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REDE/869: Merkel - Besuch des Instituts für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, 1.2.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Reise nach Israel vom 31. Januar bis 1. Februar 2011 - Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Besuch des Instituts für nationale Sicherheitsstudien (Institute for National Security Studies) am 1. Februar 2011 in Tel Aviv:


Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrter Herr Direktor,
sehr geehrte Konferenzteilnehmer,
verehrte Gäste,
liebe Tsipi Livni, wenn ich eine Teilnehmerin herausgreifen darf,

es ist mir eine große Freude, heute bei Ihnen zu sein und im Institut für nationale Sicherheitsstudien sprechen zu dürfen.

Sie sind als Teilnehmer dieser Konferenz zusammengekommen, um sich mit den Auswirkungen von neuen Risiken und globalen Gefährdungen auf die jeweilige nationale Sicherheit zu befassen. Ich denke, dass kaum ein aktuelleres Thema hätte gewählt werden können, denn wir sehen, dass sich die Welt in der Tat in verschiedener Weise im Umbruch befindet.

Bei uns zu Hause in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa spüren wir alle noch die großen Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese Finanz- und Wirtschaftskrise war die größte seit Jahrzehnten, seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ich habe schon sehr früh gesagt: Diese Wirtschaftskrise wird die Karten auf der Welt neu mischen, es werden neue Kräfte und Balancen entstehen. Wir sehen nun in der Aufschwungphase, dass dies ganz offensichtlich der Fall ist, wenn ich allein an die wirtschaftliche Bedeutung Asiens, insbesondere Chinas denke.

Diese Wirtschaftskrise hat eine Auswirkung auf Europa gehabt, die wir nicht vorausgesehen haben. Sie hat nämlich den Fokus der Märkte in Richtung der Schwäche des Euro gerichtet. Das ist keine Schwäche des Euro an sich, sondern eine zu hohe Verschuldung verschiedener Euro-Mitgliedstaaten, die uns vor sehr, sehr große Herausforderungen stellt. Sie verlangt von uns, dass wir ein klares Bekenntnis zum Euro abgeben, was wir politisch tun. Aber sie verlangt von uns auch, dass wir in Europa enger zusammenrücken, uns besser koordinieren, wirtschaftlich besser zusammenarbeiten und endlich lernen, dass wir nicht übermäßig auf Pump und von Schulden leben dürfen, sondern dass wir das, was wir verbrauchen, auch erwirtschaften müssen.

Bei Ihnen hier in der Region, in der Nachbarschaft von Israel, gibt es in den jüngsten Wochen und Tagen Unruhen, die von großer Bedeutung sein werden. Es gibt eine sehr schwierige Lage im Libanon, eine Hisbollah-dominierte Regierung, Proteste in Tunesien, wie sie dieses Land noch nicht gekannt hat. Heute gibt es Proteste in Ägypten in einem Ausmaß, wie wir es noch nicht gesehen haben. Man kann nur hoffen, dass der Generalstreik in Ägypten friedlich ablaufen wird. Es war ein wichtiges Signal, dass die Armee gesagt hat, dass es das Recht der Menschen ist, zu demonstrieren. Trotzdem ist damit eine große Unbestimmtheit verbunden, wie der politische Prozess in Ägypten weitergehen wird. Wir können nur hoffen, dass all das wirklich friedlich abläuft.

Was das alles für die Sicherheitslage Israels bedeutet, ist heute sehr, sehr schwer zu sagen. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass sich Deutschland der Sicherheit Israels verpflichtet fühlt und dass wir politisch alles tun werden, was wir tun können, um die Sicherheit Israels zu gewährleisten. Aber die Situation hier ist auch Ausdruck eines Umbruchs und völlig neuer Herausforderungen für die nationale Sicherheit Israels.

Globale Entwicklungen haben sehr viel mit nationalen Fragen und der nationalen Sicherheit zu tun. In Israel stellt sich diese Frage der nationalen Sicherheit natürlich ganz anders als in Deutschland. Denn die Bedrohungen für Ihr Land sind manifest, sie sind sichtbar. Sie haben eine Vielzahl feindlich gesonnener Nachbarn. Deshalb ist die enge Partnerschaft zwischen Deutschland und Israel natürlich von allergrößter Bedeutung.

Was zeichnet diese Partnerschaft aus? Sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie auf gemeinsame Werte gegründet ist: Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Freiheit von Wissenschaft, Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung, Freiheit der Meinungsäußerung und demokratische Strukturen. Natürlich haben wir dies gestern auch in unseren dritten deutsch-israelischen Regierungskonsultationen noch einmal unter Beweis gestellt.

Diese Regierungskonsultationen haben sich inzwischen zu einem festen Baustein unserer Kooperation entwickelt. Ich glaube, dass es heute nach den schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit, der Shoah, nachdem es gelungen ist, Partnerschaft und Freundschaft aufzubauen, von unschätzbarer Wichtigkeit ist, dass wir in den täglichen Belangen der Politik in allen Ressorts Kooperationsprojekte entwickeln, die uns einander näher bringen und natürlich auch das Verständnis füreinander viel, viel deutlicher machen. Damit sind die Sorgen des einen Landes - in diesem Fall die Sorgen Israels - natürlich auch unsere Sorgen und unsere Aufgaben, diese Probleme zu lösen.

Das, was dabei natürlich immer sehr nahe liegt und was auch in diesem Kreise insbesondere zu besprechen ist - bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Tel Aviv habe ich mehr über die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen gesprochen -, ist der Nahost-Friedensprozess, den ich hier in den Mittelpunkt meiner Ausführungen rücken möchte. Wir haben im Augenblick einen Zustand, den ich mit dem Wort "Stillstand" bezeichnen muss. Ich glaube, dass dieser Zustand des Stillstands, der Stagnation nicht akzeptabel, nicht hinnehmbar ist. Er dient niemandem, vor allen Dingen auch nicht den Interessen Israels.

Natürlich scheint es - ich habe gestern in einem sehr intensiv und sehr freundschaftlich geführten Gespräch mit dem Premierminister darüber gesprochen - viele Gründe zu geben, manche mehr, manche weniger akzeptabel, warum man jetzt gerade nicht verhandeln sollte oder warum es gerade Wichtigeres gibt oder warum man vielleicht abwarten sollte. Ich sage hier ganz klar - und das sage ich als Freundin des Staates Israel: Die Lage in Ägypten sollte keine Entschuldigung dafür sein, den Friedensprozess nicht fortzusetzen. Ich würde sogar sagen, dass Abwarten die Dinge verschlechtern kann und es vielleicht gerade in dieser Situation sehr, sehr wichtig ist, dass gehandelt wird.

Ich weiß, dass es vielleicht auch in Ihrem Land viele gibt, die sagen: Die Wirtschaft läuft gut - darüber freuen wir uns alle -, wir haben einen kräftigen Aufschwung, wir haben eine geringe Arbeitslosigkeit. Es gibt deshalb eine große Skepsis, ob jetzt der richtige Zeitpunkt für weitere Verhandlungen ist. Es gibt auch eine große Skepsis, ob die palästinensischen Partner diejenigen sind, die wirklich dazu in der Lage sind, Frieden zu schließen. Aber ich bin davon überzeugt - das will ich Ihnen hier auch ganz offen sagen -, dass ein weiterer Stillstand niemandem hilft. Die Ruhe, die es scheinbar gibt, könnte sich als trügerische Ruhe erweisen.

Wohin trügerische Ruhe führen kann, möchte ich Ihnen wiederum an einem Beispiel aus Europa erläutern, bei dem wir sehr lange nicht genau hingeschaut haben. Griechenland ist in die Europäische Union aufgenommen worden. Es gab sogar Zeiten, in denen Deutschland und Frankreich gemeinsam den Stabilitäts- und Wachstumspakt für den Euro ausgehöhlt haben. Wir haben uns nicht ausreichend damit beschäftigt, wie wir die Kriterien für weniger Verschuldung einhalten können. Mit einem Mal haben wir dann nach der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, nachdem wir Banken gerettet und Konjunkturprogramme aufgelegt haben, erlebt, dass ein Punkt erreicht war, an dem das Ganze sehr schwierig wurde, und zwar erst hinsichtlich Griechenland und dann hinsichtlich des Euro insgesamt. Wir sind gezwungen gewesen, in kurzer Zeit massiv zu handeln und Dinge zu unternehmen, von denen ich mir noch vor einem Jahr nicht erträumt habe, dass ich sie tun muss. Es war eine Aktion in einer sehr großen Drucksituation.

Ich weiß, dass die Themen Euro und Nahost völlig unterschiedliche Themen sind. Was ich damit nur sagen möchte, ist: Abwarten und Dinge sozusagen laufen zu lassen, kann zum Schluss zu Situationen führen, in denen man sehr, sehr eilig handeln muss, dann vielleicht auch nicht immer die besten Handlungen unternimmt und die Interessen nicht am besten vertritt.

Die Ziele liegen eigentlich klar auf dem Tisch: Es muss eine Zwei-Staaten-Lösung mit Israel als einem jüdischen, demokratischen Staat und einem lebensfähigen palästinensischen Staat geben. Ich glaube, ich sage Ihnen in diesem Raum auch nicht zu viel, dass eine solche Lösung nur möglich sein wird, wenn es schmerzhafte Kompromisse für beide Seiten gibt. Wenn man sich einmal überlegt, was das Ergebnis eines solchen Kompromisses, eines solchen Abschlusses sein könnte, dann liegen die Vorteile natürlich auf der Hand.

Es geht um Sicherheit. Es geht um Grenzen. Es geht natürlich um alle Endstatus-Fragen. Aber ich sage ganz offen: Vielleicht muss man auch nicht alle Fragen im ersten Schritt lösen, sondern man kann erst einmal die Sicherheitsfragen, verbunden mit den Grenzfragen, in den Blick nehmen. Da erscheint es mir, dass man schon oft der Lösung sehr, sehr nahe war, und dass diese Dinge deshalb jetzt auch vorangetrieben werden sollten.

Ich sage auch ganz offen - ich habe es gestern auch dem Ministerpräsidenten gesagt: Wenn es die Notwendigkeit gibt, dass man einen Stopp des Siedlungsbaus vornimmt, dann sage ich: Ich weiß, dass das vielleicht für viele schmerzhaft ist; aber wie wird man in zehn, 20, 30, 40, 50 Jahren über die Frage denken, ob man drei Monate, sechs Monate oder neun Monate lang nicht gebaut hat? Wenn das Ergebnis wirklich ein Abschluss ist, mit dem ein friedliches und sicheres Leben für Israel möglich ist, dann würde ich sagen, dass dieses Ziel gegenüber der Härte des Kompromisses überwiegt, den man jetzt eingehen muss.

Mein Fazit ist: Wer glaubt, er könne warten, irrt. Die Dinge liegen auf dem Tisch. Ich glaube nicht, dass sich die Lage in den nächsten Monaten, in der nächsten Zeit verbessert, sondern dass die Interessen gut vertreten werden können, wenn man es jetzt ernsthaft angeht. Es geht nicht um Verhandlungen um der Verhandlungen willen, sondern es geht darum, das Ergebnis wirklich zu erreichen. Ich weiß - ich habe auch oft mit den Palästinensern darüber gesprochen -, dass das alles nicht einfach ist. Ich weiß auch, dass man viele Zweifel haben kann. Aber ich glaube, es gibt keine bessere Antwort, als zu sagen: Wir versuchen es mit aller Bereitschaft zum Kompromiss, weil die Interessen des Landes, die Interessen Israels so klar auf dem Tisch liegen.

Was kann Europa dazu tun? Wir haben das Gefühl, dass wir durchaus aktiv das Wort ergreifen und unsere Bereitschaft zeigen sollten, hilfreich zu sein. Wir sollten das Wort im Gespräch mit unseren amerikanischen Freunden ergreifen, mit dem amerikanischen Präsidenten und der amerikanischen Außenministerin, genauso wie innerhalb der Europäischen Union. Wir wissen, dass wir Verpflichtungen und Verantwortung haben. Wir sind uns auch bewusst, dass aus einer Lösung des Nahost-Konflikts und der Entstehung einer Zwei-Staaten-Lösung vielleicht neue Verantwortlichkeiten für uns entstehen könnten. Dazu müssen wir bereit sein, wenn wir das, was ich Ihnen gesagt habe, ernst nehmen, nämlich dass für die Bundesrepublik Deutschland die Sicherheit Israels zur Staatsräson gehört.

Ich will einen weiteren Aspekt erwähnen, der auch zu den Bedrohungen gehört, die wir gewärtigen müssen: Die Situation im Iran. Das Nuklearprogramm des Iran ist eine Bedrohung. Die gesamte Haltung des Iran gerade im Hinblick auf Israel ist eine Bedrohung. Wir haben es nach langer Zeit geschafft, international gemeinsam mit China und mit Russland Sanktionen aufzulegen. Ich schließe nicht aus, dass es zu weiteren Sanktionen kommen muss, weil die Bereitschaft des Iran nicht erkennbar ist, über das Nuklearprogramm zu verhandeln und Transparenz zu zeigen. Ich weiß, dass diese Bedrohung bei Ihnen noch sehr viel stärker empfunden wird. Aber ich sage auch immer wieder in Deutschland, was die Fähigkeiten von Trägerraketen anbelangt: Es ist letztlich auch eine Bedrohung für Europa, es ist nicht nur eine Bedrohung für Israel.

Neben der Bedrohung durch das Nuklearprogramm des Iran ist eine weitere Bedrohung zu verzeichnen, nämlich die des internationalen Terrorismus. Auch hier ist es so, dass wir in gemeinsamer Verantwortung stehen. Ich will beispielsweise nur das Stichwort Afghanistan nennen.

Wenn wir über globale Umbrüche sprechen, dann geht es auch um den Zugang zu Energie, den Schutz des Klimas, um einen freien Welthandel. Es geht um viele globale Herausforderungen. Die Welt ist im Umbruch. Ich glaube, das ist die Bestandsaufnahme, die wir miteinander teilen. Wenn eine Welt im Umbruch ist, dann ist es ganz wichtig, dass wir unsere Interessen klar vertreten, aber sie auch klar umsetzen. Dazu gehört sicherlich, dass auch immer wieder schmerzhafte Kompromisse notwendig sind. Ich hoffe, dass wir in der Diskussion noch etwas herausarbeiten können, in welcher Art und Weise wir mit diesen Umbrüchen zu unserem Nutzen umgehen können.

Ich glaube jedenfalls, dass in Israel - in einer Umgebung, in der es wenige Freunde gibt und in der gerade in dem Land, das schon über Jahrzehnte in stabilem Frieden mit Israel gelebt hat - der Umbruch, den wir gerade gewärtigen, eher neue Unsicherheiten und Fragezeichen aufwirft. Meine Schlussfolgerung daraus ist: Umso wichtiger ist, dass das, was wir und in diesem Falle auch Israel bewegen können, auch bewegt wird, und zwar zum Guten für das Land und zum Guten für uns alle.


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Quelle:
Bulletin Nr. 14-2 vom 01.02.2011
Reise nach Israel vom 31. Januar bis 1. Februar 2011 -
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Besuch des
Instituts für nationale Sicherheitsstudien
(Institute for National Security Studies) am 1. Februar 2011 in Tel Aviv
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2011