismus nach der konservativen Versteifung des CDU-Staates eine kulturelle Hegemonie nicht nur in der Friedens- und Entspannungspolitik, sondern auch in den sogenannten weichen Politikfeldern von Bildung, Familie, Jugend, Gleichstellung und Bürgerrechten aufbauen konnte. Das Gerechtigkeitstheorem, das die SPD seit ihrer Gründung aus den Klassenauseinandersetzungen der Industrialisierung heraus bewegt, konnte sich dabei in der sozialliberalen Ära-Brandt in der Form der individuellen Gerechtigkeit und Gleichberechtigung politisch umsetzen, weil hier ein neuer gesellschaftlicher Konsens erkämpft und dann auch politisch-rechtlich operationalisiert worden ist. Ungleich schwerer war es dagegen, die andere Seite dieses Gerechtigkeitstheorems, die Form der sozialen Gerechtigkeit in der Frage von Einkommen, Besitz und Verfügung genauso nachhaltig neu zu gestalten, auch wenn es selbst hier wichtige erfolgreiche Reformvorhaben gab wie z.B. beim Ausbau der Betriebsverfassungsgesetzgebung

Voraussetzung hierfür war, dass eine Sozialdemokratie als große integrative Volkspartei der Linken, die sich noch nicht mit einer verfestigten Zersplitterung im gesellschaftlichen Spektrum jenseits der Mitte auseinandersetzen musste, eine FDP zum Partner hatte, die sich als Teil einer allerdings kurzzeitigen sozialliberalen Hegemonie verstand und nicht nur die individell-bürgerrechtliche Dimension von Gerechtigkeit und Gleichheit, sondern auch die solidarisch-ökonomische Dimension zumindest in Teilen mit trug. Durchschlagskraft kann eine erfolgreiche Reform-Agenda im Sinne einer positiven Hegemonie allerdings nur gewinnen, wenn die kulturell-individuelle und die ökonomisch-soziale Agenda von Gerechtigkeitspolitik aufeinander bezogen sind und nicht gegeneinander laufen. Dieses war für die ersten zehn Jahre nach 1969 die Stärke der sozial-liberalen Hegemonie, die dann unter den ökonomischen Widersprüchen der ersten Wachstumskonflikte im Wohlstandsland Deutschland durch die Lambsdorff-FDP endgültig zerbrach. Der langfristigen Aufbau einer neoliberalen Wende, noch kaschiert durch die letzten Übergangsjahre der Regierung von Helmut Schmidt, hatte tatsächlich schon früher begonnen und war nur noch durch den gesellschaftlichen Gegenreflex auf den konservativen Populismus eines Franz Josef Strauß aufgehalten worden. Ob die FDP noch einmal die Chance zu einer solchen linksbürgerlichen Haltung in der Tradition eines Walter Scheel, Werner Maihofer, Ralf Dahrendorf oder Karl Hermann Flach bekommt, sollte im übrigen auch von der SPD-Linken aufmerksam beobachtet werden. Wirklicher Wandel kann gar nicht genug Partner haben.

Es sagt viel über die begrenzte Wirkungsmacht solch einer verkürzten sozialdemokratischen Reform-Agenda aus, dass die Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer auch wieder in dem Bereich nachhaltige Reformmaßnahmen ergreifen konnte, der sich mit den individuell-kulturellen Teilhaberechten von Menschen befasste wie Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, Integration von Ausländern und Zugewanderten, aber auch Bildungschancen und Förderung der frühkindlichen Bildung. Allerdings fehlte auch hier die politische Hegemonie im ökonomisch-sozialstaatlichen Sektor. Vielmehr gab es hier im Gegenteil schon fast im vorauseilenden Gehorsam eine Unterwerfung unter die neoliberalen Paradigmen in Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik. Das sogenannte Schröder-Blair-Papier war der Versuch, aus dieser phantasielosen Anpassung so etwas wie einen politisch-visionären Akt zu machen. wo in Wirklichkeit eine Domestizierung und geistige Entkernung der eigenen Anhängerschaft und der eigenen Partei vollzogen werden sollte. So wurde die Chance vertan auf eine mutige Auseinandersetzung mit den gewandelten Machtverhältnissen und Interessenlagen in der globalisierten Ökonomie und die Erarbeitung einer dialogisch-überzeugenden Modernisierung der Reform-Politik von SPD und B 90/Die Grünen mit Blick auf die Erfordernisse einer Green Economy, die Regulation der sich entfesselnden Finanzmärkte und die Gestaltung von Arbeit, Einkommen und Teilhabe unter den Bedingungen von wachsender Dienstleistung in der Nachfrage und Digitalisierung in der Form der Arbeit.

Weil dieses in der ökonomischen Anpassungslogik von Gerhard Schröder und seinem marktliberalen Umfeld keinen Platz hatte, konnte aus der kulturellen Hegemonie, was den Abbau von elementaren menschlichen Diskriminierungen anging, keine politische Hegemonie werden, die die SPD als historisch führende Kraft der Linken in Deutschland auch zur modernsten linken Kraft in Europa gemacht hätte. Ohne eine Agenda der ökonomischen Veränderung und eine überzeugende Lösung der Verteilungsfrage kann eine sozialdemokratische Kraft bei aller grundsätzlichen Veränderungsbereitschaft in der Bevölkerung auf Dauer nicht bestehen, weil alleine die kulturellen und rechtlichen Beiträge zur Partizipation eben nicht die soziale Lage der Menschen grundlegend verändern und ihre berechtigten Erwartungen an ein besseres Leben über gute Arbeit, nachhaltigen Wohlstand, faire Teilhabe und gesicherte öffentliche Güter befriedigen kann.


Der nachlaufende Konservatismus erfordert klare Alternativen

Dies gilt erst recht dann, wenn der Konservatismus, wie ihn aktuell die CDU unter der Führung von Angela Merkel praktiziert, sich in Fragen der Lebenskultur am Prinzip der nachlaufenden Modernisierung orientiert, d.h. dabei werden jeweils mit einer nach Opportunität gesteuerten Zeitverzögerung Initiativen zur individuellen Gerechtigkeit und Teilhabe aus der immer noch sozial-liberalen hegemonialen Grundströmung dann aufgenommen, wenn sie durch ökonomischen Anpassungsdruck wie z.B. bei der Beschäftigung für Frauen oder bei der verbesserten Kinderbetreuung oder bei der Veränderung des Bildungssystems unabweisbar geworden sind. Das chamäleonhafte dieser Politik von Angela Merkel, das nicht einmal mehr den Anschein einer eigenen konservativen Werte-Agenda im Sinne einer "geistigkulturellen Wende" (Helmut Kohl) formuliert, sichert demgegenüber Macht über Anschlussfähigkeit und verbrämt gleichzeitig die Ignoranz und Interessengeleitetheit im System von Finanzökonomie, Realwirtschaft und Arbeitwelt. Und es macht umso dringlicher für die Kräfte der Linken und an vorderster Stelle die SPD, hier eine reale konzeptionelle und politisch-kulturelle Alternative aufzubauen, wenn durch diese Strategie der oberflächlichen Anpassung des modernen Konservatismus an kulturell-hegemoniale Strömungen einerseits und die Verweigerung von realen Alternativen im ökonomisch-sozialstaatlichen Bereich durch die linken Kräfte andererseits nicht die Demokratie auch als Ort der politischen Alternative grundsätzlich beschädigt werden soll. Die Zivilgesellschaft und die Kraft der Parteien Wenn sich nach Gramsci die Zivilgesellschaft als "der umkämpfte Raum zwischen Staat und Gesellschaft entfaltet" (Mario Candeias), so hat sich dieser Raum seit den Zeiten einer klaren Gegenüberstellung von Klassenstaat und Klassengesellschaft nicht nur erweitert und ausdifferenziert, sondern hat auch gesellschaftliche Aufgaben übernommen und damit aus der elementaren Lebenswelt von Parteien herausgeholt, die in der Entstehungsgeschichte gerade der linken Parteien in Deutschland und Europa deren Identität entscheidend geprägt haben. Es waren die gesellschaftlichen Gegenwelten, die sich in dem umfassenden sozialen Kosmos der Parteien der Arbeiterbewegung genauso abbildeten wie dem der bürgerlichen Schichten und ihrer Parteien.

Auf dem Weg von der Klassenpartei zur Mitgliederpartei zur Mandatsträgerpartei, der sich in der SPD vollzogen hat und den andere Parteien gleich vorrangig als mandatsträgergeprägt begehen, hat dieses dann allerdings dazu beigetragen, dass mit der Abkopplung von den realen Lebenswelten der Parteimitglieder und ihren Gegensätzlichkeiten auch eine Entfremdung von den Lebensproblemen der Menschen stattgefunden hat. Diese bilden sich dann nicht mehr vorrangig in den Parteien ab, sondern in den zivilgesellschaftlichen Organisationen im sogenannten vorpolitischen Raum und sind damit den parteilichen Kämpfen und Klärungen entzogen. Dass dieses nicht zur Vitalisierung der Parteien auch in der Wahrnehmung der Menschen und deren Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an parteipolitischen Prozessen führt, ist evident. Insbesondere die SPD erlebt dieses als Spannung, aus ihrer raison d' être heraus als Partei der sozialen Gerechtigkeit sich immer wieder für die Interessen von Menschen einzusetzen, die sich selbst aus der politischen Partizipation bereits verabschiedet haben und weder als Parteimitglieder noch als Wahlbürger aktuell die eigene Interessenvertretung unterstützen. Zur programmatischen Verpflichtung auf diese Ziele und zur Rückeroberung dieses zivilgesellschaftlichen Raums, wo immer dieses möglich ist, gibt es gleichwohl keine Alternative, wenn Bewegungsparteien wie die SPD nicht absorbiert werden wollen als bürokratischer Teil des Staatsapparates, statt aktiver Gestalter der öffentlichen Angelegenheiten zu sein.


Gegen das Gerede von der politischen Klasse

Umso gefährlicher ist es für linke politische Kräfte wie die SPD, wenn sich die Wahrnehmung von einer ebenso abgeschlossenen wie abgehobenen politischen Klasse, sei es durch reale Strukturen oder gedankenlose Medialisierung und Selbstbeschreibung, breitmacht und festsetzt. Wo die gesellschaftliche Verankerung schwächer wird, ist die Versuchung groß, sich, gleich auf welcher politischen Ebene, in der alltäglichen konkreten Arbeit als Teil einer gemeinsamen "Produktionseinheit von Politik" zu begreifen, statt als Vertretung unterschiedlicher sozialer Lagen und politischer Kulturen. Die parteiliche Identität wird dann durch die parlamentarische Identität überlagert. Die Status-Fragen als Abgeordneter werden zum Gradmesser für den Wert von Demokratie erhoben. Statt Vertreter des Volkes zu sein, mutieren die Mandatsträger zu Angestellten des Staates. In dem Diktum des seinerzeitigern Bundeskanzlers Helmut Schmidt, sich als Kanzler zuvörderst als "leitender Angestellter" für die Bundesrepublik Deutschland zu sehen, schimmerte diese Ablösung von dem demokratischen Auftrag, in der Repräsentanz von Parteien und ihrem Wahlvolk und ihren Mitgliedern politisch gestaltend und Wert setzend zu agieren, schon durch. Einem Willy Brandt wäre dieses Kokettieren mit dem Staat als Unternehmen wohl nie in den Sinn gekommen.

Später in der Blütezeit neoliberaler Wirtschaftsgläubigkeit sollte es dann ja nachgerade zur Mode werden, Regierungsberichte zu Geschäftsberichten zu erklären, als ob gutes Regieren in der Demokratie sich in Umsatzgrößen abbilden lassen könnte und Staats- oder Stadt-Bürger das gleiche wie Kunden wären. Der direkte anstands- und bedenkenlose Weg aus der politischen Verpflichtung auf die Verantwortung für die res publica hinein in die wirtschaftliche Welt des Partikularinteresses und des materiellen Eigeninteresses ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Schröder, Clement, Bury, Tacke stehen beispielhaft nicht nur für eine Regierung im Grenzgängertum von Staat und Wirtschaft, sondern auch für eine Phase im Leben dieser sozialdemokratischen Partei, in der ihre stolze Geschichte als solidarische Bewegung der vielen gegen politische Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung fast durch ein neues Leitbild von der Managementtauglichkeit überschattet worden wäre.


Was ist ein sozialdemokratisches Leben?

Was ist daran noch sozialdemokratisch, wurde und wird mit Recht gefragt. Wo sich ein sozialdemokratisches Leben in der Gegenwart anders als in den Gründungs- und Aufbaujahren der Arbeiterbewegung nicht wie von selbst für die Beteiligten und die Beobachter ergibt, wird es in der modernen Zeit der SPD als Werte-, Aktions- und Parlamentspartei umso dringlicher, nach innen wie nach außen wahrnehmbare Kernpunkte und glaubwürdige Identifikationsmerkmale einer sozialdemokratisch geprägten Lebenskultur immer wieder neu zu definieren und zu beleben. Dieses macht schließlich auch die Strahlkraft von neuen präsumtiv linken Parteien aus. So haben die Grünen einen ökologischen Lebensstil in die Auseinandersetzung um die politische Prägung der Gesellschaft eingebracht. Die Linkspartei betreibt dieses jedenfalls vom Anspruch her über die Beteiligung an den realen betrieblichen und sozialen Auseinandersetzungen der abhängig Beschäftigten, wo immer sie hierzu Zugang haben. Und die Piraten schließlich wollen im Versuch digital gestützter Totaltransparenz nicht nur einen neuen Politikstil, sondern auch einen anderen kommunikativen Lebensstil aufnehmen und politisch umsetzen. Gleiche Ansprüche an die Sozialdemokratie zu richten, mag im 150. Jahr ihres Bestehens befremdlich wirken, wo doch die Partei eine politische Lebensgeschichte und vielfach auch Leidensgeschichte hat, die immer auch individuelle Lebensgeschichte ihrer Parteigänger gewesen ist. Nur wenn die SPD als Leitpartei der Linken in der Gesellschaft für die Zukunft weiter prägend und bindend im positiven Sinne einer kulturellen Hegemonie sein will, wird sie sich auch diesen Fragen nach einem neuen sozialdemokratischen Leben zu stellen haben. Die Linke in der SPD sollte diese Diskussion jedenfalls selbstkritisch eröffnen.


Dr. Ernst Dieter Rossmann ist Bundestagsabgeordneter, Mitherausgeber der spw und Sprecher der Parlamentarischen Linken

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2012, Heft 191, Seite 35-39
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2012