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WISSENSCHAFT/1202: Globalisierung à la carte (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 141, September 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Globalisierung à la carte
Die politische Ökonomie der Forschungskooperation mit China wird sich ändern

von Benjamin Becker und Ulrich Schreiterer



Kurz gefasst: Durch den Auftritt neuer Player in Süd-, Ost- und Südostasien wird die Wissenschaft zunehmend global. Vor allem China investiert massiv in seine Forschungsinfrastrukturen und wird aus deutscher Sicht als Partner für Kooperationsprojekte immer attraktiver. Geht damit eine Globalisierung von Herangehensweisen, Verhaltensnormen und Motivationen einher? Eine Befragung von 45 kooperationserfahrenen Wissenschaftlern beider Seiten lässt Zweifel zu. Die Triebfeder deutsch-chinesischer Forschungskooperationen liegt derzeit noch eher in der Ungleichzeitigkeit beider Länder als in einem gemeinsamen wissenschaftlichen Ethos.


Auch in der Wissenschaft grassiert das Globalisierungsfieber. Mit dem fulminanten Auftritt neuer Player und der rasanten Zunahme internationaler Forschungskooperationen und Kopublikationen ist ein globaler wissenschaftlicher Wettbewerb entbrannt: Chinesische Forscher publizierten 2010 viermal so viele Beiträge in Journalen, die im Science Citation Index (SCI) gelistet sind, wie 2000. Und während 1996 ein knappes Viertel aller Aufsätze in internationalen Zeitschriften multinationale Koautoren hatte, waren es 2011 bereits 35 Prozent.

Auf der Jagd nach neuen Herausforderungen, attraktiven Projekten und Kooperationschancen blicken auch deutsche Wissenschaftler inzwischen weit über Europa und Nordamerika hinaus auf die Schwellenländer Ost-, Süd- und Südostasiens. Viele davon unternehmen erhebliche Anstrengungen, Spitzenforschung zu fördern und ihren wissenschaftlichen Arbeiten weltweite Anerkennung zu verschaffen. Das setzt voraus, dass sie auf Englisch publiziert werden. So erscheinen neue potenzielle Forschungspartner auf dem Schirm westlicher Wissenschaftler. Zugleich werden Länder wie China in dem Maße als Wissenschaftsstandort attraktiver, indem sie Wissenschaft und Forschung finanziell üppig ausstatten. Die Zukunftsmusik, scheint es, spielt in Asien.

Die "exakten Wissenschaften" beanspruchen für ihre Methoden und Ergebnisse seit jeher Objektivität und universelle Gültigkeit. Doch wie belastbar ist dieser Anspruch angesichts der zunehmenden Globalisierung der Wissenschaft? Gewinnt sie durch das Aufeinandertreffen von Forschern aus ganz unterschiedlichen Kulturen keine neue Gestalt? Stoßen ihre westlich geprägten Praktiken und Regularien, Bewertungsmaßstäbe und Sichtweisen in der globalen Forschungskollaboration nicht auf Grenzen oder Widerstände, die ihre Hegemonie in Frage stellen? Bedeutet gemeinsame Forschungsarbeit mit Kollegen aus China nur mehr vom Gleichen, oder prallen darin vielleicht ganz unterschiedliche persönliche Motivationen, politische Ziele und Wissenschaftsverständnisse aufeinander?

Um solche Fragen geht es im WZB-Projekt "Globalisierte Forschung". Was erfahren wir aus den Kooperationen westlicher (Natur-)Wissenschaftler mit chinesischen Kollegen über die Bedingungen der Möglichkeit globalisierter Wissenschaft? Dafür haben wir in China, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz 45 leitfadengestützte Interviews mit hochkarätigen Forschern geführt, die über langjährige Erfahrungen in west-östlichen Kooperationen verfügen, und mit zwei Dutzend Vertretern von Förderagenturen, Stiftungen und Ministerien beider Seiten gesprochen. Wir fragten sie nach den Erfahrungen in und mit derartigen Projekten, nach Kooperationsmotiven und -zielen, eventuellen Spannungen sowie nach den besonderen Stärken, Schwächen und Leistungspotenzialen der jeweils anderen Seite.

Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber einfachen Verallgemeinerungen fügen sich die diversen bunten Einzelberichte in einigen Punkten zu einem erstaunlich klaren Bild. Danach hat die Globalisierung der Forschung, soweit es Arbeitsstile und Motivationen, Interessen und Vorgehensweisen von Wissenschaftlern betrifft, in China nur einige eng umrissene Bereiche erfasst, andere dagegen völlig unangetastet gelassen. Was dort passiert, ist eine selektive Globalisierung. So speist sich die Dynamik europäisch-chinesischer Forschungsprojekte bisher weniger aus gleichen Interessen und Fähigkeiten als aus typischen Unterschieden und Ungleichgewichten der beiden Seiten. Das oft wiederholte Bekenntnis zu Kooperation auf gleicher Augenhöhe erscheint insofern als Ausdruck politisch korrekten Wunschdenkens, das an der politischen Ökonomie der real existierenden Beziehungen haarscharf vorbeizielt.

Über welche Unterschiede sprechen wir? Zum Beispiel über die jeweiligen Gründe, aus denen sich Forscher überhaupt auf ein Kooperationsprojekt einlassen, das doch für die meisten komplettes Neuland darstellt. Über eine so große räumliche und kulturelle Distanz zusammenzuarbeiten, kostet viel Zeit und Mühe und birgt große Risiken, weil man den Erfolg und Nutzen eines Investments vorab nicht genau kalkulieren kann. Unseren Interviewpartnern aus Europa ging und geht es, von einer generellen Neugier auf das unbekannte Reich der Mitte einmal abgesehen, hauptsächlich darum, Zugang zu attraktiven Daten zu finden. Das sind zunächst Forschungsobjekte, die in China liegen oder dort eine besondere Beschaffenheit aufweisen, seien es Schwebstofffrachten des Jangtse, die erstaunliche Biodiversität einzelner Provinzen oder lange Reihen epidemiologischer Befunde.

Noch wichtiger aber sind die Gewinne an personellen und materiellen Ressourcen, der Zugriff auf Scharen hoch motivierter, hart arbeitender Wissenschaftler und Laborkräfte, leistungsfähige Geräte, Labors für arbeitsaufwendige Untersuchungen oder opulente Materialsammlungen. Technisch komplizierte Untersuchungen und Datenauswertungen lassen sich in China so rasch, gut und kostengünstig erledigen, wie es an deutschen, niederländischen und schweizerischen Instituten schlechterdings unmöglich wäre.

So waren unsere europäischen Interviewpartner voll des Lobs über den Arbeitseifer ihrer chinesischen Kollegen, die sich selbst unter kürzesten Zeitvorgaben mit vollem Einsatz auf neue Projekte stürzen und methodischen Schwierigkeiten mit allen nur erdenklichen Mitteln begegnen würden. Zurückhaltender äußerten sie sich allerdings über die Leistungsfähigkeit der chinesischen Kooperationspartner, soweit es unkonventionelle Denkansätze, Theorien und Methoden betrifft. Chinesen seien, tönte es geradezu stereotyp, nicht wirklich neugierig und scheuten meist davor zurück, bekannte Pfade zu verlassen. Sie entwickelten große Ausdauer und viel Talent, um Lösungen für existierende Probleme inkrementell zu perfektionieren, interessierten sich aber nicht für die Forschung um ihrer selbst willen. In dieser Präferenz für das Abarbeiten von Programmen und für inkrementelle Verbesserung spiegeln sich neben kulturellen Traditionen vermutlich auch die aktuellen Bewertungs- und Belohnungsstrukturen des chinesischen Wissenschaftssystems: Eine selbstbewusste scientific community, wettbewerbliche Projektförderung und peer review sind darin nur bloße Randerscheinungen.

Was chinesische Wissenschaftler über ihre Kooperationsmotive und ihre westlichen Kollegen berichten, hört sich ganz anders an. Nach dem Ende der Kulturrevolution habe man 1978 in der Forschung wieder bei null anfangen müssen; der Kontakt zur westlichen Welt sei anfangs eine schlichte Notwendigkeit gewesen, um Wissen und Fähigkeiten nach China zu holen. Inzwischen habe die chinesische Wissenschaft in der Spitze längst aufgeschlossen und könnte den Westen schon bald überholen - würde sie nicht stets von Europäern und Amerikanern ausgebremst, die den Zugang zur wichtigsten Reputationsquelle, den hochkarätigen internationalen Zeitschriften, kontrollieren. Wolle ein chinesischer Wissenschaftler darin veröffentlichen, komme er um Kooperationsprojekte nicht herum; er brauche die westlichen Partner als Steigbügelhalter, um die Diskriminierungen zu umgehen. Auch für die chinesische Seite dreht sich bei internationalen Forschungsprojekten also (fast) alles um Zugangschancen - wenn auch nicht zu materiellen und personellen Ressourcen oder zu Daten, sondern darum, in angesehenen Zeitschriften publizieren zu können, um die eigene Positionierung im globalen Wissenschaftswettbewerb zu verbessern.

Diese bedingungslose Akzeptanz von Publikationen in Top-Journals als Maß aller Dinge ist ein besonders auffälliges Element der selektiven Globalisierung der chinesischen Wissenschaft. Sie sei dem "Fluch der Zahlen" verfallen, formulierte es ein Sozialwissenschaftler aus Dalian. Wissenschaftler und Institutionen definieren ihren (Selbst-)Wert so gut wie ausschließlich durch Publikationslisten und Impact-Faktoren, Zitationsindizes und Rankings. Ungefragt verkünden alle, wo sie in fünf Jahren stehen wollen. Über ihre persönlichen Motive und Interessen für die Forschungsarbeit erzählen sie so gut wie nichts; ihr Verhältnis dazu erscheint als leidenschaftslos, rein instrumentell. In der Bereitschaft zur extrem kompetitiven, strikt karriereorientierten Arbeit und zur vollständigen Identifikation mit vermeintlichen Anforderungen der globalen Wissenschaft machen sie sich deren Zumutungen vollkommen zu eigen.

Kooperation ist das Mittel der Wahl, um im gnadenlosen Wettbewerb zu obsiegen und China nach vorn zu bringen. Nicht wenige chinesische Forscher träumen von der Etablierung eigener Journale, die denen des angelsächsischen Raums eines Tages den Rang ablaufen könnten. Dass man die chinesische Gesellschaft häufig als "kollektivistisch" beschrieben hat, beeinträchtigt jedenfalls nicht den Siegeszug einer globalisierten Wissenschaft, in der jeder ständig mit knallharten Bandagen um seinen Platz kämpfen und die anderen ausstechen muss.

Andere Elemente eines globalen, westlich geprägten Skripts moderner Wissenschaft spielen dagegen in China und für China keine Rolle. So betonten die europäischen Interviewpartner ungefragt, wie wichtig und unverzichtbar Freiheit und institutionell garantierte Eigenverantwortlichkeit für gute Forschung seien. Einflussnahmen seitens der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft auf die Wissenschaft müssten unterbleiben oder strikt begrenzt werden. Die enge Bindung der chinesischen Forscher an Staat und Partei sei problematisch und der Qualität ihrer Arbeit kaum zuträglich.

In China stieß diese Auffassung auf absolutes Unverständnis. Die Konzentration auf anwendungsbezogene Forschung und die politische Steuerung aller Forschungsaktivitäten seien vollkommen legitim, denn gute Wissenschaft müsse relevant sein und dem Land dienen. Wer dabei mitmachen wolle, brauche einen direkten Draht zur Macht. Dass Forschungsgebiete politisch gesetzt und Projektmittel aufgrund persönlicher Verbindungen zu Ministerien usw. verteilt werden, empfanden daher nur ganz wenige unserer Gesprächspartner als fragwürdig. Nur der wissenschaftlichen Neugier zu folgen, über Dinge zu forschen und Projekte zu finanzieren, von denen niemand wisse, wozu sie vielleicht einmal gut sein könnten, bezeichneten die meisten dagegen als frivole Vergeudung von Ressourcen.

Durch die selektive Übernahme des westlichen Skripts für gute Wissenschaft stellt sich die aktuelle Lage der chinesischen Forschung als eine Art Hybrid dar. Auf der einen Seite sind ihre Protagonisten eifrig darauf bedacht, den Verheißungen der modernen Wissenschaft bezüglich Innovation, Fortschritt und Entwicklung zu glauben, und sie wollen sich durch die bereitwillige Nachahmung globaler Normen einen Platz an der Sonnenseite der großen Wissenschaftsnationen dieser Welt sichern. Auf der anderen Seite verstehen sie Wissenschaft nicht als ein Funktionssystem, das eigenen Zwecken folgt und bestimmter Freiheitsgrade für "ziellose" Forschung bedarf, um erfolgreich und für die Gesellschaft von Nutzen zu sein. Stattdessen vertraut man lieber auf Ziele, die von oben vorgegeben werden und die man Schritt für Schritt abarbeiten will.

Daher wird Wissenschaft in China zumindest auf mittlere Sicht noch deutlich anders funktionieren und aussehen als Wissenschaft in der westlichen Welt - jedenfalls soweit es ihre Organisationsform und Arbeitsweisen, Ziele und inneren Triebkräfte angeht. Sollte gute Wissenschaft tatsächlich auf normativen Prinzipien und Verhaltensstandards beruhen, die eine hohe Affinität zu denen liberaler Demokratien aufweisen, wie Robert K. Merton, einflussreicher Großmeister der Wissenschaftssoziologie, 1942 vermutet hatte, ist von derartigen politischen Ko-Transfer-Effekten in China nicht viel zu bemerken.

Anders als es Wissenschaftsfunktionäre und Förderorganisationen auf beiden Seiten gern behaupten, beruhen die Erfolgschancen deutsch-chinesischer Forschungskooperationen momentan vor allem auf Ungleichzeitigkeit und Ungleichheit. Chinesische und europäische Wissenschaftler mögen sich technisch auf Augenhöhe befinden und an denselben institutionellen Normen orientieren, verfolgen aber ganz unterschiedliche Ziele. Europäer kommen nicht nach China, um neue kreative Fragestellungen und wissenschaftliche Inspiration zu finden. Was die Kooperation aus ihrer Sicht rechtfertigt und befeuert - der Zugang zu einem großen Reservoir technisch sehr guter Wissenschaftler und einzigartigen Ressourcen -, beruht in erster Linie auf komparativen Kostenvorteilen. Je rascher sich die Wissenschaft Chinas entwickelt und je ähnlicher ihr Betriebssystem dem in westlichen Ländern wird, desto unattraktiver wird diese Möglichkeit zur Nutzung von Kostenvorteilen - und desto weniger brauchen chinesische Forscher westliche Partner für den Zugang zu hochkarätigen Journalen. Globale Wissenschaft, so scheint es, kommt derzeit ohne globalisierte, überall gleich getaktete Verhaltensnormen, Governance-Formen und Praktiken aus, indem sie unterschiedliche Interessenlagen kapitalisiert. Gleichen sich diese einmal an oder aus, muss die politische Ökonomie globalisierter Forschung neu austariert werden.


Benjamin Becker ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe der Präsidentin. Er befasst sich vor allem mit Wissenschaftspolitik, Globalisierung und Soziolinguistik.
benjamin.becker@wzb.eu

Ulrich Schreiterer befasst sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am WZB vor allem mit der Internationalisierung der Forschungs- und Hochschulpolitik und mit institutionellen Entwicklungen im tertiären Sektor.
uli.schreiterer@wzb.eu


Literatur

Heintz, Bettina/Werren, Tobias: "Wie ist Globalisierung möglich? Zur Entstehung globaler Vergleichshorizonte am Beispiel von Wissenschaft und Sport". In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2011, Jg. 63, H. 3, S. 359-394.

Hofstede, Geerd: Cultures and Organizations - Software of the Mind. London: Mc-GrawHill 1991.

Hvistendahl, Mara: "China's Scientific Output Rises - To Some Consternation". ScienceInsider 2011, online: http://news.sciencemag.org/scienceinsider/2011/04/chinas-scientific-output-risesto.html (Stand: 10.07.2013).

National Natural Science Foundation of China: "150. Pressemitteilung vom 28.03.2012, online:
http://www.nsfc.gov.cn/Portal0/InfoModule_375/37962.html (Stand 10.07.2013).

The Royal Society: Knowledge, Networks and Nations: Global Scientific Collaboration in the 21st Century. London: The Royal Society 2011.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 141, September 2013, Seite 28-31
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2013