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REDE/818: Russischer Außenministers Sergej W. Lawrow auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 06.02.10 (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 13. Februar 2009

Reifeprüfung Europas

Rede des russischen Außenministers Sergej W. Lawrow auf der
46. Münchner Konferenz zu Fragen der Sicherheitspolitik am 6. Februar 2010

Mit einer Einführung von Rainer Rupp


Vor drei Jahren hatte auf der »Münchner Sicherheitskonferenz« die im Klartext und ohne große diplomatische Schnörkel gehaltene Rede des damaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin (siehe jW-Thema vom 14.2.2007) wie eine Bombe eingeschlagen. Dieses Jahr stand die Konferenz ganz unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und deren möglichen Folgen, was erklärt, daß die ganze Aufmerksamkeit auf China und die Rede von dessen Außenminister Yang Jiechi gerichtet war.

Das hat seine Gründe. China scheint die Krise erfolgreich gemeistert zu haben, und der Westen erhofft sich von dem »Reich der Mitte« sogar eine Lokomotivfunktion für die Weltkonjunktur. Dagegen leidet das Rohstoffland Rußland, ähnlich wie der Westen, auch weiterhin stark unter den Folgen des Abschwungs. Dennoch hätten die westlichen Medien, insbesondere die deutschen, gut daran getan, der Rede des russischen Außenministers Sergej W. Lawrow größere Aufmerksamkeit zu schenken, denn Rußland und nicht China ist sicherheitspolitisch unser direkter Nachbar. So kann es leicht geschehen, daß ein gefährliches Wahrnehmungsdefizit entsteht, wie es in München bei NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sichtbar wurde. Rasmussen bekundete nämlich höchstes Erstaunen darüber, daß Rußland in seiner am 5. Februar von Präsident Medwedew unterzeichneten neuen Militärdoktrin die NATO immer noch als das Militärbündnis ansieht, von dem die größte Bedrohung Rußlands ausgeht.

Im Vorwort der neuen Militärdoktrin heißt es, daß »die Entwicklung in der Welt heute durch eine verringerte Neigung zur ideologischen Konfrontation geprägt ist, ebenso vom Rückgang des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einflusses gewisser Einzelstaaten (USA - R.R.) und Bündnisse (NATO - R.R.) sowie dem wachsenden Einfluß anderer Staaten.« (...) »Viele regionale Konflikte bleiben ungelöst. Die Tendenzen zu gewaltsamen Lösungen dieser Konflikte, einschließlich derjenigen an den Grenzen der Russischen Föderation, ist geblieben. Das bestehende System der internationalen Sicherheit, einschließlich der internationalen rechtlichen Mechanismen, bietet nicht allen Staaten die gleiche Sicherheit (...) Trotz der niedrigeren Wahrscheinlichkeit der Entfesselung eines großangelegten Krieges mit konventionellen und nuklearen Waffen gegen die Russische Föderation haben sich die militärischen Gefahren für die Russische Föderation in mehreren Richtungen verstärkt.« Und als Hauptgefahr wird die NATO-Expansion genannt, gegen die im Konfliktfall an den Grenzen Rußlands auch der Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen möglich sei. (www.kremlin.ru)

»Ich muß schon sagen, diese neue (russische) Doktrin widerspiegelt nicht die reale Welt«, empörte sich Rasmussen in München. »Die NATO zur Hauptgefahr für Rußland zu machen, ist nicht die Realität. Die NATO ist kein Feind Rußlands. Im Gegenteil, wir wollen eine strategische Partnerschaft mit Rußland.« In seiner Rede hat der russische Außenminister Lawrow dagegen die westliche Deklaration des noblen Prinzips der Unteilbarkeit der Sicherheit im gesamten euroatlantischen Raum der traurigen Realität - Bombardierung Serbiens und Unterstützung Georgiens durch die NATO im Krieg gegen Südossetien - gegenübergestellt. Das hehre Prinzip, wonach die Sicherheit eines Staates nicht auf Kosten der Sicherheit eines anderen gehen dürfe, sei durch die immer weiter vorangetriebene Ostausdehnung der NATO in sein Gegenteil verkehrt worden. Wenn es dem Westen wirklich ernst sei mit der Beschwörung der Freundschaft mit Rußland, dann gelte es, statt blumiger Worte die Prinzipien der gleichen Sicherheit in international rechtsgültigen Verträgen festzulegen. Das aber wäre der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit der westlichen Politik gegenüber Rußland.

Zentrale Beiträge der diesjährigen »Münchner Sicherheitskonferenz« sind auf der offiziellen Website (www.securityconference.de) nachzulesen; die Rede Lawrows sucht man dort bezeichnenderweise vergebens. jW dokumentiert sein Referat nachstehend in voller Länge.

Rainer Rupp


Die tiefgreifenden Veränderungen in der Welt im Verlauf der letzten 20 Jahre konnten nicht ohne Einfluß auf die internationale Tagesordnung bleiben. Wir stehen nun der Aufgabe gegenüber, diese Agenda umzugestalten und zu verändern. Dafür spricht auch die offensichtliche Verbesserung der Atmosphäre in der euroatlantischen Politik, in der sich die Neigung zu konfrontativen Ansätzen deutlich verringerte. Jedoch läßt sich eine Situation schwerlich als normal bezeichnen, in der die militärpolitischen Realien in der Euro-Atlantik-Region den modernen wirtschaftlichen, technologischen, Handels- und Investitions- sowie anderen in der modernen Welt verlaufenden Prozessen der Globalisierung und gegenseitigen Abhängigkeit bei weitem nachstehen.

In den vergangenen 20 Jahren wurde die europäische Sicherheit in jeder Beziehung ernsthaft geschwächt. Dies betrifft das Kontrollregime über Bewaffnungen und betrifft die nach wie vor bestehenden Konflikte sowie Bestrebungen, »eingefrorene« Konflikte in »heiße« zu verwandeln. Und es betrifft auch die Atrophie der OSZE. (1) Aussagen, wie, es wäre »alles normal und man müsse daran nichts ändern«, überzeugen uns nicht. Ich hoffe, daß unsere Sichtweise Beachtung finden wird.


Bedeutungsverlust der OSZE

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Vertrages entstand die reale Chance, die OSZE in eine vollwertige Organisation zu verwandeln, die gleiche Sicherheit für alle Staaten in der Euro-Atlantik-Region gewährleistet. Doch wurde diese Chance vertan, indem die Wahl zugunsten einer Politik der Ausweitung der NATO fiel. Das bedeutete nicht nur den Erhalt jener Linien, die Europa in den Jahren des »Kalten Krieges« in Zonen mit unterschiedlichen Sicherheitsniveaus teilten, sondern bedeutete auch eine Verschiebung dieser Linien nach Osten. Die Rolle der OSZE wurde im Wesen dahin geführt, diese Politik durch eine Aufsicht über die humanitären Fragen im postsowjetischen Raum zu bedienen.

Im Ergebnis dessen konnte sich eine europäische Architektur - die ausnahmslos alle Staaten des euroatlantischen Raums zu einer einheitlichen Organisation verbinden würde, die auf klaren, juristisch verbindlichen Prinzipien basiert und über die entsprechenden Instrumente zu deren praktischer Umsetzung verfügt - nicht herausbilden. Der amorphe Zustand der OSZE bewirkte eine Entfremdung dieser Organisation gegenüber den Bedürfnissen des realen Lebens auf vielen Gebieten.

Vor allem: Weder in der OSZE noch in irgendeinem anderen Rahmen wurde das hohe und edle, in den 90er Jahren auf höchster Ebene erklärte Prinzip der Unteilbarkeit von Sicherheit im gesamten euroatlantischen Raum realisiert, nach dem die Sicherheit keines Staates auf Kosten der Sicherheit eines anderen gewährleistet werden kann.

Deklariert wurde dieses Prinzip sowohl in der OSZE und der NATO als auch im Rußland-NATO-Rat.(2) Während jedoch innerhalb der Nordatlantischen Allianz die Unteilbarkeit der Sicherheit eine obligatorische, rechtlich festgelegte Norm ist, beschränkt sie sich hingegen in der OSZE und im Rußland-NATO-Rat auf das Genre politischer Erklärungen ohne jegliche rechtliche und praktische Auswirkung.

Daß das Prinzip der Unteilbarkeit von Sicherheit in der OSZE nicht funktioniert, bedarf keines langen Beweises. Erinnert sei an die Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien im Jahre 1999, als eine Gruppe von Staaten der OSZE, die an diese politische Deklaration gebunden war, eine Aggression gegen ein anderes OSZE-Land verübte, auf das sich dieses Prinzip ebenfalls bezog. Alle erinnern sich auch an die Tragödie vom August 2008 in Transkaukasien, als ein Mitgliedsland der OSZE, das an verschiedene Verpflichtungen auf dem Gebiet der Nichtanwendung von Gewalt gebunden war, diese Gewalt anwandte, und zwar auch gegen Friedenstruppen eines anderen OSZE-Landes. Das war eine Verletzung nicht nur gegenüber der Schlußakte von Helsinki (3), sondern auch gegenüber einem konkreten Friedensabkommen im georgisch-südossetischen Konflikt (4), das die Anwendung von Gewalt ausschließt.

Das Fehlen von klaren Regeln in der OSZE führte dazu, daß die Information der Beobachter der OSZE aus Südossetien über die Vorbereitungen eines militärischen Angriffs durch die georgische Führung nicht an den Ständigen OSZE-Rat gemeldet wurde. Es ist bis heute unklar, wie dies geschehen konnte. Daß es aber ein Resultat des Fehlens klarer Regeln ist, muß nicht bewiesen werden. Im übrigen scheiterte auch der Rußland-NATO-Rat, der sich weigerte, auf Bitten Rußlands zu einer außerordentlichen Sitzung zusammenzutreten, als die militärischen Handlungen in vollem Gange waren. Sowohl Kosovo als auch Südossetien sind Ausdruck einer Systemschwäche der OSZE.


Dreiseitige Zusammenarbeit

Doch ich möchte auch über etwas anderes sprechen. In der historischen Entwicklung ist nun ein Moment eingetreten, in dem sich ernste Verschiebungen vollziehen und man vor der Wahl zwischen Vergangenheit und Zukunft steht. Genauso prinzipiell steht die heutige Frage. Wichtig ist es, diesen einzigartigen Moment nicht zu verpassen. Ich bin davon überzeugt, daß wir in der Lage sind, uns über die historischen Komplexe zu erheben und »über den Horizont zu schauen«.

Die »familiären Angelegenheiten« Europas bedürfen einer prinzipiellen Analyse, vieles bedarf einer Umbewertung, nicht in den Kategorien der Euphorie und des Triumphs der 90er Jahre, sondern auf der Grundlage einer nüchternen Analyse der realen Folgen aus dem, was im Verlaufe der vergangenen 20 Jahre geschehen ist. Davon, ob wir in der Lage sind, zusammen die richtigen Lehren zu ziehen, hängt das geopolitische Gewicht Europas und der gesamten europäischen Zivilisation ab, deren untrennbare Bestandteile sowohl die USA als auch Rußland sind. Eine der Hauptlehren muß die ehrliche Anerkenntnis sein, daß es mit der Konzeption der Unteilbarkeit von Sicherheit ein Problem gibt, das gelöst werden muß, damit wir nicht daran gehindert werden, uns mit den konkreten, für uns alle wichtigen Aufgaben zu befassen, von denen es mehr als genug gibt.

Haben wir das Problem der Unteilbarkeit von Sicherheit ein für alle Male in vollem Maße gelöst, so können wir uns auf eine positive Agenda konzentrieren, auf die dringenden Angelegenheiten auf Grundlage unserer gemeinsamen Interessen. Wir können ein festes Fundament errichten für ein gemeinsames Vorgehen der USA, der EU und Rußlands in den internationalen Angelegenheiten. Ich möchte die Wichtigkeit gerade dieses dreiseitigen Zusammenwirkens hervorheben. Bilaterale strategische Dialoge sind unzureichend, sie können die dreiseitige Zusammenarbeit nicht ersetzen.

Viele erfassen den ungesunden Charakter der gegenwärtigen Situation. Dies erklärt das reale Interesse gegenüber der vom Präsidenten Dmitri A. Medwedew im Juni 2008 eingebrachten Idee, einen Vertrag über europäische Sicherheit zu schließen.(5) Seitdem ist es gelungen, einen soliden Denkprozeß sowohl auf Regierungsebene (OSZE, Rußland-NATO-Rat, Zusammenarbeit Rußland-EU) als auch auf unterschiedlichen politikwissenschaftlichen Tagungen zu initiieren. Ohne diese Initiative gäbe es auch kein »Aufrütteln« in der OSZE.

Unsere Partner in NATO und EU sagen uns, daß das russische Vertragsprojekt nur in der OSZE behandelt werden müsse, weil diese Organisation der »Bewahrer« des von uns allen akzeptierten umfassenden Herangehens an die Sicherheit sei, für das wir immer konsequent plädierten. Wobei ich bemerken möchte, daß die Mehrheit der Teilnehmerstaaten der OSZE bis zum Einbringen unserer Initiative daran nicht dachten. Bis noch vor kurzem, ja selbst gegenwärtig, spiegelt der überwiegende Teil der OSZE-Programme dieses allumfassende Herangehen nicht wider und widmet sich der humanitären Sphäre auf Kosten der anderen »Körbe«.(6) Wir richteten häufig die Aufmerksamkeit auf dieses Mißverhältnis, das beseitigt werden muß.

Was den humanitären Aspekt betrifft, darf nicht vergessen werden, daß es noch den Europarat gibt, in dem eine Vielzahl gesamteuropäischer Konventionen erarbeitet wurde, die im Unterschied zu den politischen Dokumenten der OSZE juristisch verbindlichen Charakter tragen und dadurch einen einheitlichen gemeinsamen humanitären Rechtsraum des Kontinents bilden. Im übrigen sind diese Konventionen offen für alle Interessierten. Warum also sollte man im Kontext des »Korfu-Prozesses« (7) als einen der Beschlüsse zur humanitären Problematik nicht alle OSZE-Mitglieder aufrufen, diesen Konventionen beizutreten? Dadurch würden alle gewinnen.

Der Europarat verfügt über grundlegende Rechtsdokumente - die Charta, die Europäische Konvention über Menschenrechte. Es gibt eine »exekutive Gewalt« - das Ministerkabinett. Es gibt ein Gericht, den Kongreß der örtlichen und regionalen Behörden sowie die Parlamentarische Versammlung. Mit anderen Worten, gerade auf dem Gebiet der »weichen« Sicherheit hat sich seit langem eine funktionsfähige gesamteuropäische Struktur herausgebildet, die die Erfüllung der Verpflichtungen auf dem Gebiet der Menschenrechte und Freiheiten gewährleistet. Und vor allem - in dieser Struktur gibt es Mechanismen, die die Einhaltung dieser Verpflichtungen garantieren. Auf dem Gebiet der »harten« Sicherheit jedoch gibt es keine derartige Organisation, die auf ebenso juristisch verbindlicher Grundlage einen einheitlichen militärpolitischen Raum in Europa gewährleisten würde.


Unteilbarkeit der Sicherheit

Wir alle brauchen eine OSZE, die tatsächlich Sicherheit und Zusammenarbeit auf dem Kontinent auf gleichberechtigter Grundlage in allen Dimensionen festigt und mit Berücksichtigung ihrer realen vergleichenden Vorzüge einen »Mehrwert« einbringt. Rußland möchte die OSZE als eine starke und effektive Organisation sehen, die sich auf internationales Recht stützt.

Deshalb haben wir den griechischen Vorsitz in der OSZE aktiv unterstützt bei seiner Initiative, den »Korfu-Prozeß« in Gang zu setzen. Dieser Prozeß offenbarte, daß die Notwendigkeit begriffen wurde, in vollem Maße den »Dekalog« von Helsinki (8) wieder zu beleben und ein wahrhaft umfassendes Herangehen an Sicherheit wieder aufzunehmen. Die Fortsetzung des Dialogs wird, so hoffen wir, dabei helfen, Wege zu einer allseitigen Erhöhung der Handlungsfähigkeit der OSZE zu entwickeln, ernsthafte Schieflagen in ihrer Tätigkeit auszuräumen und sie in eine vollwertige internationale Organisation zu verwandeln.

Natürlich darf ein allumfassender Ansatz nicht mit der Taktik künstlicher Zusammenhänge verwechselt werden. Wenn sich also jemand weigert, die »harte« Sicherheit zu erörtern, solange die Lage der Menschenrechte für ihn unbefriedigend ist, kann jemand anders eine analoge Position mit »umgekehrtem Vorzeichen« beziehen, indem er es ablehnt, zu humanitären Themen zu sprechen ohne vorherige Vereinbarungen zu militärpolitischen oder ökonomischen Fragen. Und dann befinden wir uns alle in der Sackgasse.

Es ist notwendig, von einer Gleichwertigkeit aller Dimensionen der Sicherheit auszugehen. Jede von ihnen hat eine große Bedeutung und ist mit Ausrichtung auf das Erzielen einer möglichst effektiven Vereinbarung zu erörtern, aber nicht nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners.

Dabei plädieren wir aktiv dafür, auch im Rahmen des »Korfu-Prozesses« unbedingt alle grundlegenden Dokumente der OSZE auf allen Gebieten zu bestätigen und den Verlauf der Erfüllung aller früher übernommenen Verpflichtungen zu analysieren. Uns interessiert insbesondere die Verpflichtung, im Raum der OSZE die Freizügigkeit zu sichern. Aus irgendwelchen Gründen versuchen jetzt alle, von dieser Verpflichtung abzurücken. Obwohl dies für unsere Menschen, für die Menschen in ganz Europa eine Schlüsselfrage ist.

Erfreulich ist, daß die Frage der Erhöhung der Effektivität der OSZE in die vereinbarte Agenda des »Korfu-Prozesses« aufgenommen wurde, was eine ernsthafte Erörterung von Fragen ihrer Reform vorsieht. Als Ergebnis des »Korfu-Prozesses« muß vor allem die Schaffung eines rechtlichen Fundaments der OSZE stehen. Auf dieser Basis lassen sich dann Vereinbarungen zu wesentlichen Themen aufbauen.

Zu unserer Initiative über europäische Sicherheit: In das Vertragsprojekt wollten wir alle grundlegenden Aspekte militärpolitischer Fragen einschließen - Rüstungskontrolle, Vertrauensmaßnahmen, Konfliktregulierung - sowie auch Antworten auf moderne Herausforderungen und Gefahren. Doch nachdem wir unsere Kollegen angehört hatten, stimmten wir zu, diese Aspekte in den »Korfu-Prozeß« aufzunehmen. Alle praktischen Fragen im Zusammenhang mit der militärpolitischen Sicherheit wurden bereits in die Agenda des »Korfu-Prozesses« aufgenommen.

Zu vielen dieser Fragen gibt es russische Initiativen, zum Teil zusammen mit anderen OSZE-Mitgliedern. In unserem Vertragsprojekt haben wir keine praktischen Dinge aufgenommen, sondern uns auf ein Prinzip konzentriert: das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit. Dies ist eine Art Test. Wenn wir alle auch weiterhin an das glauben, was die Führer unserer Staaten erklärten und in den 90er Jahren unterzeichnet haben, dann spricht doch nichts dagegen, dieselben Dinge juristisch verbindlich zu machen. Wenn jedoch dieses Prinzip im weiteren nicht mehr unterstützt wird, so wollen wir hören, warum. Aber, wenn es unterstützt wird, dann laßt uns doch einen solchen Beschluß fassen und bestätigen, daß wir alle aufrichtig waren, als wir in den 90er Jahren verkündeten, daß keines unserer Länder seine Sicherheit auf Kosten anderer gewährleisten wird. Das ist alles. Die Idee ist äußerst einfach, sie ist die minimale Voraussetzung dafür, um den Weg der Festigung von Vertrauen zu beschreiten, und absolut nicht widersprüchlich. Wenn wir also hören, daß die Idee interessant sei, es aber notwendig sei zu verstehen, was Rußland wolle, so antworten wir, daß wir nichts verbergen. Wir erklären aufrichtig, daß wir in juristisch verbindlicher Form das bestätigen wollen, was bereits deklariert wurde.

Gegenwärtig reift im euroatlantischen Raum ein qualitativ neues Moment heran: eine Art Konvergenz der nationalen Interessen. Dies schafft objektiv die Voraussetzungen für die Lösung der fundamentalen Aufgabe zur Festigung der Position der europäischen Zivilisation in einer sich globalisierenden, polyzentrischen und immer stärker konkurrierenden Welt auf einer entideologisierten Grundlage. Wenn wir das Blockdenken des »Kalten Krieges« in der europäischen Architektur und die aus diesem Ansatz resultierenden Befürchtungen bezüglich der »Einflußsphären« überwinden, stellen wir eine neue Qualität an gegenseitigem Vertrauen sicher, die Europa unter den gegenwärtigen Bedingungen so nötig hat.

Die Hauptfrage lautet: Wird der gesamteuropäische Raum tatsächlich im rechtlichen Sinne einheitlich werden? Oder wird er in »Einflußsphären« und in Zonen zerteilt sein, in denen unterschiedliche Standards aus Sicht der militärpolitischen Sicherheit, der humanitären Pflichten, des Zugangs zu Märkten und modernen Technologien usw. zur Anwendung gelangen? Dies ist die wichtigste Frage - eine Art Probe für die Mitglieder der euroatlantischen »Familie« auf die Reife und Fähigkeit, das Weltgeschehen in adäquater Weise wahrzunehmen.


Anmerkungen der junge Welt-Redaktion

(1) Gemeint ist der Bedeutungsverlust der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

(2) Siehe dazu jW vom 24.6.2009, S. 6

(3) Das Ziel der am 1. August 1975 unterzeichneten Schlußakte war die Regelung der Zusammenarbeit der beiden unterschiedlichen Gesellschaftssysteme u. a. in den Bereichen Wirtschaft und Sicherheit

(4) Es handelt sich um das »Abkommen über die Prinzipien einer Lösung des georgisch-ossetischen Konflikts« vom 24. Juni 1992 zwischen der Republik Georgien und der Russischen Föderation

(5) Siehe dazu auch die jW-Dokumentation des russischen Vorschlags für ein europäisches Sicherheitskonzept in der Ausgabe vom 3.2.2010

(6) Die Schlußakte von Helsinki ist in Bereiche aufgeteilt, die dort »Körbe« genannt werden

(7) Mit dem informellen Treffen von 56 Chefdiplomaten der OSZE Ende Juni 2009 auf der griechischen Insel Korfu wurde ein Sicherheitsdialog in Gang gesetzt. Das Bestreben der Initiatoren liegt darin, über einen substantiellen Dialog die OSZE als wirkliche Sicherheitsorganisation zu revitalisieren. Dem Ministerrat von Athen im Dezember 2009 sollen weitere Sitzungen in Wien und im Juni ein Zwischenbericht des Amtierenden Vorsitzes Kasachstan folgen. Allein die Anerkenntnis von Defiziten in der europäischen Sicherheitsordnung durch die Teilnehmerstaaten in Athen und die Bekräftigung, daß die Krise nur auf Basis der OSZE-Prinzipien in einer multilateralen Zusammenarbeit überwunden werden könne, spricht für das Potential dieses Prozesses

(8) Die Rede ist vom »Prinzipiendekalog« des ersten Korbes der Schlußakte von Helsinki. In ihm werden zehn grundlegende Prinzipien (souveräne Gleichheit, Unverletzbarkeit der Grenzen etc.) festgelegt



Übersetzung aus dem Russischen von Egbert Lemcke

Quelle des Originals:
www.mid.ru/brp_4.nsf/0/D39B2461D308890EC32576C40039F20E


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Quelle:
junge Welt vom 13.02.2010
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2010