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REDE/816: Regierungserklärung des Außenministers zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Regierungserklärung des Außenministers zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan
vor dem Deutschen Bundestag am 10. Februar 2010

Stenografische Mitschrift des Deutschen Bundestages


Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Kolleginnen und Kollegen!

Die verheerenden Anschläge des 11. September im Jahre 2001 waren nicht allein ein Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika; sie waren ein Angriff auf die Grundlagen und die freiheitlichen Werte der Völkergemeinschaft. Die internationale Gemeinschaft hat mit beispielloser Geschlossenheit auf diese Herausforderung reagiert. Auch Deutschland folgte dem Aufruf des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der die Situation in Afghanistan als Bedrohung für den Weltfrieden einstufte. Heute beteiligen sich mehr als 40 Nationen unter dem Mandat der Vereinten Nationen am Einsatz in Afghanistan.

Wie die internationale Gemeinschaft hat auch Deutschland in der Frage, ob wir dort, in Afghanistan, Verantwortung übernehmen, Geschlossenheit bewiesen. Es war die Regierung von Gerhard Schröder und Joseph Fischer, die die Bundeswehr erstmals nach Afghanistan entsandte. Die Regierung von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier hat diesen Einsatz fortgeführt. Heute bitte ich Sie für die amtierende Bundesregierung um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an dem NATO-geführten Einsatz in Afghanistan. Dieser Einsatz im Rahmen von ISAF dient vor allem dem Ziel, unsere eigene Sicherheit zu schützen. Afghanistan darf nie wieder Rückzugsort des Terrors werden. Wir sind aber auch dort, um unserer mitmenschlichen Verpflichtung nachzukommen. Millionen Frauen und Männer setzen ihre Hoffnungen in uns.

In den acht Jahren unseres Engagements in Afghanistan haben wir einiges erreicht. Wir haben dazu beigetragen, dass die Menschen in Afghanistan Zugang zu Ärzten und Krankenhäusern haben wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wir haben dazu beigetragen, dass neue Schulen gebaut worden sind. Heute können in Afghanistan 7 Millionen Kinder regelmäßig unterrichtet werden, fünfmal mehr als zu Zeiten der Schreckensherrschaft der Taliban.

Mit Wassertanks, Saatgut und Bewässerungsprojekten haben wir dazu beigetragen, dass über 250 000 Haushalte in Nordafghanistan die Chance haben, in der Landwirtschaft eine Lebensperspektive zu finden. Nicht zuletzt haben die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes geleistet. Das sieht auch die übergroße Mehrheit der afghanischen Bevölkerung so.

Meine Damen und Herren, eine ehrliche Bestandsaufnahme ergibt aber eine gemischte Bilanz unserer bisherigen Anstrengungen. Im letzten Jahr hat sich die Sicherheitslage erneut verschlechtert. Afghanistan versorgt noch immer rund 90 Prozent des Weltmarktes mit Opium. Längst nicht alles in Afghanistan ist heute so, wie wir es uns vor acht Jahren erhofft hatten. Deshalb hat Frank-Walter Steinmeier recht, wenn er sagt, ein einfaches Weiter-so werde nicht reichen, um Afghanistan dauerhaft zu stabilisieren. Diese Bundesregierung hat deshalb von Beginn an für einen Neuanfang in Afghanistan gearbeitet. Das ist keine Kritik an denen, die vor uns Verantwortung für das deutsche Engagement getragen haben. Es ist die notwendige Konsequenz aus den Lehren der letzten Jahre.

Die Londoner Konferenz ist ein Neuanfang. Fast 70 Staaten haben in London gemeinsam mit der Regierung von Präsident Karzai einen Strategiewechsel beschlossen.

Der besondere Erfolg von London liegt in der gegenseitigen Verpflichtung Afghanistans auf der einen und der internationalen Gemeinschaft auf der anderen Seite. Für London hat die afghanische Regierung erstmals ganz konkret und überprüfbar dargelegt, wie sie ihre Ziele - bessere Regierungsführung, Rechtstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Reduzierung des Drogenanbaus - erreichen will. Im Gegenzug hat sich die internationale Gemeinschaft verpflichtet, ihre Anstrengungen zu erhöhen, damit die Afghanen ihre selbstgesteckten Ziele auch in einem überschaubaren Zeitraum erreichen können. Dazu werden wir den Wiederaufbau Afghanistans verstärken, die Wirtschaft beleben und die innere Aussöhnung voranbringen. Wir waren uns in London außerdem einig, dass wir den Aufbau selbsttragender Sicherheitsstrukturen rascher vorantreiben müssen, um uns eine realistische Abzugsperspektive zu erarbeiten.

Damit gilt auch international, was wir uns für unser deutsches Engagement vorgenommen haben: Wir wollen die Übergabe der Verantwortung in Verantwortung. Ein einfaches Weiter-so ist keine Alternative. Ein einfaches Weggehen und Wegsehen ist es auch nicht.

Meine Damen und Herren, jetzt kommt es darauf an, die Beschlüsse von London in die Tat umzusetzen. Den deutschen Beitrag hierfür hat die Bundeskanzlerin vor zwei Wochen vor diesem Hohen Haus vorgestellt. Afghanistan braucht die innere Aussöhnung. Das ist zunächst Aufgabe der Afghanen selbst. Die internationale Gemeinschaft unterstützt sie mit einem Reintegrationsfonds. Deutschland hat während der Konferenz in Aussicht gestellt, in diesen Fonds jährlich bis zu 10 Millionen Euro einzuzahlen.

Es geht darum, diejenigen anzusprechen, deren Gefolgschaft die Macht der Taliban und der Terroristen erst ausmacht. Wir wollen die Mitläufer von dem harten terroristischen und fundamentalistischen Kern trennen. Diese Mitläufer sind junge Männer ohne Perspektive, die meist weder lesen noch schreiben können, die für ein paar Dollar bereit sind, zur Waffe zu greifen. Diesen Menschen wollen wir friedliche Alternativen des Broterwerbs in ihren Dörfern eröffnen. Das Programm ist also im Kern ein Ausbildungs- und Beschäftigungspaket.

Bei der Umsetzung dieses Programms und der Verwendung der entsprechenden Gelder werden die afghanische Regierung und die internationale Staatengemeinschaft eng zusammenwirken. Noch in diesem Frühjahr wird eine Konferenz in Kabul über das weitere Vorgehen beschließen.

Die Bundesregierung wird ihre Anstrengungen für den wirtschaftlichen und sozialen Aufbau im Norden verstärken und hat sich dafür konkrete, nachprüfbare Ziele gesetzt:

Wir werden die Programme zur ländlichen Entwicklung ausweiten, damit bis 2013 3 Millionen Afghaninnen und Afghanen Arbeit und Einkommen haben.

Wir werden unsere Anstrengungen für die Gesundheitsversorgung erheblich ausweiten. In allen vier Provinzen, die im deutschen Verantwortungsbereich liegen, werden wir Krankenhäuser aufbauen und besser ausstatten.

Wir werden die Verkehrsinfrastruktur verbessern und so die Basis für wirtschaftliches Wachstum und mehr Sicherheit legen. Zusätzliche 700 Kilometer ganzjährig nutzbare Straßen sollen ländliche Gebiete erschließen und sie mit den Städten und Märkten ihrer Distrikte verbinden.

Wir werden mehr Lehrerinnen und Lehrer ausbilden und Schulen bauen, damit weitere 500 000 Kinder unterrichtet werden. Mittlerweile sind ein Drittel der Schulkinder Mädchen.

Insgesamt will die Bundesregierung die zivilen Mittel für Afghanistan verdoppeln. Ausdrücklich danke ich Bundesminister Niebel, der sich für den zivilen Aufbau besonders engagiert.

Selbsttragende Sicherheitsstrukturen sind die Voraussetzung für eine Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und Soldaten. Darum tun wir in Zukunft deutlich mehr für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte.

Zwischen Afghanen und internationaler Gemeinschaft ist eine Zielgröße von 300 000 afghanischen Sicherheitskräften vereinbart. Dies ist nötig, damit Präsident Karzai sein Ziel erreichen kann, bis zum Jahr 2014 die Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan vollständig zu übernehmen.

Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, in den kommenden Jahren jährlich rund 5 000 afghanische Polizisten aus- und fortzubilden. Dafür wollen wir die Zahl unserer Polizeitrainer auf insgesamt 260 erhöhen. Ich bin zuversichtlich, dass wir in Abstimmung mit den Bundesländern unser Ziel erreichen, diesen Aufwuchs schon bis Mitte des Jahres abzuschließen. Ausdrücklich danke ich Bundesminister de Maizière und den Bundesländern für diesen wichtigen Beitrag.

Deutschland wird den Schwerpunkt seines militärischen Engagements noch stärker auf die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte legen. Dies erreichen wir vor allem durch eine Umschichtung im bestehenden Kontingent. Obwohl wir bereits heute 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan haben, sind nur 280 mit der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte betraut. Jetzt stocken wir das Mandat lediglich um 500 weitere Soldaten auf, vergrößern aber die Ausbildungs- und Schutzkomponente auf 1 400 Männer und Frauen.

Ergänzend beantragt die Bundesregierung, eine flexible Reserve von 350 weiteren Soldaten zu schaffen. Damit wollen wir sicherstellen, auch in Sondersituationen angemessen reagieren zu können. Schon jetzt ist absehbar, dass während der Wahlen im September für eine vorübergehende Zeit mehr Kräfte Sicherungsaufgaben übernehmen müssen. Auf diese Fälle wollen wir vorbereitet sein. Das gebietet auch unsere Verantwortung gegenüber den Frauen und Männern in Uniform. Einsätze dieser Reserve werden stets zeitlich befristet sein und erst nach Befassung des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses erfolgen.

Diese Neumandatierung ist ein Teil des in London beschlossenen breiten politischen Ansatzes für eine Übergabe der Verantwortung. Ich danke ausdrücklich Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg für die vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Neufassung des Mandates.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer die Übergabe der Verantwortung in den kommenden Jahren schaffen will, der muss heute seine Anstrengungen verstärken. Wir tun heute mehr, um uns eine klare Abzugsperspektive zu erarbeiten: Anfang nächsten Jahres wollen wir in Abstimmung mit der afghanischen Regierung und unseren internationalen Partnern damit beginnen, regional die Sicherheitsverantwortung an die Afghanen zu übergeben. Ende des Jahres 2011 wollen wir so weit sein, unser eigenes Bundeswehrkontingent reduzieren zu können. Im Jahr 2014 wollen wir Präsident Karzais Zielmarke erreichen, dass die Afghanen die Verantwortung für ihre Sicherheit im ganzen Land selbst übernehmen.

Das ist eine realistische Perspektive, auf die wir hinarbeiten wollen und werden. Aber es ist kein konkretes Abzugsdatum. Ein solches zu nennen, wäre eine Ermutigung der Terroristen, also ein Fehler.

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört auch, die Realitäten in Afghanistan so zu benennen, wie sie sind.

Die Bundesregierung hat sehr sorgfältig die Frage geprüft, wie die Lage im Norden Afghanistans zu bewerten ist. Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischer Organisation führt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren. Ob uns das politisch gefällt oder nicht, so ist die Lage. Ob wir es so nennen oder nicht, so ist die Lage. Die Lage beim Namen zu nennen, sind wir all denen schuldig, die sich vor Ort den Gefahren aussetzen.

Diese rechtliche Qualifizierung der objektiven Einsatzsituation von ISAF hat Konsequenzen für die Handlungsbefugnisse der Soldaten, für die Befehlsgebung und für die Beurteilung des Verhaltens von Soldaten in strafrechtlicher Hinsicht. Sie hat keine Auswirkungen auf das Mandat, für das wir um Zustimmung bitten. Sie hat auch keine Auswirkungen auf den Einsatz unserer Polizisten. Unsere Polizisten wurden und werden ausschließlich im Norden Afghanistans und ausschließlich zu Ausbildungszwecken eingesetzt. Für ihren Einsatz ist entscheidend, dass wir ihn angesichts der tatsächlichen Sicherheitslage verantworten können. Fürsorge hat höchste Priorität. Unsere Polizisten arbeiten nur dort, wo die Bundeswehr für Sicherheit eintritt. Darauf haben wir uns auch mit den Ländern einvernehmlich verständigt.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat vor der Londoner Konferenz ein umfassendes Konzept für Afghanistan vorgelegt. Die Kernelemente unseres Konzepts finden sich in den Ergebnissen von London wieder. Wenn Sie unvoreingenommen prüfen, was wir in London erreicht haben, werden Sie vieles wiedererkennen, was auf Anregungen und kritische Fragen aus diesem Hohen Haus zurückgeht. Die enge Einbindung des Parlamentes ist mir sehr wichtig. Die Ergebnisse der Konferenz sind nicht nur ein Erfolg der Teilnehmerstaaten, sie sind gewiss nicht nur ein Erfolg der Bundesregierung; es handelt sich um einen Erfolg für alle, die in diesem Hause zur Neuausrichtung unseres Engagements beigetragen haben, aus allen Fraktionen. Es ist also auch Ihr Erfolg. Ich bitte Sie daher, dass Sie der Versuchung widerstehen, das Notwendige und Richtige zu unterlassen. Das wäre der Größe unserer Aufgabe und auch der Ernsthaftigkeit unseres Engagements nicht angemessen.

Lassen Sie mich zum Abschluss den mutigen Männern und Frauen danken, die in Afghanistan sich auch von hohen Risiken nicht schrecken lassen und mit großem Einsatz tätig sind. Den zivilen Aufbauhelfern, den Polizisten aus Bund und Ländern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und den tapferen Frauen und Männern der Bundeswehr gebührt unser aller Respekt.

Ihnen und ihren Familien möchte ich von Herzen danken. Sie verdienen das Vertrauen der Bundesregierung und des ganzen Bundestages. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung.


http://www.bundesregierung.de/nn_1502/Content/DE/Regierungserklaerung/2010/
2010-02-10-westerwelle-regierungserklaerung-afghanistan.html
(Link bitte im Adreßfeld des Browsers zusammenfügen.)


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Quelle:
Regierungserklärung des Außenministers zum Bundeswehr-Einsatzes in
Afghanistan vor dem Deutschen Bundestag am 10. Februar 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2010