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HEGEMONIE/1660: Systemopportunes Krisenmanagement ... Griechen im Griff des Mangelregimes (SB)



"Peoples of Europe - Rise Up" - das von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) auf der Akropolis gehißte Transparent macht die europäische Dimension der sogenannten Schuldenkrise des Landes deutlich. Der den defizitären Staatsfinanzen zugrunde liegende Konflikt zwischen Kapital und Arbeit betrifft nicht nur dieses Land oder die im gleichen Atemzug genannten südeuropäischen Nachbarn. Angegriffen werden die Lebensinteressen aller Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen oder ohne diese auf staatliche Versorgungsleistungen angewiesen sind. Das am Beispiel Griechenlands vollzogene Austeritätsprogramm soll eine unter eigennütziger Mitwirkung der griechischen Oligarchie am Finanzmarkt entstandene Schuld begleichen, für die die arbeitenden Menschen in keiner Weise verantwortlich sind. Mag ihre Beteiligung am herrschenden Verwertungssystem auch darin bestehen, daß sie sich von ihm Wohlstand und Sicherheit erhoffen, so wird dem Gros der griechischen Bevölkerung nun ein jähes Erwachen aus dem Traum eines für alle Beteiligten prosperierenden Kapitalismus beschert.

Selbst oberhalb der Ebene fundamentaler Systemkritik zeigt sich, daß die Kapitaleigner und Funktionseliten keine Werte aus dem luftleeren Raum schöpfen, sondern daß die Kapitalakkumulation auf dem Finanzmarkt die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts bedingt. Dieses durch die Expansion in den Finanzmarkt zu erhalten ist eine politische Entscheidung jener Regierungen, die versprochen haben, die Refinanzierung der durch hochriskante Spekulationen in Not geratenen Banken mit der Regulation finanzkapitalistischer Wertschöpfung zu quittieren. Geschehen ist so gut wie nichts, die großen Banken machen wieder Rekordgewinne, während die angebliche Erholung der Wirtschaft keine Verbesserung der Situation der Lohnabhängigen zeitigt. Wenn überhaupt Wachstum generiert wird, dann ohne die Schaffung von Arbeitsplätzen, deren Entlohnung sich nicht am Rand der Armutsgrenze bewegte.

Die unveränderte Aufrechterhaltung neoliberaler Marktdoktrin und finanzkapitalistischer Gewinnmaximierung entspricht der Logik einer Wertschöpfung, deren materielle Basis sich aus mehreren Gründen nicht mehr erweitern läßt. Neue territoriale Expansionszonen lassen sich nicht erschließen, weil die kapitalistische Globalisierung längst in jeden Winkel der Welt vorgedrungen ist. Die Ausbeutung der Natur läßt sich nicht mehr steigern, weil die industrielle Produktivität an reale Grenzen in Form schwindender Ressourcen und des insbesondere die landwirtschaftliche Produktion einschränkenden Klimawandels stößt. Die Mehrwertrate der industriellen Produktion stagniert, weil hochgradig automatisierte Fertigungsprozesse immer weniger menschliche Arbeit benötigen oder diese derart niedrig entlohnt wird, daß die Reproduktion der eingesetzten Arbeitskraft nur notdürftig gewährleistet ist. Dem anstelle dessen angestrebten Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft liegt keine reale Wertschöpfung durch Güterproduktion zugrunde, sondern das Zehren von einer für viele Menschen immer unerschwinglicheren Substanz. Von Bits und Bytes kann niemand satt werden, und die durch die mikroelektronische Produktionsweise geschaffenen Erwerbsmöglichkeiten stehen einer ungleich größeren Menge an durch rechnerbedingte Rationalisierungseffekte unumkehrbar vernichteter Lohnarbeit gegenüber.

Was in der EU auf den Tisch kommt, fehlt den Produzenten in den Ländern des Südens schon lange. Nun jedoch hält auch in Europa eine gesellschaftliche Reproduktion auf dem Niveau jener Erzeugerländer Einzug, deren Landwirtschaft auf Export getrimmt ist, weil die Versorgung der eigenen Bevölkerung globalen Wertschöpfungsketten geopfert wird. Am Beispiel Griechenlands wird das Prinzip, die Volkswirtschaften verschuldeter Entwicklungsländer einer fremdnützigen Verwertungsordnung zu unterwerfen, auch für die EU zum Akkumulationsmodell der Zukunft etabliert. Die nun in der Bundesregierung laut werdenden Forderungen, schärfere Sanktionsmechanismen für EU-Mitglieder einzuführen, die gegen die Maßgaben des Stabilitätspakts verstoßen, bezwecken die Verstetigung einer Abhängigkeit, bei der die Souveränität der betroffenen Staaten durch ihre Einbindung in ein System supranationaler Aufsicht eingeschränkt wird und eine Qualifizierung der Fremdadministration durch Protektoratslösungen nach dem Vorbild Bosniens oder Afghanistans nicht ausgeschlossen ist.

Das große Problem des Krisenmanagements, das derzeit gegenüber Griechenland in Stellung gebracht wird, besteht darin, seine ökonomisch ausgezehrten Bevölkerung davon abzuhalten, gegen den ihr aufoktroyierten Schuldendienst aufzubegehren. Mit der von der Regierung in Athen verordneten Senkung der Gehälter im öffentlichen Dienst und Kürzung von Sozialleistungen bei gleichzeitiger Heraufsetzung der Verbrauchssteuern, mit der die Belastung generell niedriger Einkommen durch hohe Lebenshaltungskosten um ein weiteres erhöht wird, werden die Grenzen einer Belastbarkeit ausgelotet, die zu erweitern massiver Repression bedarf. So führt die griechische Bevölkerung den Kampf gegen das ihr auferlegte Mangelregime stellvertretend für alle Europäer, denen entsprechende Verschärfungen noch bevorstehen.

Die Strategie, die Bundesbürger mit nationalchauvinistischen Parolen gegen die Griechen aufzuhetzen, baut auf dem Versprechen auf, innerhalb der europäischen Hackordnung auf der Seite der Gewinner zu stehen. Wie haltlos diese Suggestion ist, geht aus der nicht zuendegedachten Möglichkeit hervor, Griechenland entweder ohne die Verordnung einer Hungerkur zu refinanzieren oder es in eine geordnete Insolvenz zu entlassen, die in Anbetracht der ohnehin erfolgenden Einschnitte ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende in Aussicht stellte. Zwar drängt Bundeskanzlerin Angela Merkel für die Zukunft auf die vertragliche Verankerung derartiger Insolvenzverfahren für in Not geratene Staaten der Eurozone, doch dabei handelt es sich ersteinmal um eine Form der Schadensbegrenzung, mit der verhindert werden soll, daß das Finanzkapital die Griechenland zugesagten Kredite zum Anlaß weiterer Angriffe auf stark verschuldete EU-Staaten nimmt.

Die Bundesregierung hat das Problem, Lösungen für die Zukunft des Euro präsentieren zu müssen, die sie nicht dazu verpflichten, deutsche Banken durch den Ausfall an EU-Staaten vergebener Kredite zu schädigen, wirtschaftspolitische Maßnahme zum Ausgleich der Handelsbilanzdifferenzen zwischen den Euro-Staaten zu ergreifen und sich auf eine gemeinsame wirtschafts- und fiskalpolitische Administration der Währungsunion einzulassen. Es geht um nichts geringeres als die führende Position der Bundesrepublik innerhalb der Eurozone zu sichern, indem der strategische Vorteil der deutschen Exportwirtschaft geschützt und die schuldengenerierte Einflußnahme auf die Haushaltspolitik ökonomisch schwächerer Mitgliedstaaten ausgebaut wird. Die über das integrative Moment der gemeinsamen Währung, die für die Angleichung der Verbraucherpreise auf hohem Niveau trotz großer Unterschiede im Lohnniveau maßgeblich verantwortlich ist, erwirtschaftete Dominanz der Bundesrepublik im Ordnungsrahmen der Eurozone ist ein Standortvorteil, der unter allen Umständen verteidigt werden soll.

Da die Bundesbürger für diesen Vorteil mit stagnierenden Reallöhnen und dem Zwangssystem Hartz IV bezahlen, wären sie gut beraten, sich mit der griechischen Bevölkerung solidarisch zu zeigen. Was diese derzeit erleidet, steht großen Teilen der hiesigen Gesellschaft noch bevor, wenn sie dem neoliberalen Verknappungsregime nicht bereits erlegen sind. Allen Bevölkerungen verschwiegen wird, daß der Kehrwert kapitalistischer Expansion, die Beibehaltung des Wachstumsprimats bei unzureichender materieller Bemittelung, zur Akkumulation von Mangel und nicht von Wohlstand führt. Unter den Bedingungen endlicher natürlicher Ressourcen, eines klimatisch kontraproduktiven, letzten Endes die Substanz der Nahrung und Atemluft bedrohenden Brandes industrieller Produktion und menschlicher Reproduktion, der Zerrüttung der gesellschaftlichen und politischen Systeme durch die Maximierung des Raubes bedarf es mehr als der Sicherung etablierter Strukturen und Praktiken, um jedem Menschen angemessene Lebensbedingungen in selbstbestimmten Verhältnissen zu ermöglichen.

Sich darum zu bemühen, anstatt den kapitalzentrierten Liberalismus zum endgültigen Entwurf der gesellschaftlichen Verfaßtheit des Menschen zu erklären und ihn wider alle soziale Ungerechtigkeit durchzusetzen, wäre ein glaubwürdiges Zeugnis solidarischer und emanzipatorischer Politik. Indem die Regierungen der Länder, die sich als zivilisatorische Spitze demokratischer und kultureller Menschheitsentwicklung verstehen, alles andere als das tun, treiben sie den sozialen Widerspruch auf die Spitze der Unannehmbarkeit.

Die am Beispiel Griechenlands aktualisierte Krise des Euro ist die Folge des Versuchs, den inneren Schranken kapitalistischer Verwertung durch die Etablierung einer höheren Ordnung staatlicher Verfügungsgewalt zu entkommen. Daß die privatwirtschaftliche Kapitalakkumulation auch mit dem größeren regulatorischen Gewicht supranationaler Administration nicht gezügelt wird, ist eine Folge der nichtvorhandenen Bereitschaft, das Problem des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit grundsätzlich und offensiv anzugehen. Der Fehler liegt im System, weil das Versprechen auf die volkswirtschaftliche Rentabilität marktwirtschaftlicher Ordnung sich an seinem konstitutiven sozialdarwinistischen Überlebensprimat als eben solches, als eine über die endlose Wiederholung des Vergangenen in die Unerreichbarkeit der Zukunft verschobene Hoffnung, erweist. Wie soll die Vergesellschaftung in eine auf Wettbewerb und Konkurrenz basierende Ordnung etwas anderes hervorbringen als die Umlastung des Mangels, der Triebkraft jeglicher Ökonomie, auf den jeweils Schwächeren?

Am Beispiel Griechenland zeigt sich, daß alle ethischen Ansprüche der sogenannten Wertegemeinschaft EU bloßer Abglanz der sie antreibenden Verwertungslogik sind. Nicht umsonst ersetzt die Terminologie zwanghafter Vereinnahmung, die Not- und Schicksalsgemeinschaft EU, die Beschwörung eines an humanistischen Idealen orientierten europäischen Gemeinwesens. Mit der Verallgemeinerung der im System marktwirtschaftlicher Selbstregulation angelegten Sachzwanglogik zum zentralen Movens politischer Entscheidungsfindung wächst denn auch die Gefahr der Ausbildung autoritärer Strukturen, die in der Eskalation der Ermächtigungserfordernisse längst überwundene Formen der Gewaltherrschaft wiederkehren läßt.

4. Mai 2010