Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

THEORIE/178: Die Welt regieren ohne Weltregierung (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 141, September 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Welt regieren ohne Weltregierung
Staaten, Gesellschaften und Institutionen wirken auf vielfältige Weise zusammen

von Michael Zürn



Kurz gefasst: Die Lösung grenzüberschreitender und oft weltweiter Probleme erfordert internationale Regelungen. Global Governance entwickelt sich durch das Zusammenwirken von internationalen Institutionen, Regierungen und Zivilgesellschaft. Wenn die Regelungen effektiv sind, greifen sie dabei tief in vormals nationale Angelegenheiten ein. Angesichts der Koordinations-, Legitimations- und Gerechtigkeitsprobleme von Global Governance regt sich inzwischen auch Widerstand gegen globale Regelungen - die internationale Politik ist stärker politisiert.


Klimawandel, Verlust an Biodiversität, weltweit operierender Terrorismus, Banken-, Währungs- und Finanzkrisen - solche globalen Probleme sind nicht mehr von Nationalstaaten allein zu lösen. Eine mit Gewaltmonopol und Legitimität ausgestattete zentrale Weltregierung existiert nicht. In Entwicklung begriffen ist aber ein System globalen Regierens, das die Politikwissenschaft als Global Governance bezeichnet. Es umfasst die Gesamtheit der kollektiven Regelungen, die auf globale Problemlagen oder Sachverhalte zielen. Governance umfasst dabei den Regelungsinhalt wie auch die Normen, die den Prozess beschreiben, über den eine Regelung zustande kommt und durchgesetzt wird. Die beteiligten Akteure rechtfertigen Governance mit dem Anspruch, dem gemeinsamen Interesse eines Kollektivs oder - stärker noch - dem Gemeinwohl zu dienen, obgleich sich dahinter zu oft andere Motive verstecken.

Nationale Regierungen spielen nach wie vor eine wichtige Rolle. Sie koordinieren und harmonisieren ihre Politik, gegebenenfalls beziehen sie auch nichtstaatliche Akteure ein. Die wechselseitige Verpflichtung, auf eine diskriminierende Handelspolitik zu verzichten, ist ein Beispiel für dieses globale Regieren durch gemeinsames Regierungshandeln.

Es haben sich zunehmend auch Formen transnationalen Regierens entwickelt: Gesellschaftliche Gruppierungen wirken grenzüberschreitend zusammen und geben sich selbst Regeln. Die Domain-Namen im Internet zum Beispiel werden durch ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) vergeben, ohne dass Regierungen formal beteiligt sind. In einer Mischform werden Staaten in sogenannten Public-Private-Partnerships Teil eines transnationalen Arrangements, wie dies etwa die International Commission on Large Dams (ICOLD) ist, die sich seit über 90 Jahren mit Problemen großer Talsperren befasst.

Es ist das Gesamtarrangement dieser verschiedenen Steuerungsformen, die Global Governance ausmacht. Mit der Entwicklung solcher Steuerungsformen hat sich die internationale Politik grundlegend gewandelt. Es entsteht nämlich internationale politische Autorität: Staaten erkennen formal oder de facto an, dass Entscheidungen auf der internationalen Ebene getroffen werden können, die die eigene Jurisdiktion betreffen und selbst dann als bindend anzusehen sind, wenn sie den eigenen nationalstaatlichen Regelungen und Prioritäten widersprechen. Das Delegieren einer Entscheidungskompetenz an den internationalen Strafgerichtshof oder die Bereitschaft, Mehrheitsentscheidungen des Sicherheitsrats der UNO zu akzeptieren, sind Beispiele für die Entstehung politischer Autorität jenseits des Nationalstaats.

Damit wird das kennzeichnende Strukturmerkmal traditioneller internationaler Politik untergraben: Internationale Politik ist nicht mehr nur horizontale Politik zwischen Staaten, sondern besitzt nun auch vertikale Komponenten zwischen internationalen Institutionen einerseits und Staaten sowie Individuen andererseits. Global Governance wirkt damit tief und machtvoll in nationale Gesellschaften hinein, ohne dass dies durch die nationale Regierung einfach unterbunden werden kann.

Der Begriff Global Governance und die damit verbundenen politischen Abläufe werden längst auch kritisch beäugt. Der Politikwissenschaftler Claus Offe beklagt zum Beispiel die Subjektlosigkeit des Governancebegriffs, der sich etwa im Vergleich zum Begriff des Regierens ergibt: "Es geschieht etwas, aber niemand hat es getan." Die politischen Prozesse, die aus der Perspektive der Global Governance analysiert werden, machen es in der Tat schwer, bestimmten Politikergebnissen Verantwortlichkeiten zuzuschreiben. Global Governance - so wie hier verwendet - ist aber kein politisches Programm, sondern ein analytischer Begriff. In diesem Sinne dient es nicht der Rechtfertigung globaler Verhältnisse - wie das frühen, politisch benutzten Verwendungen des Begriffs vorgeworfen werden konnte -, sondern der kritischen Analyse globaler politischer Prozesse. Aus einer solchen kritischen Perspektive sind drei Strukturprobleme der Global Governance besonders augenfällig.

Koordination: Global Governance setzt sich aus einem unübersichtlichen Flickwerk von internationalen Institutionen zusammen, die zumeist sektoral, manchmal aber auch regional begrenzt sind. Die Begrenzungen sind zumeist unscharf. Es gibt fast immer unvollständige Überlappungen, was die Mitglieder wie auch die Themen betrifft. Die Welthandelsorganisation ist für den Handel zuständig, die Weltgesundheitsorganisation für die Gesundheit. Was aber geschieht mit gesundheitsrelevanten Handelsfragen - oder handelt es sich dann doch um handelsrelevante Gesundheitsfragen?

Das Fehlen von Mechanismen zur Koordination von Governance, wie sie auf der nationalstaatlichen Ebene vor allem von Regierungschefs (Richtlinienkompetenz beim Streit zwischen Ministerien), Verfassungsgerichten (Ist eine Sicherheitsmaßnahme vereinbar mit den Freiheitsrechten?) und der öffentlichen Meinung (Wollen wir Wachstum oder Umweltschutz?) bereitgestellt wird, verweist auf einen ersten strukturellen Mangel von Global Governance. Zwar interagieren die unterschiedlichen internationalen Institutionen miteinander und passen sich dabei kontinuierlich einander an, aber eine prinzipienorientierte Gesamtkoordination bleibt weitestgehend aus.

Insofern es überhaupt derartige Koordinationsleistungen gibt - am ehesten noch bei den G-8/20-Treffen - weisen sie eine stark exklusive Mitgliedschaft auf. Die Koordinationsleistungen der globalen Mehrebenen-Governance erweisen sich also als beschränkt und zugleich zufällig.

Es fehlen problemfeldübergreifende Instanzen, die Kollisionen zwischen Teilbereichen der Global Governance grundwerteorientiert behandeln - solche Instanzen zu haben, ist für eine konstitutionelle Ordnung zentral. Auch das Verhältnis zwischen internationalen und nationalen Regeln bleibt häufig unbestimmt und variiert je nach den nationalen Verfassungen der beteiligten Länder. Manche Länder lassen eine De-facto-Suprematie internationaler Verträge zu und befürworten die Ausbildung eines völkerrechtlichen ius cogens, eines zwingenden Rechts, das nicht durch andere Verträge abbedungen werden kann. Andere Länder beharren dagegen bedingungslos auf ihrer nationalen Souveränität. Das zeigt sich deutlich am Konflikt um die Entwicklung des Internationalen Strafgerichtshofs.

Auch das Verhältnis zwischen transnationalen Regimen und nationaler Rechtslage ist nicht selten nebulös. Während nationale Gerichte die lex mercatoria, das gewohnheitsbasierte internationale Handelsrecht, zu stützen scheinen, werden die von transnationalen Sportverbänden ausgesprochenen Sperren von Sportlern zunehmend von nationalen Gerichten infrage gestellt.

Im Ergebnis erweist sich Global Governance als äußerst fragmentiert. Die verschiedenen Bausteine fügen sich nicht zu einer kohärenten Ordnung zusammen. Somit bleibt die Sicherung von Grundrechten fragil und letztlich den Nationalstaaten überlassen (s. den Beitrag von Benjamin Faude, S. 10-12).

Legitimation: Global Governance erzeugt auch Legitimationsprobleme. Solange sich internationale Institutionen auf das bloße Interdependenzmanagement beschränkten, welches das Einverständnis jedes Mitgliedstaats voraussetzte, stellte sich das Legitimationsproblem kaum. Das ändert sich jedoch durch die zunehmende Autorität internationaler Institutionen. Nun wird auch deren Demokratisierung gefordert. Manche halten aber einen demokratischen Prozess jenseits des Nationalstaats für strukturell ausgeschlossen, da die EU und die anderen internationalen Organisationen die sozialen Vorbedingungen für Demokratie nicht erfüllen. Diese Skeptiker halten demokratische Legitimität nur im Rahmen eines demos für möglich, also einer politischen Gemeinschaft mit dem Potenzial für demokratisches Selbstregieren, wie es sich nur im Konzept der modernen Nation finden lässt. Jenseits des Nationalstaats fehlten demnach die sozialen Voraussetzungen für eine demokratische politische Gemeinschaft: der politische Raum. Das Zusammenfallen von Nation und Demokratie sei nicht historisch zufällig, sondern stelle einen systematischen und unauflösbaren Zusammenhang dar.

Es gibt aber auch eine optimistischere Deutung internationaler Institutionen. In demokratischen Kategorien gedacht sind demnach internationale Institutionen eine vernünftige Antwort auf Probleme, denen Demokratien in Zeiten der Globalisierung gegenüberstehen. Sie tragen nämlich dazu bei, die Inkongruenz zwischen sozialem und politischem Raum abzubauen. Theoretisch hilft das Aufkommen von denationalisierten Governance-Strukturen all jenen, die von externen politischen Entscheidungen betroffen sind, aber dort keine Stimme haben. In diesem Sinne sind die internationalen Institutionen nicht das Problem, sondern Teil der Lösung für die Probleme der modernen Demokratie. Gleichwohl wird auch von Vertretern dieser Position keineswegs bestritten, dass die bestehenden internationalen Institutionen erhebliche Demokratiedefizite aufweisen, die kurzfristig kaum zu beheben sind.

So entsteht ein wachsendes Bedürfnis nach anderen Formen der direkten Legitimierung internationaler Entscheidungen. Auf dieses Bedürfnis reagieren internationale Institutionen teilweise, indem sie neue legitimationsstiftende Verfahren wie etwa zum Schutz der Menschenrechte einrichten (vgl. den Beitrag von Monika Heupel und Gisela Hirschmann, S. 17-20). Allerdings können solche Mechanismen nicht den gesamten Legitimationsbedarf abdecken. So führt die Ausübung von Autorität auf der internationalen Ebene zu einem wachsenden Bewusstsein für die Bedeutung internationaler Institutionen, zur Mobilisierung gesellschaftlicher Interessen zum Zwecke ihrer Beeinflussung und zu einer zunehmenden Umstrittenheit - kurz zu ihrer Politisierung (vgl. Pieter de Wilde und Christian Rauh, S. 21-23).

Internationale Institutionen werden dabei nicht nur von transnationalen Nichtregierungsorganisationen wie ATTAC oder Greenpeace politisiert, sondern auch von aufstrebenden Mächten wie China, Indien und Brasilien (siehe Matthew Stephen, S. 13-16). Dass solche Länder ihre Kritik am Status quo inzwischen weniger an die Adresse der amerikanischen Regierung, sondern an internationale Institutionen richten, ist Ausdruck von Global Governance.

Liberaler Bias: Ein weiteres strukturelles Defizit von Global Governance betrifft die systematische Bevorzugung der Liberalisierung. Zum einen fällt es dem Nationalstaat in einer globalisierten Welt zunehmend schwer, die gewohnten Sozialstandards aufrechtzuerhalten. Im Zuge der Konkurrenz um mobiles Kapital hat sich eine Situation ergeben, in der die Vertreter der Sozialpolitik einer verschärften Begründungspflicht unterliegen - und dies obwohl in vielen westlichen Industrieländern das Gefälle zwischen Arm und Reich größer geworden ist. Dieser Verlust an nationalstaatlicher Effektivität auf dem Gebiet der Sozialpolitik konnte bisher nicht durch die Schaffung internationaler Institutionen aufgefangen werden. Internationale Institutionen scheinen wenig geeignet, um redistributiv in transnationale Märkte einzugreifen.

Zum anderen haben die meisten internationalen Institutionen selbst einen liberalisierenden Impetus. Ob es um die Beseitigung von Handelsbarrieren geht, die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen oder die Schaffung einheitlicher Bilanzierungsstandards: Der angestrebte Effekt ist meist die Schaffung offener Weltmärkte, um Effizienzgewinne einfahren zu können. Viel seltener geht es um die Regulierung der Märkte mit dem Ziel, Stabilität zu schaffen und unerwünschte Effekte zu verhindern. So wurde die Schwäche des internationalen Finanzregimes schon lange vor der Finanzkrise beklagt. Die mangelnde Regulation trug dann zumindest eine erheblich Mitschuld an der Krise.

Dieser weltmarktschaffende Impetus internationaler Institutionen ist zwar in jüngster Zeit relativiert und durch Marktinterventionen ergänzt worden. Aber trotz einiger Regeln in Bereichen der Umwelt, der Menschenrechte und jetzt auch bei Steuerfragen bleibt der Effekt der globalen Liberalisierung bestehen. Das ist auch eine der wesentlichen Kritiken seitens der aufstrebenden Mächte an den bestehenden internationalen Institutionen (siehe dazu Matthew Stephen, S. 13-16).

Die genannten Defizite von Global Governance sind also längst mehr als latente Strukturprobleme. Sie manifestieren sich in sozialem Widerstand gegen und in der Instrumentalisierung von Global Governance. Insofern steht das globale Regieren vor einem grundlegenden Dilemma: Es sind in der Sache oft globale Maßnahmen erforderlich, die aber im gegebenen institutionellen Rahmen und vor dem Hintergrund bestehender Legitimationsanforderungen schwerlich durchgesetzt werden können. Ob die zunehmende Manifestierung dieses Dilemmas und die damit verbundene Politisierung einen Weg aus dem Dilemma bahnt, bleibt abzuwarten.


Michael Zürn ist Direktor der Abteilung Global Governance und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Außerdem ist er Koleiter des WZB Rule of Law Centers.
michael.zuern@wzb.eu


Literatur

Hooghe, Liesbet/Marks, Gary: "Types of Multi-Level Governance". In: Henrik Enderlein/ Sonja Wälti/Michael Zürn (Eds.): Handbook on Multi-Level Governance. Cheltenham: Edward Elgar 2010, pp. 17-31.

Kahler, Miles/Lake, David A. (Eds.): Governance in a Global Economy. Political Authority in Transition. Princeton N.J: Princeton University Press 2003.

Scharpf, Fritz W.: "Legitimität im europäischen Mehrebenensystem". In: Leviathan, 2009, Jg. 37, H. 2, S. 244-280.

Zürn, Michael/Ecker-Ehrhardt, Matthias (Hg.): Die Politisierung der Weltpolitik. Umkämpfte internationale Institutionen. Berlin: Suhrkamp 2013.

Zürn, Michael: "Global Governance as Multi-Level Governance". In: David Levi-Faur (Ed.), Oxford Handbook of Global Governance. Oxford: Oxford University Press 2012, pp. 730-744.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 141, September 2013, Seite 6-9
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2013