Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → IM MITTELPUNKT

DIE REDE/001: Mikis Theodorakis - Der Rat der Stunde?


Die einzige Lösung

Rede von Mikis Theodorakis während der Zeremonie anlässlich
seiner Ernennung zum Ehrenmitglied der Akademie von Athen
(Dienstag, 3. Dezember 2013)

Übersetzung aus dem Griechischen von Theo Votsos



Sehr geehrter Herr Präsident der Akademie von Athen,
sehr geehrter Herr Generalsekretär der Akademie von Athen,
sehr geehrte Herren und Damen Akademiemitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren,

Zunächst möchte ich dem Herren Präsidenten und dem Herren Generalsekretär herzlich für ihre einführenden Worte danken. Zu Dank bin ich aber auch allen Akademiemitgliedern verpflichtet, die mir die große Ehre erwiesen haben, mir die Möglichkeit einzuräumen, in diesen Minuten vom Podium der Höchsten Bildungseinrichtung unseres Landes, der Akademie von Athen, zu sprechen.

Als wir uns, Herr Präsident, vor einigen Jahren im Rahmen unserer Zusammenarbeit an Aischylos' "Choephoren", um die Wiedergabe der Düsternis von Versen wie "des Geschlechtes erdentiefem Kummer", "das unerträglich bittere Leid", "die bluttriefende Wunde", "die Pein, die kein Ende hat" oder "ein Unheil, das auf das andere folgt" bemühten, konnten wir uns nicht vorstellen, dass heute, einige Jahre später, diese Zeilen eine solch tragische Aktualität erlangen würden.
   Die Situation, in der wir uns befinden, ist in der Tat bedenklich genug, doch deswegen brauchen wir noch lange nicht Klagelieder anzustimmen; vielmehr sind wir als Erben einer einzigartigen Kultur zu jeder Zeit verpflichtet, uns auf die Suche nach Perspektiven und Visionen zu begeben.    Sicherlich werden sich viele, in erster Linie angesichts meines fortgeschrittenen Alters, gefragt haben, ob ich überhaupt imstande sein würde, heute persönlich in der Akademie zu erscheinen. Derart außergewöhnliche Ereignisse kommentieren wir in der Regel mit einem einfachen Wort, dem Wort "Zufall".
   Tief in meinem Inneren bin ich mir jedoch bewusst, dass sich verschiedene infernale und himmlische Kräfte verschworen haben, damit ich die Gelegenheit erhalte, heute und hier ein einziges Wort zu verkünden, ein Wort, das Sie in der Folge zu hören bekommen, ein Schlüsselwort, das vom Chaos in die Harmonie führt.
   Um die Größe und Bedeutung Griechenlands zu erfassen, muss man sich nach meinem Dafürhalten in die Lage versetzen, unser Land diachronisch in seinen kosmogonischen und historischen Dimensionen zu betrachten.
Von der ausgeprägten Zersplitterung, unter der Griechenland seit einiger Zeit leidet, und die insbesondere heute ein geradezu ausuferndes Ausmaß angenommen hat, geht konsequent die Gefahr aus, dass wir ein Volk ohne Heimat werden. Wie ein vom Baumstamm abgerissenes Blatt, das dem Zorn der Winde ausgeliefert ist.
   Aus diesem Grund, und im Hinblick darauf, dass es in unserem Inneren das Gewicht und die Gestalt des unversehrten, des GANZEN Griechenland annimmt, erfordert das Wort, von dem die Rede sein wird, eine gigantische Anstrengung von allen unseren Mitbürgern, auf das sie sich diesem unversehrten, diesem GANZEN Griechenland als ebenbürtig erweisen, bevor es zu spät ist. Bevor wir die rote Linie überschreiten, jenseits der eine Rückkehr nicht mehr möglich sein wird.
   So sei mir also erlaubt, Ihnen statt der üblichen Rede einen Vorschlag zu unterbreiten; einen Vorschlag, der, wie ich meine, dem Anspruch der Athener Akademie als geistiger Führungsinstanz, als Sprachrohr unseres nationalen Bewusstseins und als Erste Verfechterin der Interessen unseres Volkes und Landes durchaus angemessen ist.
   Mein Vorschlag lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen:
   NEUTRALITÄT: Und in einer Vision: Dass Griechenland die Schweiz der Kultur und des Friedens werden möge. Eine Vision, die symbolisch untermauert und getragen wird durch die Akropolis von Athen, dem weltweiten Inbegriff von Kultur, durch Olympia und Delphi, den globalen Wahrzeichen des Friedens und der Verbrüderung zwischen den Völkern der Welt.

Ich glaube, es ist an der Zeit, dass die Internationale Gemeinschaft der historischen Rolle, die Griechenland bei der Herausbildung der Globalen, vor allem aber der Westlichen Zivilisation und Kultur gespielt hat, ebenso tätige Anerkennung zollt wie dem Beitrag und der Opfer unseres Volkes am Altar der Freiheit.
   Unter anderem wird der Internationale Status der Neutralität die Vision der Freiheitskämpfer von 1821 vollenden, deren Kampf um die Erlangung der Freiheit unvollständig blieb, da sie nicht mit der Erlangung der vollständigen Nationalen Unabhängigkeit einhergegangen ist. Freiheit ist das Abschütteln des fremden Jochs. Unabhängigkeit ist die Befreiung von der weitreichenden Einmischung fremder Mächte in die inneren Angelegenheiten des Landes.
   Wie jeder Mensch vollendet sich ein Volk nur dann, wenn es ihm gelingt, nicht nur ein verantwortlicher "Bürger" zu werden, sondern auch zu bleiben, d. h. sich als solcher gegenüber jeder wichtigen, sein Volk und Land betreffenden Frage dauerhaft zu bewähren. Verantwortlich zu sein bedeutet, über die Freiheit zu verfügen, über sämtliche Probleme, die das Leben und die freie Entwicklung seines Heimatlandes aufwerfen, zu entscheiden und gemeinsam mit seinen Mitbürgern mitzuentscheiden.
   Insbesondere im Hinblick auf den Bereich der geistigen Schöpfung stellen der Freiheitssinn und das Verantwortungsgefühl die unabdingbaren Voraussetzungen dafür dar, dass die Arbeiter des Geistes den Herausforderungen der Zeit vollständig gerecht werden können. Gerade unter Rückgriff auf den freien Willen und die verantwortungsvolle Haltung der Bürger eines Landes gegenüber diesen beiden zentralen Bereichen menschlicher Existenz, nämlich dem des alltäglichen Lebens und dem der geistigen Schöpfung, ziehen die freien Völker ihre Spuren durch die Zeit und begründen ihre besondere historische Bedeutung innerhalb des Chores der zivilisierten Völker. Eine solche Epoche markierte unbestritten das Goldene Zeitalter des Perikles, dessen geistige und künstlerische Hinterlassenschaften einzigartige und bis heute unübertroffene Vorbilder darstellen.
   Ich glaube, der Umstand, dass die Freiheit, die die Kämpfer von 1821 für uns erstritten und an uns überreicht haben, auch nach fast zwei Jahrhunderten nicht mit der Erlangung der vollständigen Nationalen Unabhängigkeit gekrönt werden konnte, uns zu einem "behinderten" Volk werden ließ, unfähig, nicht nur unseren natürlichen, sondern vor allem auch unseren humanen Reichtum in den entscheidenden Bereichen der Gesellschaft und des Geistes gewinnbringend einzubringen. Deshalb stimme ich mit dem Dichter Nikos Gatsos überein, der darauf hingewiesen hat, dass das moderne Griechenland aus seinen Ausnahmen entstanden ist.
   Ich stelle zwei wesentliche Elemente hinsichtlich der Charakterbildung der Griechen fest. Das erste ist der Einfluss der Landschaft mit ihrer einzigartigen Schönheit; und das zweite der ausgeprägte Unabhängigkeitssinn, der uns allen angeboren ist, sind wir doch alle aus Volksstämmen hervorgegangen, die sich über Jahrhunderte hinweg unter Bedingungen absoluter Unabhängigkeit entwickeln konnten.
   Dieses Apeiron (das Unendliche, das Unbegrenzte, A. d. Ü.), dieses Göttlich Schöne ist der eine der beiden Anziehungspole, die seit jeher Begehrlichkeiten entweder zur Eroberung oder zur Kontrolle dieses in jeder Hinsicht gesegneten Landes wecken. Der zweite Pol ist die geopolitische Bedeutung, die Griechenland aufweist, denn gerade in einer barbarischen Welt, wie sie von den starken, invasiven Mächten zu jeder Zeit geschaffen wird, genießt die geographische Lage unseres Landes immer allergrößte Priorität, wenn es um die Verteidigung und die Durchsetzung der vitalen Interessen der involvierten Mächte geht.
   Auf diese Weise verwandelt sich jedoch der göttliche Segen in einen göttlichen Fluch. Und gerade an diesem Punkt setzt mein Vorschlag zur Erlangung des Rechts auf Neutralität an, ist sie doch der einzige gangbare Weg, dass sich das Land von den Rivalitäten der gegenwärtigen Großmächte loslöst, die uns nicht als freies Land und Volk, sondern als eine Region von strategischem Interesse betrachten; als eine riesige Militärbasis, die den einen freundlich, den anderen feindlich gesonnen ist.
   Leider haben diese Großmachtrivalitäten unsere neuere Geschichte seit 1821 unablässig begleitet. So hat unsere strategische Lage mal die eine, mal die andere Großmacht auf den Plan gerufen und sie im Hinblick auf die Wahrung ihrer strategischen Interessen dazu veranlasst, auf die eine oder andere Art und Weise eine weitreichende Kontrolle über die Gesamtheit unseres nationalen Lebens anzustreben und auszuüben und damit die Rechte auf Eigenverantwortung und Entscheidungsautonomie in den wichtigsten Lebensbereichen unseres Volkes, selbst in Perioden parlamentarischer Demokratie wie der heutigen, einschneidend zu verletzen. Nachhaltige Einflussnahme fremder Großmächte lässt sich etwa in solch wichtigen Ressorts wie in der Landesverteidigung und Diplomatie, in der Ökonomie und Politik nachweisen, in Bereichen also, die gleichsam die wichtigsten und sensibelsten Ausgangspunkte darstellen, aus denen sich die grundsätzliche Orientierung eines Landes ableitet.
   Freilich dürfen wir über die strategische Bedeutung Griechenlands hinaus nicht die starke Anziehung unterschätzen, die der Naturreichtum unseres Landes nach außen hin ausübt.
   Ausgehend von den drei grundlegenden nationalen Anziehungspolen, die unser Land aufweist, das heißt seiner geostrategischen Lage, seines Naturreichtums und seiner Singulären Schönheit, kann der Historiker die richtigen Rückschlüsse für die Ursachen ziehen, die zu den großen Katastrophen der jüngeren Geschichte geführt haben. Zugleich kann er die permanente Unterentwicklung erklären, unter der wir seit Jahrhunderten gezwungen sind zu leben, setzt doch eine ungehinderte ökonomische und soziale Entwicklung die Erlangung und die dauerhafte Etablierung des freien Willens der Bürger unter Bedingungen vollständiger Nationaler Unabhängigkeit voraus.
   Die historischen und kulturellen Traditionen der Griechen zeichnen sich durch ihre Fixierung auf die Werte der Freiheit und Unabhängigkeit sowie durch die Verteidigung der Rechte des Menschen aus. In den fast zwei Jahrhunderten unserer nationalen Unabhängigkeit waren und sind sämtliche Kämpfe unseres Volkes und unserer Nation, versehen mit dem Siegel des Kampfes für den Frieden und gegen die Gewalt, dem Zweck untergeordnet, unsere nationalen, sozialen und fundamentalen Rechte zu verteidigen. Heutzutage befinden wir uns mitten in einer Periode allgemeinen Niedergangs. Die großen wissenschaftlichen Entdeckungen, die den Übergang ins elektronische Zeitalter begründen und die eigentlich in den Dienst der Menschheit gestellt werden müssten, so dass sie auf ihrem Weg zu Fortschritt und Wohlstand entscheidende Schritte zurücklegen kann, sind zu Waffen der Unterdrückung und des Obskurantismus in den Händen einer kleinen internationalen Minderheit geworden, die sie gegen die Menschen, die Gesellschaften und die Völker zum Einsatz bringt, mit dem Ziel der Akkumulation astronomischer Gewinne, einer Akkumulation, die sich ihrerseits zu einer globalen Macht neuen Typs entwickelt hat - einer Macht, die auf Unterdrückung beruht und sich barbarisch, obskurantistisch und inhuman gebärdet.
   Parallel zu dieser historisch beispiellosen und überaus gefährlichen ökonomischen Macht ist eine atypische und ebenfalls geschichtlich beispiellose internationale Allianz zwischen den gegenwärtigen Riesen-Nationen, deren wirtschaftliches und soziales Entwicklungsniveau zu einem nicht unerheblichen Teil auf deren Rüstungsindustrien fußt, ein Umstand, der die Durchführung von Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen jedweder Art erforderlich macht, damit die expansiven Zielsetzungen dieser Länder erreicht werden können.
   Wie sich zeigt, ist die Gier der Internationalen Zentrale Ökonomischer Akkumulation ebenso unersättlich, wie sich die Bedürfnisse der sechs Wirtschaftskolosse als absolut unabdingbar erweisen, so dass sie letztlich keine Unterschiede zwischen ihren Opfern machen, zu denen ausnahmslos sämtliche Völker gehören!
   Die Differenzen zwischen der aggressiven Vorgehensweise des eines von der aggressiven Vorgehensweise des anderen Zentrums bestehen darin, dass das erste auf den umfassenden ökonomischen Angriff gegen die Völker und Gesellschaften setzt, der die Verelendung der Menschen und die Verödung der Länder zur Folge hat, und das zweite auf den Massentod und die vollständige Zerstörung von Völkern und Ländern abzielt.
   Letztendlich lässt sich der spezifisch qualitative Unterschied zwischen diesen beiden transnationalen Aggressionszentralen wie folgt umschreiben: Das erste wird von einem gesichtslosen und atypischen multiethnischen Wirtschaftszentrum geleitet. Das zweite weist eine bemerkenswerte und beispiellose Eigentümlichkeit auf, die in der Herausbildung, in der Existenz, in der Wirkungsweise, im Charakter und in den tief verborgenen Konsequenzen einer neuartigen Psychologie und Mentalität nicht nur der kapitalistischen und staatlichen Machtzentren, sondern auch ganzer Völker besteht. Ein Fakt, der die Analyse und das Verständnis völlig neuer Einflussfaktoren auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen und Entwicklungen von Grund auf verändert. Ich beziehe mich im Wesentlichen auf die Existenz und die Auswirkungen der Rüstungsindustrie und vermittels dieser auf die gigantischen ökonomischen Gewinne, die der Handel mit dem "Schwarzen Tod" sicherstellt, im Zusammenhang mit denjenigen, die der Handel mit dem "Weißen Tod" generiert.
   Man sagt uns, dass die mit Waffengeschäften erzielten Gewinne unmittelbarer und größer sind.
   Haben aber all diese Waffenhändler von Staates Gnaden die Möglichkeit der Umwandlung der Kriegsindustrie in eine Friedensindustrie jemals in Erwägung gezogen? Möglicherweise würden bei dieser die Gewinne bei weitem nicht so üppig ausfallen wie bei jener, aber wird denn überhaupt kein Gedanke daran verschwendet, dass durch den flächendeckenden Ausbau einer Friedensindustrie hunderte Millionen Menschen vor Unterentwicklung, Hunger und Tod gerettet werden würden?
   Und warum haben sich denn all diese reichen und zivilisierten Nationen nicht die Mühe gemacht, auch nur die Möglichkeit einer Friedensindustrie und eines Friedenshandels in Betracht zu ziehen? Ist es wirklich nur auf eine banale Wirtschaftsrechnung zurückzuführen, oder steckt etwas Tieferes dahinter? Etwa dass die Verfügung über eine Rüstungsindustrie über die exorbitanten Profitraten hinaus auch bedeutet, dass man in der Lage ist, Gewalt zu produzieren und vor allem gigantische Kräfte militärischer Zerstörung zu unterhalten? Und dergestalt dem Kartell der mächtigen "Fleischfresser" anzugehören? Mit anderen Worten: näher bei den urwüchsigen, bei den wilden Instinkten zu sein, die denjenigen, die sie befriedigen können, offenbar ein größeres Lustempfinden bereiten, als es die geistige Ausstrahlung und unsere humane Dimension vermag, die den Menschen als einen Lebensschöpfer und nicht für ein Instrument des Todes erachtet? Und ich frage mich, warum bis heute auf dem internationalen Index der Sünderländer, auf dem sich etwa ein Land wie Kolumbien befindet, weil es den so genannten "weißen Tod" produziert und exportiert, nicht auch jene Länder gesetzt wurden, die den "schwarzen Tod" "herstellen" und "veräußern". Zumal, wenn es sich bei den Opfern der ersten Kategorie um Einzelpersonen handelt, während der zweiten Gruppe ganze Länder und Völker zum Opfer fallen...
   Doch es gibt noch einen weiteren riesigen und unerhörten Unterschied zwischen den Händlern des Weißen und den Händlern des Schwarzen Todes. Die Verantwortlichen für den Weißen Tod sind einige Hunderte Mafiosi, während für den Schwarzen Tod "ehrenwerte" Staatsführer und Regierungen verantwortlich sind, und zwar, weil sie dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass die Rüstungsindustrie einen wichtigen Faktor für die Aufrechterhaltung ihrer Macht darstellt. So haben wir mittlerweile den geradezu absurden Zustand erreicht, demzufolge der Wohlstand und Reichtum des einen Volkes nicht nur vom Leid und der Armut, sondern auch von der systematischen Verelendung, Schwächung und mitunter sogar auch von der Zerstörung des anderen Volkes abhängt...
   Kurz gesagt: ich denke, dass wir bereits in eine völlig neuartige internationale Ära eingetreten sind, von der ein noch nie dagewesenes Bedrohungspotential ausgeht, selbst für die Fortexistenz der Völker und Nationen, wie wir sie bis heute kennen.
   Insofern lautet die Frage, die sich geradezu notwendigerweise vor uns auftürmt: "Was machen wir?". Wie können wir als Volk und Nation der Wucht und dem Zorn dieser beiden, uns bedrohenden Mächte des Bösen entkommen? Meine Antwort lässt sich in nur einem einzigen Wort zusammenfassen: NEUTRALITÄT.
   Vor allem dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Heutzutage sind alle Völker in zwei grundlegende Lager gespalten. Das eine Lager besteht aus den potentiellen Tätern und das andere aus den potentiellen Opfern. Was uns anbelangt, so wissen wir nur zu gut, zu welchem Lager wir gehören. Zumal der Prozess, mit dem ein "Bösen Dämon" uns zum Opfer macht, bereits seit geraumer Zeit eingesetzt hat und voll im Gange ist.

Zudem müssen wir endlich begreifen, dass im Rahmen dieser neuen Ausgestaltung der internationalen Szenerie weder wir noch irgendein anderes Volk Immunität genießen, und niemand - also auch nicht wir - in dieser Konstellation auf irgendwelche "Freunde" zählen kann. Es gibt keine "Freunde" und folglich auch keine Allianzen vom Typ "Nordatlantisch" oder "Europäisch". Zumal wir heute erkennen müssen, dass innerhalb Europas zwischen Allianzen unter Völkern der ersten und der zweiten Klasse unterschieden wird. Zwischen der Allianz der Reichen und derjenigen der Armen. Zwischen Befehlshabern und Befehlsempfängern. Zwischen Unterwerfern und Unterworfenen. Wobei das nur die eine "Zange des Bösen" betrifft: nämlich die Ökonomie. Im Hinblick auf die andere, den Krieg, streift die Gefahr, einem hungrigen Wolf gleich, schon seit Jahrzehnten in unserer Region herum. Ob wir den Balkan betrachten oder den Nahen Osten - alle hier angesiedelten Länder und Völker müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie zu den potentiellen künftigen Opfern zählen.
   Es muss für uns also schnellstmöglich eine Art von Ausweg offenstehen. Und dieser Ausweg kann nur ein einziger sein: die Neutralität. Er ist natürlich nicht leicht. Aber er ist durchaus aussichtsreich. Und dies, wie ich bereits gesagt habe, dank unserer historischen Vergangenheit und den Kämpfen und Opfern des griechischen Volkes für die Freiheit, insbesondere während des Zweiten Weltkrieges.
   Damit mein Vorschlag verständlicher und konkreter wird, bestünde die ideale Zielsetzung nach meinem Dafürhalten darin, unser Land zur Schweiz des Friedens und der Kultur zu entwickeln.
   Ich glaube, dass die drei erhabensten Ideen, die von der Menschheit hervorgebracht worden sind - der Sport, der Frieden und die Kultur - nach wie vor lebendig und aktuell und überdies in Griechenland beheimatet sind. Die einzigen Fälle von Völkerverbrüderung und -verständigung finden heutzutage im Sport und in der Kunst statt. Insofern stellen diese drei Ideen die einzigen Gegengewichte zu den beiden großen Krankheiten unserer Zeit dar: dem Handel mit dem "Schwarzen Tod" und der sozialen Verelendung, die in der Akkumulation von Reichtum aus der Ausbeutung und den Tod von unschuldigen Menschen und Völkern ihren gemeinsamen Nenner aufweisen. Es ist kein Zufall, dass Delphi in der Antike als Nabel der Welt galt.
   Bekanntermaßen verehrte man dort gleichberechtigt Apollon und Dionysos, den rationalen und den transzendentalen Geist, das heißt, diejenigen beiden Elemente, aus denen, sobald sie sich im Gleichgewicht befinden, Kultur entsteht.
   Heute herrscht die Rationalität vor, die wesentliches Element sowohl des Kapitalismus als auch des Marxismus war bzw. ist. Und aus diesem Grund hat sich die Epoche der Alleinherrschaft des einen im Westen und des anderen im Osten, die sich von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute noch zugespitzt hat, als die am meisten geistesfeindliche Epoche der Menschheitsgeschichte erwiesen. Sie schuf eindimensionale Menschen und Gesellschaften, nivellierte die geistige Schöpfung und die Kunst und trocknete die Seelen der Menschen aus. Heute erleben wir den absoluten Höhepunkt dieser Ära, der dadurch charakterisiert ist, dass nunmehr die ehemals konkurrierenden ideologischen Mächte in der Internationalen Allianz der Mächte, die den "Schwarzen Tod" produzieren und exportieren, vereinigt sind. Während im Hinblick auf die Wirtschaft in dieser Epoche der Geldfetisch und die Geldreligion herausgebildet wurden, die mit sämtlichen Merkmalen der primitiven Barbarei der Eiszeit aufwartet.
   Vor diesem Hintergrund erlangt Delphi eine neue, historisch bedeutende Aktualität, symbolisiert doch dieser heilige Ort das Bedürfnis der Menschen, Gesellschaften und Völker nach Harmonie und Ausgleich zwischen den Extremen des Rationalismus, sowie das durch die Kunst und die seelische Erhebung der Völker und Menschen zu befriedigende Bedürfnis nach Wiedereingliederung der Transzendenz und Magie in das Leben der Menschen - auf der Basis des internationalen Friedens und der nationalen Kultur.
   Die Reaktivierung von Delphi als globalem Symbol des Friedens wird dessen wirkliche Dimensionen erst zur Geltung bringen. Denn sie wird dem Unternehmen, den Frieden zu festigen, die Vision der Vereinigung des apollinischen und dionysischen Prinzips hinzufügen als tieferen Grunds für die Verteidigung und Festigung des internationalen Friedens, der seinerseits die Prämisse für die Ausbildung des mehrdimensionalen Menschen ist. Mit den Mitteln einerseits des materiellen Wohlstands, andererseits der geistigen Anregung, die uns im Zuge der Vollendung unserer Nationalen Unabhängigkeit im Rahmen der Neutralität zur Verfügung gestellt werden, kann es uns gelingen, Delphi nicht nur als symbolische Friedensinstitution zu etablieren, sondern es darüber hinaus, indem es den Frieden auf die Ebene einer neuen ökumenischen Religion erhebt, als globale Erinnerungsinstanz zu begründen, die die Menschen fortwährend an ihre Verpflichtung gegenüber dem Geschenk des Lebens ermahnt.
   Das neutrale Griechenland wird sich zugleich zur Wiege der internationalen Kultur entwickeln. Es genügt nicht, dass eine Nation ihre eigene Kultur hervorbringt. Gerade heute, wo die Welt immer enger zusammenrückt und die Entfernungen zunehmend aufgehoben werden, ist es undenkbar und gleichsam unerwünscht, dass eine Kultur in ihren jeweiligen nationalen Grenzen verharrt, oder aber dass nur die Kulturen der reichen Nationen grenzübergreifende Bekanntheit erlangen. Selbst das kleinste Land kann einen Beitrag an der fortwährenden Entwicklung der Kultur und Kunst leisten, deren Rolle darin besteht, den modernen Menschen zum Ausdruck zu verhelfen, die Wege der Zukunft zu erspüren und die Tradition zu bewahren. Das neutrale Griechenland wird jedem Volk, das es wünscht, einen geeigneten Raum überlassen, in welchem es seine traditionellen wie zeitgemäßen kulturellen und künstlerischen Errungenschaften präsentieren kann.    Aufgrund der großen geologischen Vielfalt des Landes mit seiner Inselwelt, seinen Bergen und Ebenen, vor allem aber mit seinen zahlreichen historischen Kultstätten wird es möglich sein, den verschiedenen nationalen Kulturen in verschiedenen Orten eine würdige Heimstätte anzubieten und somit ein einzigartiges kulturelles Kaleidoskop zusammenzusetzen.
   Jeder Staat wird die Gestaltung der ihm überlassenen Fläche eigenverantwortlich übernehmen und die für die Präsentation seiner Kultur erforderlichen Bauten eigenständig errichten. Dazu können Konzertsäle gehören, Opern- und Theaterhäuser, Bibliotheken, Amphitheater, Restaurants, Hotels etc. In den jeweiligen Landesrepräsentanzen könnten im Jahresrhythmus große Festivals ausgerichtet und ein durchgängiges kulturelles Programmangebot entwickelt werden.
   Aufgrund ihres spezifischen Auftrags sollte die UNESCO ihren Sitz nach Griechenland verlegen. Sollte dies nicht möglich sein, wird sie in Griechenland eine permanente aktive Dependance eröffnen, die in Zusammenarbeit mit Organisationen und Institutionen auf regionaler und lokaler Ebene sämtliche länderspezifischen Kulturprogramme koordinieren wird, so dass der Besucher einen Katalog mit den Programmangeboten aller Staaten-Völker zur Verfügung hat.
   Die antiken Theater von Athen, Epidauros, Delphi, Dodoni, Dion und Philippi werden als feste Austragungsorte von internationalen Festen, Konferenzen, Ausstellungen und Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsfestivals etabliert. Zudem werden sämtliche Kulturdenkmäler der altgriechischen, byzantinischen und der neueren Zeit systematisch und wirkungsvoll präsentiert.
   Schließlich wird jedes Jahr eine andere griechische Insel zum Ort von Weltjugendtreffen ausgerufen. Ein zentrales internationales Gremium, das ausschließlich aus Jugendlichen bestehen wird, die aus einer Vielzahl von Ländern abstammen, wird dabei das Programm für die jeweilige Jugend-Insel entwickeln, ein Programm, das sich den geistigen und kulturellen Austausch, aber auch die Unterhaltung, die sportliche Betätigung und das tiefere Kennenlernen zwischen den Mädchen und Jungen der Welt zum Ziel setzen wird.
   Ich glaube, in dem eben Gesagten liegt die wahre Berufung eines Landes wie des unsrigen, mit seinem Reichtum an Geschichte, an Kämpfen für die Freiheit und die Kunst, im Zusammenspiel mit der göttlichen Schönheit der griechischen Natur.
   Seiner Lasten und Sorgen entledigt, frei und unabhängig, wird das griechische Volk in der Lage sein, sich von ganzem Herzen dem Frieden und der Kultur zuzuwenden, die ihm beide nach meiner Ansicht ohnehin in den Genen eingeschrieben sind. Sie drücken ihn absolut aus, sie regen ihn an und bilden ihn zu einem idealen Gastgeber aus.
   Die Freiheit, die Unabhängigkeit, der Frieden, die Internationale Solidarität, die Kultur und die Gastfreundschaft sind die grundlegenden Erkennungszeichen unseres historischen Erbes, unserer nationalen Erziehung und unseres individuellen Charakters.
   Ich fordere die Akademie von Athen auf und bitte ihre Mitglieder, diesen meinen Vorschlag zu diskutieren, und ich bin davon überzeugt, dass, falls er schließlich angenommen wird, die Athener Akademie nicht nur ihr ohnehin großes Ansehen noch erhöhen, sondern darüber hinaus die internationale öffentliche Meinung dermaßen berühren, begeistern und überzeugen wird, dass sie ihrerseits Einfluss auf die Vereinten Nationen zu entfalten vermag, die die einzig zuständige Instanz für eine Entscheidung von derart weitreichender historischer Bedeutung sein kann.
   Das war es, was ich Ihnen zu sagen hatte, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

*

Quelle:
Rede von Mikis Theodorakis am 3.12.2013 anläßlich seiner
Ernennung zum Ehrenmitglied der Akademie von Athen
Mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers Theo Votsos, Köln
E-Mail: theo.votsos@web.de
Internet: www.wortbruecken.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2013