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THEORIE/174: Autokratien am Scheideweg - Modell zur Erforschung diktatorischer Regime (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 133/September 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Autokratien am Scheideweg
Ein Modell zur Erforschung diktatorischer Regime

Von Wolfgang Merkel und Johannes Gerschewski


Kurzgefasst: Wie lässt sich die Stabilität diktatorischer Regime erklären, wie der Moment entscheidender Instabilität oder des Falls einer Diktatur? Das ist die Ausgangsfrage eines WZB-Projekts über critical junctures, der Phase, in der sich die Zukunft autokratischer Herrschaft entscheidet. Entwickelt wird hier ein Drei-Säulen-Modell als Grundlage für differenzierte Einzelanalysen. Dabei werden die tragenden Säulen jeder Diktatur (Legitimität, Kooptation, Repression) und die Wechselwirkungen analysiert.


Wir wissen viel über Demokratien und die Demokratisierung politischer Systeme. Auch wenn es die Demokratietheorie nicht gibt, so können wir doch mit Fug und Recht von speziellen Demokratietheorien sprechen: Theorien der repräsentativen, direkten, deliberativen, defekten, illiberalen, präsidentiellen oder parlamentarischen Demokratie. Diese Teiltheorien erfüllen keineswegs immer den Anspruch, hinreichend ausgereift zu sein; dennoch wissen wir theoretisch wie empirisch erheblich mehr über demokratische als über autokratische Herrschaftsformen. Unser Wissen über Diktaturen ist eher partiell. Wir verdanken es Hannah Arendt, Carl J. Friedrich, Ernst Nolte, Giovanni Sartori oder Juan Linz, um nur einige zu nennen. Sie haben sich im 20. Jahrhundert explizit mit Diktaturen befasst. Von Diktaturtheorien kann aber nicht die Rede sein.

Dies ist umso bemerkenswerter, als wir es bei Diktaturen mit Herrschaftsformen zu tun haben, die sich zäh in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts behaupten. Dies wurde nach dem Ende teleologischer Geschichtsfantasien gerade in der jüngsten Vergangenheit deutlich. Es mehrten sich in den letzten Jahren historische, politische und politikwissenschaftliche Prognosen, die nicht nur das Ende der großen, dritten Demokratisierungswelle diagnostizierten, sondern gar die "Rückkehr der autoritären Großmächte", wie es Azar Gat prognostizierte, oder ein "demokratisches Rollback", das Larry Diamond erwartete. Freedom House signalisiert nun seit vier Jahren einen leichten, aber kontinuierlichen Rückgang der weltweiten Demokratiewerte; Ende 2010 wertete es noch 42 Regime weltweit als "not free", also als offene Diktaturen.

Auch die externe Demokratieförderung produzierte eher ernüchternde Ergebnisse. Ökonometrisch-statistische Analysen können keinen signifikanten Einfluss von externer Demokratieförderung auf die Demokratisierungschancen eines Landes belegen. China, Vietnam, Singapur, Russland, Iran oder auch Venezuela zeigen zudem, dass der Wettlauf der Systeme nie wirklich gewonnen wurde. Dabei ist nicht nur deren schieres Überleben gemeint, sondern vor allem die wachsende Strahlkraft für die wirtschaftliche Prosperität und die politische Ordnungsleistung dieser Systeme im regionalen Kontext. Ob die jüngsten Ereignisse in der arabischen Region etwas grundlegend ändern, bleibt abzuwarten. Skepsis ist hier angebracht.

Kennzeichnend für die jüngere Autokratieforschung ist ein systematisch-analytischer Zugriff auf diktatoriale Regime, der sich von der stärker deskriptiven Totalitarismus- und Autoritarismusforschung der 1950er bis 1970er Jahre abhebt. Die gegenwärtige Forschung ist stärker politikwissenschaftlich ausgerichtet, verfolgt Vergleichsanalysen mit hohen Fallzahlen, sucht nach verallgemeinerbaren Theorieaussagen und setzt sich damit sichtbar von der meist historischen Forschung ab, die viele Einzelstudien und Paarvergleiche vorgelegt hat.

In der politischen Regimeforschung geht es um "big questions", wie Barbara Geddes es im Jahr 1999 formulierte. Gerade deshalb gibt es auf diesem Gebiet einen epistemologischen Graben, der die Mikro- von der Makroperspektive trennt. Gegenwärtig dominieren wieder einmal die handlungstheoretischen Beobachtungen aus der Mikroperspektive. Über spieltheoretisch modellierte Interaktionsprozesse innerhalb von Herrschaftseliten hat Geddes begründet, dass "Ein-Partei-Regime" mit einer durchschnittlichen Lebensdauer von knapp 23 Jahren stabiler als "personalistische Regime" (15,1 Jahre) und "Militärregime" (8,8 Jahre) sind. Militärregime stehen häufig vor dem Dilemma, entweder die Integration der Streitkräfte zu sichern oder die politische Herrschaft durch eine Militärdiktatur zu gewährleisten, die bisweilen außerhalb der normalen Befehlshierarchie steht.

Andere Regime, vor allem Ein-Partei-Regime, sind besser vor solchen Konflikten gefeit, weil sie auf institutionalisierte Konfliktmechanismen zurückgreifen können. Als Achillesferse personalistischer Regime erweist sich dagegen immer wieder die Nachfolgefrage. Es fehlen akzeptierte Verfahren, die die Kontingenz wenig formalisierter, dynastischer oder quasi-dynastischer Erbansprüche reduzieren könnte. Im Unterschied zu den meist ideologischen Ein-Partei-Regimen verfügen personalistische und militärische Regime zudem über eine geringere ideologische Loyalitätsreserve.

So wichtig die Einsichten sind, die spieltheoretisch inspirierte Erklärungen erlauben, so bleibt doch das Rätsel, wie allein mikro-fundierte Erklärungen das Makrophänomen der Regimestabilität erklären sollen. Was in der Diktatur- wie in der Regimeforschung insgesamt Not tut, ist ein sinnvoller Anschluss von mikro- an makrotheoretische Elemente. Ein solcher Ansatz mittlerer Reichweite ist analytisch ergiebiger, um big questions beantworten zu können, als makroinspirierte Korrelationsanalysen oder spieltheoretisch modellierte Realitätsausschnitte. Einen theoretischen Rahmen für einen solchen synthetischen Anschluss bietet der Historische Institutionalismus, wie er seit Mitte der 1990er Jahre schrittweise entwickelt wurde. Der Historische Institutionalismus als jüngste Variante des Neoinstitutionalismus erlaubt folgende analytische Operationen: Er kann Strukturen mit Akteuren sinnvoll verknüpfen; er eignet sich als theoretischer Rahmen für quantitative wie für qualitative Vergleiche; und er vermag Kontinuität wie Wandel zu erklären.

Politisches Handeln wird über Gelegenheitsstrukturen von Institutionen gefiltert. Diese strukturieren Handlungsanreize und beeinflussen Präferenzen, Koalitionen und Strategien von Akteuren. Einmal etabliert, entwickeln Institutionen sich selbst verstärkende Tendenzen: Interessen haben sich formiert, Erwartungs- und Kalkulationssicherheiten herausgebildet. "Investitionen" der Akteure in die strategische Ausrichtung an solchen Institutionen wollen sich amortisieren. So entwickeln sich institutionelle Pfade, die eine erhebliche Befestigung erfahren. Es bilden sich Pfadabhängigkeiten heraus, die selbst beim Aufkommen effizienterer institutioneller Alternativen Bestand haben können.

Pfade können aber auch enden oder verändert werden: insbesondere in der Folge von critical junctures. In der Regimeforschung können diese als einschneidende Situationen akkumulierter Krisen gedeutet werden. In solchen Phasen verflüssigt sich die normierende Verhaltensprägung der Institutionen, Akteure bekommen einen größeren Handlungsspielraum. Die Konsequenzen dann getroffener Entscheidungen sind meist sehr weitreichend und können wiederum neue Pfadabhängigkeiten auslösen. An critical junctures steht das Regime selbst auf dem Spiel. Der Ausgang ist keineswegs voraussehbar. Er hängt in hohem Maße vom Verhalten und Entscheiden der relevanten Eliten ab. Es ist also durchaus kontingent, ob sich aus einer critical juncture eine Demokratie entwickelt oder ein hybrides Regime, ob es nur zu einem Austausch der Regierungskoalition oder der Führungsspitze kommt und die alten Eliten ein erneuertes autokratisches Gleichgewicht herstellen können. Polen nach 1990, die Sowjetunion und Russland nach 1993 oder China nach 1989 und der Iran nach 2009 zeigen die Bandbreite der unterschiedlichen Regimeformen an, die sich aus critical junctures entwickelt haben. In Tunesien, Ägypten, Libyen und den anderen arabischen Ländern ist der Ausgang dieser Entwicklung noch völlig offen.

Um die große Frage des Überlebens oder Ablebens diktatorischer Regime zu erklären, müssen folgende drei Rätsel gelöst werden: Welche Mechanismen erklären die Reproduktion autokratischer Herrschaft? Was erklärt das Entstehen von critical junctures? Wie reagieren autokratische Herrscher in critical junctures?

Einzelfragen aber geben noch keinen wissenschaftlichen Forschungsansatz ab, selbst wenn sie analytisch angemessen sind. Es geht vielmehr darum, ihre wechselseitige Bedingtheit zu erkennen und auf dem Synthesegebot von Struktur und Handlung einen analytischen Forschungsrahmen zu entwickeln, der hier als "Drei-Säulen-Modell" präsentiert wird.

Diktatorische Regime gründen ihre Herrschaft prinzipiell auf drei Säulen: Legitimation, Repression und Kooptation. Die Legitimation speist sich dabei im Wesentlichen aus zwei Quellen: einer normativ-ideologischen und einer leistungsbezogenen. Antiliberalismus, Antiparlamentarismus, Rassismus, Nationalismus, law and order, religiös-anachronistische Heilsordnungen, aber auch (marxistisch-leninistische) Zukunftsentwürfe vermögen zumindest zeitweise normative Zustimmung unter jenen zu erzeugen, die der Herrschaft unterworfen sind. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben faschistische und kommunistische Ideologien ihre normative Überzeugungskraft jedoch weitgehend verloren. Wenn überhaupt, sind es gegenwärtig Varianten des radikalen politischen Islam, die eine ideologische Bindungsfähigkeit innerhalb autokratischer Regime entwickeln können. Da aber auch sie die Beschränkung fundamentaler Menschenrechte zum Kanon ihres Herrschaftsanspruchs erhoben haben, drohen die Quellen ihrer Heilsversprechen an der repressiven Wirklichkeit auszutrocknen. Auch deshalb sind diktatorische Regime grundsätzlich instabiler und in besonderer Weise auf ihre Leistungsbilanz auf den Gebieten Wirtschaft sowie Sicherheit und Ordnung angewiesen.

Es ist unumstritten, dass Autokratien vor allem auf Repression beruhen. Es gibt nicht wenige Versuche, Repression als das definierende Merkmal autokratischer Herrschaft herauszustellen. Dies wird vor allem in Hannah Arendts klassischer Schrift "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" deutlich. Repression kann unterschiedliche Formen und Intensitäten annehmen. Obwohl der Übergang fließend ist, lässt sich zwischen "weicher" und "harter" Repression unterscheiden. Während weiche Repression vor allem auf die Einschränkung politischer Rechte wie der Versammlungs-, Meinungs- oder Pressefreiheit abzielt, richtet sich harte Repression vorrangig auf den Kern der Menschenrechte wie physische Integrität und individuelle Freiheit. Es ist empirisch zwar nachzuweisen, dass autoritäre Herrschaftseliten auf die Bedrohung des Status quo mit erhöhter Repression reagieren. Der Einfluss von Repression auf die Unterbindung von Protest ist jedoch unklar und stark kontextabhängig. Es wird in der Forschung eine positive wie eine negative, eine umgekehrt U-förmige als auch eine nicht existente Beziehung zwischen der Repression und dem Abklingen von Protest aufgezeigt. Repression allein kann ein politisches Regime nicht dauerhaft stabilisieren. Die damit verbundenen Legitimationsverluste sind in der Regel hoch: Steigt die Repression, sinkt die Legitimation, und vice versa.

Die dritte Herrschaftssäule ist Kooptation. Über den selektiven Einsatz der Kooptation kann es den autokratischen Herrschaftseliten gelingen, wichtige Akteure und Gruppen außerhalb des eigentlichen Regimekerns an die Diktatur zu binden, damit diese ihre Ressourcen nicht gegen das Regime einsetzen. Solche strategisch wichtigen Akteure rekrutieren sich dabei zumeist aus den Wirtschaftseliten, dem Sicherheitsapparat und dem Militär. Ämter, politische Privilegien und wirtschaftliche Ressourcen sind die häufigsten Tauschpfänder "politischer Renten", die zur Kooptation bewegen sollen. Ebenso verbreitet sind Korruption, Klientelismus und der Aufbau patrimonialer Netzwerke. Die autokratische Regimeelite muss dabei einerseits die relevanten Akteure für das Regime gewinnen, während sie andererseits darauf achten muss, dass keiner der Akteure zu viel Macht anhäuft. Die vorhandenen Ressourcen begrenzen das Ausmaß solch erkaufter Kollaboration mit dem Regime. Über die meisten Ressourcen verfügen in der Regel Erdöl exportierende Rentierstaaten.

Ein heuristischer Vorteil des Drei-Säulen-Modells liegt darin, dass es ermöglicht, die Auslöser von Krisenphänomenen in den jeweiligen Säulen systematisch zu lokalisieren. Es ist anzunehmen, dass Brüche in einer Säule temporär durch die Befestigung der anderen Säulen ausgeglichen werden können. Gleichzeitig können die Risse in einer Säule jedoch die anderen Säulen überlasten und zu einem allgemeinen Zusammenbruch führen. Je höher andererseits die Institutionalisierung innerhalb der Säulen und je angemessener das Gleichgewicht zwischen den Säulen ist, umso stabiler ist das jeweilige autoritäre System. Eine möglichst hohe Legitimation, eine möglichst geringe (harte) Repression und eine mittlere Kooptation dürften ein ideales Equilibrium für das Überleben von Autokratien abgeben. Dies ist ressourcenschonend, minimiert die nicht intendierten Folgen und ist deshalb systemstabilisierend.

Das Drei-Säulen-Modell ist noch keine Theorie. Aber es gewährt einen theoretischen Schutz vor Deskription ohne Erklärungskraft. Und es bietet einen heuristischen Rahmen, der die Ursachen von Stabilität wie Instabilität höchst unterschiedlicher diktatorialer Herrschaftssysteme nicht nur vergleichbar, sondern auch erklärbar machen kann.


Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen. Er leitet das Team, das in einem für drei Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt die Überlebenswahrscheinlichkeit von Diktaturen im weltweiten Maßstab erforscht. Die weiteren Mitarbeiter im critical junctures-Projekt sind Christoph Stefes, Johannes Gerschewski, Alexander Schmotz und Dag Tanneberg.
wolfgang.merkel@wzb.eu

Johannes Gerschewski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im critical junctures-Projekt. Seit 2008 ist der Politikwissenschaftler und Diplom-Kulturwirt Doktorand an der Berlin Graduate School of Social Sciences und assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute for Global and Area Studies (Hamburg).
gerschewski@wzb.eu


Literatur

Diamond, Larry (2008): "The Democratic Rollback. The Resurgence of the Predatory State". In: Foreign Affairs, Vol. 87, No. 2, S. 36-48.

Gat, Azar (2007): "The Return of Authoritarian Great Powers". In: Foreign Affairs July/August 2007, online:
http://www.foreignaffairs.com/articles/62644/azargat/the-return-of-authoritarian-great-powers (Stand: 15.06.2009).

Geddes, Barbara (1999): "What Do We Know about Democratization after Twenty Years?". In: Annual Review of Political Science, No. 2, S. 115-144.

Merkel, Wolfgang (2010): Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2., überarb. u. erw. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

Pierson, Paul (2004): "Increasing Returns, Path Dependence and the Study of Politics". In: American Political Science Review, Vol. 94, No. 2, S. 251-267.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Drei-Säulen-Modell": Critical Junctures in autokratischen Regimen


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 133, September 2011, Seite 21 - 24
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2011