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REDE/825: Merkel - Regierungserklärung zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, 22.04.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan vor dem Deutschen Bundestag am 22. April 2010 in Berlin


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Übermorgen nehmen wir Abschied von vier deutschen Soldaten, die am letzten Donnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmen Abschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, Josef Kronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochen mussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak, Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitag in Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanische Soldaten.

Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einem Land ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spreche den Angehörigen, den Kameraden und Freunden mein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies im Namen der ganzen Bundesregierung und der Mitglieder dieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denken wir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedanken und Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollständige Genesung.

Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehrrekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vor dem Reichstag gesagt:

"Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück ..., einer heute friedfertigen Nation und ihrem ... rechtlich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen: Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen."

Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurde und der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung feiern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldaten viel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerzhaft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie missbrauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichen und demokratischen Werte dieses Landes.

Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldaten haben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, diesen Eid:

"Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen."

Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu gedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deutsche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag von Bundesregierungen in unterschiedlicher Zusammensetzung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat ist über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben. Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Es ist unverändert gültig.

Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer, weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheit zu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren für Leib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit - das haben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir alle schmerzhaft erfahren müssen - ist ohne Verletzbarkeit nicht denkbar.

Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalb uns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Unser Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hat die drei Toten Karfreitag zurück nach Deutschland begleitet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der vergangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen. Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeier gefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mit dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben das nicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun es auch - wie viele andere aus diesem Hohen Hause - als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch als Abgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen und damit die Verantwortung dafür übernommen, was mit unseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, was unsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mittelpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen.

Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufiger gesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Soldatinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kommen, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten. Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derjenige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationalen bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu verharmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich: Niemand von uns verharmlost; niemand von uns - ob er im Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatz gestimmt hat - verharmlost das Leid, das dieser Einsatz bei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch bei Angehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opfer hinterlässt.

Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle für die Bundesregierung vor diesem Hohen Haus erklärt:

"Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischer Organisation führt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren."

Das ist das, was landläufig als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird.

Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt hat - und das unterstelle ich jedem von uns -, war dies vor der Abstimmung über das aktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen haben.

In einem Interview, das am letzten Sonntag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist, hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres geriet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht geschossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er:

"Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es in diesem Fall."

Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zu verdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt der Taliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibert wurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm, wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel. Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für die Härte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt von uns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respekt für ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihres Lebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum oder gar nicht vorstellen können.

Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikanische Präsident Barack Obama gesagt:

"Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese Wahrheit neben einer anderen bestehen, nämlich der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten, wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. Der Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der Aufopferung für sein Land, für die Sache und für seine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist niemals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nennen."

In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Namen nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn unseres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren. 24 von ihnen sind durch so genannte Feindeinwirkung und im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen haben ihr Leben verloren - auch infolge deutschen Handelns, wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September vergangenen Jahres.

Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auch immer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoffnungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wieder wichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir junge Frauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihre Gesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immer wieder in Gefahr sind. Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wichtig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu bekennen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel, ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich unabweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen, können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So jedenfalls geht es mir. Dennoch - und so stehe ich wie die große Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz.

Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan. Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.
Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen anderen Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind Lebensbedingungen katastrophal - und trotzdem entsendet die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan geht es noch um etwas anderes.

Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsministers Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er sagte vor Jahren:

"Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt."

Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bislang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine ausreichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeutet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.

Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt. Der internationale Terrorismus und die von ihm ausgehende so genannte asymmetrische Bedrohung durch Menschen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet - dies ist eine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Doch so wenig man die Globalisierung abschaffen kann - was ich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wenn man es wollte -, so wenig dürfen wir in unseren Anstrengungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begegnen, wo sie entstehen.

Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig, darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang die historischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die zum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mit dem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjetischen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. Diese Diskussion kann und will ich hier nicht führen, aber etwas anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durch den Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt internationaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemacht wurde.

Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihre Wurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im von den Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sind die Attentäter von New York und Washington und später die von London und Madrid unerkannt hervorgegangen. Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt. Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschland verheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher lediglich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu können.

Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnen lassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich unter den Bedingungen der Globalisierung die Herausforderungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wird in Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwischen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Konflikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominieren werden.

Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan, die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkannt verstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern, um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sind Piraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen Attacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sind die Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohnten Muster von Konflikten und Kriegen entsprechen, die auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns gelangen können.

Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militärische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz im Gegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibt nur Ultima Ratio. Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebunden an Völker- und Verfassungsrecht.

Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichte nicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhaltung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund in militärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltung und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio - das ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und zwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserer geografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mitglied unserer Bündnisse wahrnehmen.

Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit den Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO. Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. In Partnerschaften dagegen schaffen wir Vieles.

Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtlichen Weg gegangen. Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Aufbau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das gesamte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet der früheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland international Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbündeten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspolitik und im Auftrag der Vereinten Nationen auch außerhalb des Bündnisgebietes übernommen.

War es unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenige Jahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil von Friedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999 erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz im Kosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Ausland, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltag der Bundeswehr wesentlich bestimmen.

Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6.600 Soldatinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittelmeer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Absicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Sie finden statt auf dem Boden von Mandaten des Deutschen Bundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten ein wichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen und Soldaten gesetzt. Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wird ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen kann und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird.

Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens für unsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: Zum Einsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unserer Bevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient. Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar alleinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinen Bündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handelt unverantwortlich. Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie versinken, auch die Folgen für die internationale Gemeinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwortung übernommen haben, und für unsere eigene Sicherheit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaft ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Gemeinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte sie anders, wären die Folgen - das ist meine Überzeugung - weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001.

Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afghanistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuklearmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dass ein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, der Iran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden. Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielen Staats- und Regierungschefs auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargipfel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig: Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedrohungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wie al-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen oder nukleares Material zu erlangen, um damit als so genannte "schmutzige" Bomben nuklear angereicherte konventionelle Waffen zu bauen. Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Afghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heute schon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent die nukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washington vorgenommen haben, und verließen wir planlos Afghanistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuklearwaffen und Nuklearmaterial in die Hände von extremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies muss verhindert werden.

Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns in Afghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwischen so genanntem Abendland und Morgenland, es geht nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten muslimischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürzten oder gar alleinigen Abzug wäre nur Eines: eine Ermutigung für alle Extremisten, die weit über Afghanistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kann gar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die Sicherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Sicherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindukusch verteidigt wird.

Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen, dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch gar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Beginn des Einsatzes müssen wir feststellen - ich sage dies durchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzuweisung gegen irgendjemanden -: Es gab manche Fortschritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele waren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch. Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass auf der Londoner Afghanistan-Konferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichenstellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistan vorgenommen wurden. Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verabschiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwicklungspolitik eng miteinander verbunden sind. Die Londoner Strategie schließt alle politischen Kräfte Afghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejenigen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereit sind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Angebot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihres Landes beteiligen wollen.

Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Sicherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglich in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabilität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollen wir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen.

Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- und Ausbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmen unserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hat ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Benchmarks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bilanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabul ziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmen wird.

In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Voraussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Darum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der internationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht um einen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nicht um den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entweder unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wäre zum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, historischen und religiösen Traditionen der afghanischen Gesellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Traditionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirga in Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd. Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanische Tradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung, die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit ermöglichen kann.

Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der DDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit. Rechtsstaatlichkeit - das meint nicht nur, aber zunächst die Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrückung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, in der jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgt oder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diese permanente Angst genommen wird, erst wenn der Staat in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevölkerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich.

Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer solchen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unserer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den die NATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist richtig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwicklung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist die Voraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzung dafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nicht wieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bilden, die uns in Europa und der Welt bedrohen können. Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die internationale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz so lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aber auch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer angelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern der Übergabe in Verantwortung, die wir in London eingeleitet haben und die wir erfolgreich beenden werden.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihrem Einsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verloren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den ein Soldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davor beschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension unserer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroranschlägen werden. Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht Angst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank, unsere Hochachtung und unsere Unterstützung.


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Quelle:
Bulletin Nr. 42-1 vom 22.04.2010
Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan vor dem
Deutschen Bundestag am 22. April 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2010