Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


PARTEIEN/145: Autoritäre Milieus, autoritäre gesellschaftliche Lager und Parteipräferenzen im Wandel? (spw)


spw - Ausgabe 3/2015 - Heft 208
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Autoritäre Milieus, autoritäre gesellschaftspolitische Lager und Parteipräferenzen im Wandel?
Biedermann und die Brandstifter(1)

von Max Reinhardt


"Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen" (Marx 1959 [1852], S. 226).(2)

"Alle Klassen und Parteien hatten sich während der Junitage (Anm.: 1848) zur Partei der Ordnung vereint gegenüber der proletarischen Klasse, als der Partei der Anarchie, des Sozialismus, des Kommunismus. Sie hatten die Gesellschaft 'gerettet' gegen 'die Feinde der Gesellschaft'. Sie hatten die Stichworte der alten Gesellschaft, 'Eigentum, Familie, Religion, Ordnung', als Parole unter ihr Heer ausgeteilt und der konterrevolutionären Kreuzfahrt zugerufen: 'Unter diesem Zeichen wirst du siegen!'" (Ebd., S. 234)

Einleitung

Der vorliegende Artikel arbeitet als Habitus-Feld-Studie nach Bourdieu, um das Entstehen von AfD und Pegida zu erklären. Es handelt sich um ein Zusammenspiel eines politischen Repräsentationsvakuums im Sinne einer politischen Repräsentationskrise, so die Hauptthese, im rechten Lager und von Menschen, die sowohl aufgrund ihrer habituellen Dispositionen als auch ihrer Klassenlage zur Verarbeitung einer gesellschaftlichen Krise durch das Ausleben von Ressentiments neigen.

Feldbedingungen: Krisen und autoritäre Verarbeitungs- und gesellschaftspolitische Repräsentationsformen

Das politische Feld ist ein Kräftefeld (Bourdieu 2001 [1999a], S. 35), in dem um "Klassifizierungen" gekämpft wird; für Bourdieu sind diese Konflikte die Klassenkämpfe (Bourdieu 2001 [1999b], S. 55).

Zwar steht anders als 1847/48 keine Revolution bevor und die Krisenentwicklungen weisen zahlreiche Unterschiede zur heutigen Situation auf. Jedoch ist es auffällig, dass auch heute eine Reaktion von Teilen der Rechten auf die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 erfolgt und zwar europaweit (siehe z. B. Bischoff/Gauthier/Müller 2015; Forschungsgruppe Europäische Integration 2012).

In den letzten Jahren wird der neoliberale Ordnungsrahmen des europäischen Monetarismus und Austeritätskurses beständig in Frage gestellt: durch Konjunkturpakete, durch immer wieder notwendig werdende Kredite vor allem an Griechenland, durch Aufkäufe von Bankschulden usw. Auch Union und FDP mussten in ihrer Regierungszeit (2009-2013) von dieser Politik immer wieder abweichen - trotz anderer grundsätzlicher Positionierungen in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen.

Es handelt sich hierbei allerdings keineswegs um ein grundsätzliches (und keineswegs um einen linken Pfadwechsel), sondern um ein krisenbedingtes Abweichen der bisherigen Politik von Austerität und Monetarismus, allerdings unter Ausnutzung aller Möglichkeiten, der Austeritäts- und Monetarismuspolitik - auch zum Leiden der griechischen Bevölkerung durch massive Kürzungen im Sozialetat. Gleichzeitig führen vor allem die immer wieder notwendig werdenden Kredite für Banken und EU-Mitgliedstaaten, aktuell vor allem für Griechenland zur Verunsicherung. Stellvertretend hierfür steht zum Beispiel der Unionspolitiker und Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach, der immer wieder sorgenvoll davor warnt, diese Politik fortzusetzen, weil er die hohen Summen nicht mehr verantworten könne. Diese Sorge reduziert wirtschaftliche und finanzpolitische Komplexität auf die Sorge vor einer hohen Verschuldung, angesichts der hohen Summen, die immer wieder als Kredite vergeben werden müssen. Die Kehrseite, nämlich die Notwendigkeit, mit neuen Investitionen neue Werte zu schaffen, wird hierbei einfach ausgeblendet, ebenso wie die erheblichen sozialen Einschnitte, die in Griechenland zur hohen Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Armut geführt haben.

Autoritäre Dispositionen und Klassenlage

Das Messen autoritärer Einstellungen darf nicht allein auf antidemokratische Haltungen reduziert werden, sondern sollte, wie auch in den Untersuchungen "Studien zum autoritären Charakter" (Adorno 1973 [1950]) geschehen, sowohl den psychologischen Charakter, die alltägliche Lebensführung und die ideologischen Einstellungen umfassen, wie sie im Konzept des Habitus enthalten sind. Die spätere Reduktion in vielen Analysen autoritärer Einstellungen auf die Faschismus-Skala war eine Verengung auf eine Analysedimension des Syndroms, die zudem noch die Feldlogiken ausblendete (siehe Vester 2003).

Der Habitus ist demgegenüber "eine tiefere allgemeinere Grundhaltung gegenüber der sozialen Welt, die die Dimensionen des Geschmacks und des Lebensstils, der körperlichen und emotionalen Haltungen, der Muster sozialer Praxis und Beziehungen und ebenso die Mentalität und ideologische Weltsicht zusammenfasst" (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001, S. 162). "Verbindend ist das Gewohnte ('ethos') beziehungsweise eine gemeinsame grundlegende Haltung ('hexis', 'habitus'), die sich im Zusammenleben nach und nach entwickelt hat" (ebd., S. 168 f.).

Autoritäre Habitus haben lange Traditionslinien, bspw. zum feudalen Denken. Ihre Ausformungen der alltäglichen Lebensführungen sowie ihrer ideologischen Einstellungen und Parteipräferenzen sind abhängig von der Entwicklung der Felder (siehe Vester 2003). Für diesen Artikel nehme ich vor allem die soziale Umwelt (Milieu), das ökonomische und das politische Feld sowie das Feld der Bildung in den Blick.

Die Zunahme rechtspopulistischer Wähler und Akteure kann zwar durch kollektive Abstiegserfahrungen oder aber durch die Irritation habitueller Einstellungen bedingt sein, wenn sich Feldbedingungen so ändern, dass sie moralischen Alltagseinstellungen oder/und gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen widersprechen (siehe Bourdieu 1987 [1979], S. 707-726; zur Unterscheidung von Alltagseinstellungen und gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen siehe auch Vester u.a. 2001, S. 16-25). Nicht allein die vertikale, sondern auch die horizontale Strukturierung des sozialen Raums ist entscheidend.

Konventionelle und autoritäre Einstellungen finden sich vor allem unter den "Angehörigen der ständisch-kleinbürgerlichen Traditionslinie"(3) mit einem konservativ-hierarchischen Familien-, Berufs- und Politikbild. Sie sind "überwiegend kleine Beschäftigte und Selbstständige in traditionellen Berufen" mit "bescheidenen materiellen und kulturellen Ressourcen". Viele von ihnen zählen zu den Modernisierungsverlierern und eine Fraktion hat bereits resigniert (5,5 Prozent der Bevölkerung). 14,3 Prozent zählen zum Statusorientierten Kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu. Vor allem die jüngere Generation (3,6 Prozent) hat sich modernisiert und sie vertreten eine, wenn auch beschränkte, Gleichberechtigung von Frauen und Migranten (Vester 2013, S. 69, 72). Das ostdeutsche Pendant sind das "'Status- und karriereorientierte Milieu'" mit etwa 5 Prozent der Bevölkerung bestehend "hauptsächlich aus der früheren Funktionärsschicht der DDR" mit "einer kritiklosen Identifikation mit marktwirtschaftlichem Ellenbogendenken" (ebd., S. 538) und das "'Moderne Bürgerliche Milieu'" mit etwa 10 Prozent der Bevölkerung mit ähnlichen Einstellungen wie die des Modernen Kleinbürgerlichen Milieus in Westdeutschland (ebd., S. 539).

Die konservativen Milieus der Traditionslinie "Macht und Besitz" (Gehobenes Bürgerliches (4,3 Prozent) und Gehobenes Kleinbürgerliches Milieu (2,8 Prozent)) mit hochqualifizierten Management- und freien Berufstätigkeiten haben einen ausgeprägten und herrschaftlichen Anspruch auf Führung, Disziplin und Hierarchie (ebd., S. 69, 71). In Ostdeutschland wurden, laut einer hypothetischen Ausarbeitung von noch nicht repräsentativen Daten aus dem Jahr 1991, auch die sozialen Milieus herausgearbeitet. Zwar wurden "große Teile der alten besitzenden und kulturellen Oberschicht verfolgt, außer Landes getrieben oder deklassiert" (ebd., S. 527). Zu vermuten ist aber, dass sich mittlerweile auch ein Pendant zu den konservativen Milieus herausgebildet haben dürfte. 1991 war es das "Rationalistisch-Technokratische" (1991) bzw. ab 1997 vom Sinus-Institut als das "DDR-verwurzelte" (Spiegel Verlag 1998) bezeichnete Milieu mit etwa 7 Prozent der Bevölkerung bestehend aus "Angestellten, Beamten und Selbstständigen mit hohen Bildungsabschlüssen, die leitende Positionen in Staat und Wirtschaft einnahmen und hohe Einkommen hatten. Geringer vertreten waren Freiberufler und hohe und höchste Einkommen." Typische Einstellungen sind "das hohe Arbeitsethos, das Karriere- und Perfektionsstreben und das Elitebewusstsein (kennzeichnend). Während diese Haltung sich im Westen inzwischen mit flexiblen Führungsstilen und individualisierten Lebensweisen verbindet, ist sie im Osten in ein konventionelles Pflichtethos ('Erfolg als Pflicht') eingebaut und in die konformistische Maxime, sich pragmatisch anzupassen, wenn dies nötig sei" (ebd. 529).

Auch Teile der Traditionslosen Milieus (11 Prozent) mit geringer Qualifikation und in geringbezahlten Berufen haben autoritär, konventionelle Einstellungen: so vor allem die Statusorientierten (3 Prozent), aber auch Teile der häufig auch gewerkschaftsorientierten Resignierten (6 Prozent).

Auch ein Teil der stärker partizipatorisch eingestellten Facharbeitermilieus hat habituell konventionell-autoritäre Einstellungen: ein Teil des Traditionellen Arbeitermilieus (5,1 Prozent) der älteren Generation und eine kleine Teilfraktion des Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus (17,7 Prozent) der mittleren Generation verarbeiten ihre Ausgrenzungs- und Abstiegserfahrungen stärker autoritär-konventionell als der Großteil der facharbeiterischen Milieus (insgesamt 34,5 Prozent) (ebd., S. 69, 71).

Vor allem die Kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus bilden mit Teilfraktionen der Macht- und Besitz-Milieus, der Statusorientierten und Resignierten Traditionslosen, des Traditionellen Arbeitermilieus und des Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus das Enttäuscht-Autoritäre Lager (ca. 27 Prozent). Vester beschreibt es wie folgt:

"Es vereint Verlierer der ökonomischen Modernisierung, die vor allem aus den kleinbürgerlichen und unterprivilegierten Milieus stammen, insbesondere ältere und teilweise auch jüngere Menschen mit wenig Bildungskapital und unsicheren Zukunftsperspektiven. Sie verarbeiten ihre Ausgrenzung - anders als die demokratische Mitte - nach autoritärem Muster, mit Ressentiments gegen Ausländer, alles Moderne und die Politiker, die ihre Fürsorgepflichten vernachlässigen. Sie wollen gegen die Risiken des Strukturwandels durch eine protektionistische Wirtschaftspolitik und eine restriktive Zuwanderungspolitik geschützt werden. [...] Ihrem Habitus nach stehen sie den Rechtspopulisten nahe. Aus Realismus haben sie aber traditionell meist die großen Volksparteien gewählt, weil diese faktisch mehr für sie tun können. Bei Enttäuschungen können sie, wegen der fehlenden inneren Bindung, aber auch vergleichsweise rasch von der SPD zur CDU/CSU (oder umgekehrt), zu den Nichtwählern oder den Rechtspopulisten wechseln. Regionalwahlen zeigen, dass - wie in anderen Ländern Europas - rechtspopulistische Parteien hier fast 20 Prozent Proteststimmen gewinnen können. Auch Vertreter der 'demokratischen Parteien' sind der Versuchung ausgesetzt, diesen rechtspopulistischen Wählerpotentialen entgegenzukommen. Immer wieder gibt es im altkonservativen Spektrum der Union und auch der Sozialdemokratie Anzeichen einer Sehnsucht nach dem starken Mann, der mit dem schwerfälligen Durcheinander der Interessengruppen aufräumen soll" (Vester 2013, S. 79 f.).

AfD und Pegida(4): Wiederkehr des Alten? Politische Repräsentanten der Enttäuscht-Autoritären?

Das Erstarken der rechtspopulistischen Bewegung Pegida in Dresden (und weiteren häufig noch extremeren Ablegern) mit Anleihen bei den Montagsdemonstrationen (siehe Daphi/Kocyba/Roose u.a. 2015) und der AfD ging mit dem Niedergang der FDP einher, die bei den meisten Wahlen, auch zum Bundestag, die 5 Prozent-Hürde nicht erreichte. Historisch finden sich hierfür Parallelen zum Niedergang der liberalen Parteien in der Weimarer Republik, die bei den Reichstagswahlen 1932 nicht einmal mehr 3 Prozent mobilisieren konnten. Sie hatten ihre "politische Integrationskraft" verloren (Lepsius 1993 [1966], S. 34). Es war vor allem die NSDAP, die Bauern, Beamte, Angestellte und Studierende mobilisieren konnte und zwar durch ihren Antisemitismus, ihren Antimarxismus, ihr Forderung nach "Führung im Staat", ihre Kritik am Parlamentarismus und auch ihren ständisch-nationalistischen Sozialismus (Geiger 1930, S. 649 ff.). Die NSDAP errang die Macht im Bündnis mit den ebenfalls antidemokratischen Deutschnationalen, Altkonservativen (Monarchisten und ihren Generälen wie Hindenburg) und den (erz-)konservativen Katholiken (Papen, Brüning), deren gemeinsames Ziel, trotz aller Unterschiede, die (Wieder-)Herstellung einer hierarchischen Ordnung war (siehe z. B. Lepsius 1993 [1971], S. 85; zu Hindenburg siehe z. B. Pyta). Die "Panik im Mittelstand", wie Geiger provokativ trotz seiner Kritik am Begriff "Mittelstand" formulierte, oder genauer im Alten (Bauern, Handwerker und Kleinhändler) und Neuen Mittelstand (Angestellte) war tatsächlich nicht nur vorübergehend wie Geiger (1930) noch vermutete. Sie hielt länger an, weil die Integration durch die demokratischen Parteien misslang, während in der Bundesrepublik Union und SPD auch große Teile des gesellschaftspolitischen Lagers der Enttäuscht-Autoritären immer wieder integrieren konnten.

Mittlerweile sind zu Pegida zahlreiche Untersuchungen durchgeführt worden (Überblick dazu siehe Reuband 2015). Es handelt sich dabei allerdings im Wesentlichen um Befragungen zu ausgewählten politischen Einstellungen und sozialstatistischen Daten, sodass eine umfassende Habitusstudie noch aussteht. Zudem bleibt die Auswahl der Befragten auch beschränkt, weil vor allem die extremer eingestellten Anhänger sich, so ist zu vermuten, in der Regel seltener befragen lassen. In allen Studien wird jedenfalls deutlich, dass nicht die "Abgedrängten" oder "Abgehängten" demonstrieren, sondern Einkommens- und Berufsstatistiken weisen darauf hin, dass es sich vor allem um mittlere soziale Milieus handeln dürfte.

Am umfassendsten hat die Studie von Daphi, Kocyba, Roose u.a. (2015) die politischen Einstellungen untersucht, aber auch hier fehlen Alltagseinstellungen. Die Selbsteinschätzung als politische Mitte (48,7 Prozent) stellt erneut den Begriff in Frage, zumal gerade die bürgerliche Mitte (Stichwort "Panik im Mittelstand" (Geiger 1930)) extrem rechts wählen kann, ohne sich selbst für extrem zu halten. Aber auch bei der Selbsteinstufung überwiegt auf der Skala neben der Mitte die Selbsteinstufung als "rechts" (33,8 Prozent). Die Selbsteinstufungen als "links", "extrem links", "extrem rechts" und "Keine Position auf dieser Skala" werden dagegen vergleichsweise wenig angekreuzt (Daphi/Kocyba/Roose u.a. 2015, S. 8). Die parteipolitische Präferenz für die AfD ist sowohl bei der Bundestagswahl 2013 als auch bei der Landtagswahl Sachsen 2014 am höchsten. Bei der Bundestagswahl 2013 gefolgt von den NichtwählerInnen (21 Prozent), der Union (17 Prozent) und der Partei die Linke (12 Prozent). Bei der Landtagswahl in Sachsen 2014 folgen die Union (18 Prozent), die NichtwählerInnen (12 Prozent) und die Partei Die Linke (5 Prozent) (ebd., S. 9). Deutlich wird auch, dass zwar die Befragten die Demokratie befürworten, die Aussage, aber, dass die Demokratie in Deutschland gut funktioniere, überwiegend (41,4 Prozent) oder völlig ablehnen (28,4 Prozent) und sich mehrheitlich selbst auch nur wenig Einfluss auf die Arbeit der Regierung einräumen (ebd., S. 11). Auch das Ressentiment gegenüber Migranten und Frauen wird bei einer klaren Mehrheit der Befragten deutlich. 13,7 Prozent der Befragten stimmen der Behauptung, dass die "wachsende Spaltung zwischen Reichen und Armen" nicht besorgniserregender als "die Frage von Asylbewerbern und Migranten" sei und 30,8 Prozent stimmen eher nicht zu (ebd., S. 12). 9,7 Prozent der Befragten stimmen der Aussage, "Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden" zu und 26,8 Prozent stimmen teils zu/teils nicht zu, während über 28,5 Prozent der Aussage zustimmen und 35 Prozent teils zu-/teils nicht zustimmen, dass sie sich "durch die vielen Muslime [...] manchmal wie ein Fremder im eigenen Land (fühlen)" (ebd., S. 14). Insgesamt sind rechtsautoritäre, chauvinistische, NS-verharmlosende, ausländerfeindliche und antisemitische Einstellungen auch im Vergleich zur FES-Studie, die Einstellungen der Gesamtbevölkerung repräsentativ untersucht hat, deutlich überrepräsentiert (ebd., S. 13).

Die Strömungen der AfD sind nationalliberal mit einem Marktradikalismus zu Gunsten der wirtschaftlichen "Eliten" (der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, der mittlerweile aus dem AfD-Bundesvorstand wieder zurückgetreten ist), nationalkonservativ mit einer Präferenz für hierarchisch-traditionelle, in einem Wort alte Ordnungen (der altkonservative und ehemalige rechte CDU-Politiker Alexander Gauland) und rechtspopulistisch mit zunehmend religiös verpackten rassistischen Vorurteilen (der rechtspopulistische, islam- und ausländerfeindliche Björn Höcke der AfD Thüringen) (Häusler/Roeser 2015, S. 13-27).

Die kleine Auswahl von Strömungen und Einstellungen legen nahe, dass sich die Milieu- und gesellschaftspolitischen Lagerstudien (Vester 2013) bestätigen lassen könnten. Denn die (klein-)bürgerliche Mitte scheint sich verunsichert zu fühlen und diese Verunsicherung über Ressentiments zu verarbeiten. Die Verunsicherungen sind kollektiv, denn gerade der "Alte Mittelstand der kleinen Landwirte, Kaufleute und Handwerker (ist) von etwa 25 Prozent auf weniger als 5 Prozent der Bevölkerung geschrumpft". Teile der kleinbürgerlichen Milieus zählen aufgrund ihrer geringeren Bildung und Einkommen zu den Modernisierungsverlierern (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001, S. 41; siehe auch Vester 2013). Die Dynamiken des sozialen Raums werden dann für die eigene Lage verantwortlich gemacht: Höherqualifikation, Emanzipation, Teilhabe und der Druck auf das soziale Leben durch zunehmende Flexibilisierungsanforderungen (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001, S. 74-92). Anders als vor allem in den moderneren Arbeitnehmermilieus werden diese Dynamiken nicht befürwortet, sondern abgelehnt und nicht mehr Solidarität eingefordert, sondern es wird dem Abbau von Solidarität das Wort geredet (Vester 2013, 70 f.). In diesem Sinne unterscheidet sich "der Korpus moralischer Regeln" (Durkheim 1981, S. 56) der Kleinbürger von dem der facharbeiterischen Arbeitnehmer.

Die Moral der Kleinbürger beschreibt Daniel Dravenau (2001, S. 462 ff.) mit Verweis auf Bourdieu (ausführlich zu den Habitusstudien siehe z. B. 1987 [1979] und unter Berücksichtigung von Adornos Studien zum autoritären Charakter (1973 [1950]) als Prätentionshabitus mit einer rigorosen Moral der Restriktion und Repression zur Selbst und Fremddisziplinierung mit dem Ziel der Anerkennung. Die oberen Milieus von Besitz und Macht hingegen pflegen einen Distinktionshabitus und legitimieren sich selbst als "wahre Hüter, Priester und Schöpfer des hochkulturellen Erbes" mit einer Abscheu vor dem Einfachen, Schlichten, Armen.

Die Milieus der facharbeiterischen Traditionslinie (insgesamt ca. 35 Prozent) suchen sich seltener einen schwachen Sündenbock und sind machtkritischer. Sie fordern Teilhabe ein statt Ausgrenzung, ebenso wie die oberen Milieus der Akademischen Intelligenz (insgesamt ca. 8 Prozent) Inklusion fordern und ihr Distinktionsstreben stärker zur "kulturelle(n) Hegemonie" statt für Status und Besitz ausleben (Vester 2013, S. 69 ff.). Die autoritäre Basta-Politik von Schröder mit Sprüchen wie "Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus und zwar schnell" (Schwarz 2010, S. 27) hat bei diesen Milieus eher zur Ablehnung geführt, weil sie einen Umgang auf Augenhöhe und Inklusion einfordern, statt pauschal auszugrenzen. Das Zurückfallen in feudale Verhaltensweisen hat auf Bundesebene daher auch zur Krise der politischen Repräsentation der Spitzenpolitik geführt, die sich auf die Macher- und Managertypen um Schröder und Gabriel verengt hat (Reinhardt 2011; zu diesem Typus siehe auch Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001, S. 39). Ein Festhalten an dieser Politik mit einer rigiden Sicherheits- und Innenpolitik wäre jedenfalls ein erneuter Affront für die aufgeklärten Milieus.(5)

Schlussfolgerung

Das Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien wird nicht von einem politikverdrossenen Prekariat, sondern vor allem von kleinbürgerlich und bürgerlich Enttäuscht-Autoritären mit veralteten Ressentiments getragen. Dieses Phänomen ist nicht neu und auch nicht nur für Deutschland typisch. Vielmehr sind die parteipolitischen Bindungen vor allem der Enttäuscht-Autoritären geringer ausgeprägt. Auch ist es Pegida und der AfD bei weitem nicht gelungen, das Potential der Enttäuscht-Autoritären auszuschöpfen, obwohl sie ein Bündnis aus unterschiedlichen Strömungen repräsentieren, die vor allem ihre Demokratieskepsis und ihre Ressentiments gegenüber Frauen und Migranten sowie eine Vorliebe für eine hierarchische Ordnung gemeinsam haben.

Die linken Parteien dürfen nicht den Fehler begehen zu glauben, dass sie die Enttäuscht-Autoritären ernsthaft repräsentieren können. Zwar kann es ihnen gelingen, sie durch Integrations- und Teilhabeangebote zu gewinnen und an sich zu binden. Jedoch stehen Partizipation und Integrationsangebote immer auch in einem Gegensatz zu den Ausgrenzungsvorstellungen und Ressentiments der Enttäuscht-Autoritären. Die Orientierung an einer nebulösen Mitte verleitet allzu schnell dazu zu meinen, dass auch die Enttäuscht-Autoritären zur politischen Wählermitte von linken und von Mitte-Links-Parteien zählen würden. Auch wenn sich Teile von Pegida selbst zur Mitte zählen und auch in mittleren sozialen Lagen und Milieus zu verorten sind, so heißt es nicht, dass sie nicht auch ressentimentgeladen sind. Daher dürfen linke Parteien diesen Demonstranten nicht hinterherlaufen, sondern müssen kritisch aufklären. Die AfD hat mit der Rückkehr zu einer alten, hierarchischen, traditionellen Ordnung des Marktes und der Gesellschaft rückwärtsgewandte Antworten.

Eine partizipatorische Demokratiebildung und auch -erziehung ist allerdings immer noch hochaktuell und darf nicht durch Rechtspopulismus ersetzt werden. Die sozialen Dynamiken der Höherqualifikation, Emanzipation, Teilhabe und Flexibilisierung könnten dazu genutzt werden, um einen Pfadwechsel hin zu einer solidarischen Gesellschaft zu erkämpfen, statt aus Angst vor der Zukunft in feudal-autoritäre Ordnungsvorstellungen zurückzufallen und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Migranten durch Ressentiments anzuheizen (zur solidarischen Gesellschaft siehe z.B. Reinhardt/Stache 2014).


Dr. Max Reinhardt promovierte an der Universität Hannover mit dem Buch "Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei" und ist Autor zahlreicher Texte zur SPD und ihrer Flügel.


Anmerkungen

(1) Der Teiltitel des Artikels Biedermann und die Brandstifter ist der Titel eines Dramas von Max Frisch, an das hier bewusst erinnert werden soll.

(2) Huke, Meyerhöfer, Pilger und Römer (2012) ziehen dieses Zitat heran, um auf die Veränderbarkeit von Strukturen hinzuweisen. Die Strukturen sind jedoch nicht beliebig veränderbar, sondern hängen vom Kräftefeld ab (Bourdieu 2001 [1999], S. 35).

(3) Vester u.a. (2001, S. 222) haben die Ergebnisse der "mit Unterstützung verschiedener Forschungsstiftungen" "im Sommer 1991 vom Forschungsinstitut 'Marplan'" durchgeführten Befragung "Gesellschaftlichpolitische Milieus in Deutschland" interpretiert und eine Milieukarte mit fünf identifizierten Traditionslinien erarbeitet. Es ist eine "Weiterentwicklung der ursprünglichen Typologie des 'Sinus'-Instituts auf der Grundlage der Theorie Bourdieus und eigener Forschung" (ebd., S. 34, Fn. 2, S. 503, zu den Forschungen des Sinus-Instituts siehe z. B. SPD 1984, Becker/Becker/Ruhland 1992 und Flaig/Meyer/Ultzhöffer 1993, Spiegel Verlag/manager magazin 1996 und Spiegel Verlag 1998). Die Daten für Westdeutschland aus 1995 und aus Ostdeutschland aus 1997. Auch aktuellere Projekte bestätigen die Grundaufteilung des sozialen Raums (siehe z. B. Vester 2007).

(4) Alternative für Deutschland und Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes.

(5) Zu hoffen ist, dass das von Gabriel bereits angekündigte Papier Starke Ideen für Deutschland 2025 nicht ein Rückfall in die Zeiten des Innenministers Schily sein wird, der seinem Vorgänger Kanther (CDU) nacheiferte, statt eine liberale Innenpolitik zu vertreten.


Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W. 1973 [1950]: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M.

Becker, Ulrich/Becker, Horst/Ruhland, Walter 1992: Zwischen Angst und Aufbruch. Das Lebensgefühl der Meinungs- und Marketingforschung, In: E. S. O. M. A. R.-Kongress 1982, Bd. 2, S. 247-267).

Bischoff, Joachim/Gauthier, Elisabeth, Müller, Bernhard 2015: europas rechte. das konzept des »modernisierten« rechtspopulismus, Hamburg.

Bourdieu, Pierre 1987 [1979]: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre 2001 [1999a]: Pierre Bourdieu im Gespräch mit Philippe Fritsch, In: Pierre Bourdieu 2001: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz, S. 29-40.

Bourdieu, Pierre 2001 [1999b]: Das politische Feld, In: Pierre Bourdieu 2001: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz, S. 41-66.

Daphi, Priska/Kocyba, Piotr/Roose, Jochen, Rucht, Dieter, Zajak, Sabrina mit Unterstützung von Scholl, Franziska/Sommer, Moritz, Stuppert, Wolfgang/Teune, Simone 2015: Handout zur Pressekonferenz am 19.1.2015 im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung zum Thema Protestforschung am Limit: Eine soziologische Annäherung an Pegida, Berlin, online abgerufen am 26.06.2015:
www.wzb.eu/sites/default/files/neu_handout-final-pk.pdf

Dravenau, Daniel 2002: Herablassung, Rigorismus, Konformität. Klassenhabitus und autoritärer Charakter, In: Uwe H. Bittlingmayer/Jens Kastner/Claudia Rademacher (Hg.): Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus, Opladen, S. 447-471.

Durkheim, Emilé 1981 [1912]: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M.

Flaig, Berthold Bodo/Meyer, Thomas/Ueltzhöffer, Jörg 1993: Alltagsästhetik und politische Kultur, Bonn.

Forschungsgruppe Europäische Integration (Hg.) 2012: Rechtspopulismus in der Europäischen Union.

Geiger, Theodor 1930: Panik im Mittelstand, In: Die Arbeit. Zeitung für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde 10/1930, S. 637-654.

Häusler, Alexander/Roeser, Rainer 2015: Die rechten: 'Mut'-Bürger. Entstehung, Entwicklung, Personal & Positionen der Alternative für Deutschland, Hamburg.

Huke, Nikolai/Meyerhöfer, Andreas/Pilger, Aljoscha/Römer, Oliver 2012 Rechtspopulismus in der Europäischen Union. Einleitung der Herausgeber, In: Forschungsgruppe Europäische Integration: Rechtspopulismus in der Europäischen Union, Hamburg, S. 7-12.

Lepsius, Mario Rainer 1993 [1966]: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, In: ders.: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen, S. 25-50.

Lepsius, Mario Rainer 1993 [1971]: Machtübernahme und Machtübergabe. Zur Strategie des Regimewechsels 1918/1919 und 1932/1933, In: ders. (Hg.): Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen, S. 80-94

Marx, Karl 1959 [1852]: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin, S. 226-318.

Pyta, Wolfram 2007: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München.

Reinhardt, Max 2011: Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei, Baden-Baden.

Reinhardt, Max/Stache, Stefan 2014: Solidarität als Lernprozess. Voraussetzungen und Möglichkeiten einer solidarischen Gesellschaft, In: Max Reinhardt/Stefan Stache/Stephan Meise (Hg.): Progressive Mehrheiten mit der SPD? Für eine Politik jenseits der Neuen Mitte, S. 55-80.

Reuband, Karl-Heinz 2015: Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Frage, In: MIP 2015, 21. Jg., S. 133-143.

Schwarz Tobias 2010: Differenzmarkierungen im Ausweisungsdiskurs. Zur medialen wie politisch-juridischen Konstruktion von Integrationsverweigerern, In: Norbert Wenning/Martin Spetsmann-Kunkel/Susanne Winnerling (Hg.): Stategien der Ausgrenzung. Exkludierende Effekte staatlicher Politik und alltäglicher Praktiken in Bildung und Gesellschaft, Münster, S. 27-50.

SPD 1984: Planungsdaten für die Mehrheitsfähigkeit der SPD. Ein Forschungsprojekt des Vorstandes der SPD, Bonn.

Spiegel Verlag/manager magazin (Hg.) 1996: SPIEGEL-Dokumentation Soll und Haben 4, Hamburg.

Spiegel-Verlag (Hg.) 1998: Outfit 4. Kleidung, Accessoires, Duftwässer, Hamburg.

Vester, Michael 2013: Die drei Ebenen der Machtverteilung. Die ökonomische Gliederung, die Milieugliederung und die gesellschaftspolitische Lagergliederung der Bevölkerung der BRD im Wandel, In: ARGUMENTE 3/2013, Berlin/Braunschweig, S. 59-86.

Vester, Michael 2007: Soziale Milieus in Bewegung, In: Michael Vester/Christel Teiwes-Kügler/Andrea Lange-Vester: Die neuen Arbeitnehmer. Zunehmende Kompetenzen wachsende Unsicherheit, Hamburg, S. 31-51.

Vester, Michael 2003: Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit, In: Alex Demirovic (Hg.): Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der kritischen Theorie, Stuttgart/Weimar, S. 195-224.

Vester, Michael/Oertzen, Peter von/Geiling, Heiko u.a. 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a. M.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2015, Heft 208, Seite 26-34
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Westfälische Straße 173, 44309 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
 
Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 5,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Europa Euro 49,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang