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HEGEMONIE/1661: EU-Schuldenmanagement stärkt Führungsmächte und verschärft Systemkrise (SB)



Das Maßnahmepaket in Höhe von 750 Milliarden Euro, das die EU-Finanzministern Anfang der Woche zur Stabilisierung der Finanzmärkte geschnürt haben, soll eine Währungsunion gegen den Finanzmarkt verteidigen, die zusehends aus den Fugen ihrer ordnungspolitischen Verstrebungen gerät. Mit dem sturen Festhalten an der Refinanzierung der Gläubiger, die das Problem der Staatsverschuldung mit wachsenden Risikoaufschlägen vergrößern, signalisieren die EU-Regierungen, daß ihnen die Verwertungsinteressen des Kapitals über alles gehen. Wie im Falle Griechenlands sind die Leistungen des sogenannten Schutzschirms für die Länder, die ihn in Anspruch nehmen, an haushaltspolitische Auflagen geknüpft, die in erster Linie zu Lasten der Lohnabhängigen und Erwerbsunfähigen gehen.

Mit dem neuen Stabilisierungsmechanismus wird das strukturelle Kernproblem der Eurozone, seine Mitgliedstaaten an makroökonomische Konvergenzkriterien zu binden, ohne die Unterschiede in den nationalen Leistungsbilanzen anzugleichen, unbeirrt von der wachsenden Verelendung der Bevölkerungen fortgeschrieben. Die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IWF) an der Krisenprävention, an dessen einseitiger Ausrichtung auf neoliberale Strukturanpassungsprogramme sich trotz der dagegen gerichteten Einwände profilierter Ökonomen nichts geändert hat, und die Bereitschaft der Europäischen Zentralbank (EZB), selber Staatsanleihen und Geldmarktoptionen zu kaufen, um den Euro durch das Anwerfen der Notenpresse zu stützen, dokumentieren den politischen Charakter dieser Maßnahme. Es geht den EU-Regierungen um die Durchsetzung eines Hegemonialprojekts, das das Scheitern der originär beabsichtigten wirtschaftlichen Integration des Euroraums und der damit zu schaffenden ökonomischen Vormachtstellung im kapitalistischen Weltsystem durch eine die Kannibalisierung der eigenen Mitgliedstaaten und Bevölkerungen basierende Umverteilungsordnung von unten nach oben kompensiert.

Das Krisenmanagement der EU-Regierungen zeigt, daß das EZB-Dogma der Geldwertstabilität ohne weiteres zur Disposition gestellt wird, wenn es darum geht, das System finanzkapitalistischer Wertschöpfung aufrechtzuerhalten. Wenn sich die zur Kostensenkung des Faktors Arbeit konzipierte währungspolitische Solidität gegen die Interessen der Kapitaleigner wendet, dann ist keine Rede mehr davon, das von den Investoren zu ihrem Vorteil in Anspruch genommene Risiko äquivalent zu ihrem Nachteil gereichen zu lassen. Die unterstellte Selbstregulation der Märkte erweist sich vollends als zweckdienliche Suggestion, mit Hilfe derer die Unterfinanzierung gesellschaftlicher Reproduktion ohne Abstriche zu Lasten der Betroffenen gehen soll, um sie zusätzlich für das gesamtgesellschaftliche Defizit zur Kasse zu bitten. Was am Beispiel der griechischen Bürger, die bei Erwerbseinkommen im Niedriglohnbereich und Lebenshaltungskosten auf westeuropäischem Niveau zweistellige Einkommensverluste hinnehmen sollen, vorexerziert wird, wird mit dieser Form der Refinanzierung des Kapitals für die ganze Eurozone verallgemeinert.

Nicht vorgesehen sind demgegenüber hohe Vermögenssteuern, eine hohe Besteuerung ausschließlich dem Konsum wohlhabender Bürger vorbehaltener Luxusgüter, die Besteuerung des Flugbenzins und anderer Subventionierungen kapitalkräftiger Minderheiten oder die Kürzung der Militär- und Sicherheitsbudgets. Nicht vorgesehen sind Kapitalverkehrssteuern, die den Spekulanten schnelle Geschäfte mit Währungsdifferenzen verleideten, das generelle Verbot von Leerverkäufen und hochriskanten Finanzderivaten oder eine Eigenkapitaldeckung der Banken und Versicherungen, die die staatliche Stützung angeblich systemrelevanter Finanzhäuser obsolet machte. Keinesfalls soll der Finanzmarkt, gegen den Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy neuerdings rhetorisch zu Felde ziehen und der mit staatlichen Mitteln gerettet wurde, um auch in Zukunft Staaten zu Lasten ihrer Bürger refinanzieren zu können, an eine regulative Leine gelegt werden, die die finanzielle Expansion auf die Maßgabe materieller volkswirtschaftlicher Produktivität zurückführte.

Die Unterminierung des gesamtgesellschaftlichen Produkts durch einen Schuldendienst, der die rezessive Entwicklung durch die austeritätsbedingte Schwächung der Binnenwirtschaft verstärkt, verändert die Machtverhältnisse in der EU zugunsten der führenden Wirtschaftsmächte. Während die wirtschaftlich schwachen Staaten der Peripherie in ein langfristiges Korsett von Zwangsmaßnahmen eingebunden werden, mit denen nicht nur in haushalts- und wirtschaftspolitische Entscheidungen eingegriffen wird, sondern daß ihre Stellung im politischen Entscheidungsprozeß auf EU-Ebene durch den angedrohten Entzug von Stimmrechten und informelle Trade-offs schwächt, können hochproduktive Zentralstaaten wie die Bundesrepublik, Frankreich und die Beneluxstaaaten ihre wirtschaftliche Vormachtstellung dank verbilligter Exporte in Staaten außerhalb der Eurozone weiter ausbauen. Wirtschaftliche Stärke ist in einem Staatenbund mit diversen Transfermechanismen und strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen gleichbedeutend mit politischer Macht, so daß sie auch bei ordnungspolitischen Entscheidungen in anderen Bereichen oder der europäischen Außenpolitik ins Gewicht fällt.

Der Kapitalinteressen entgegenkommende Kurs des europäischen Krisenmanagements belegt ein dementsprechendes Demokratiedefizit. Die Verhinderung eines geordneten Insolvenzverfahrens für Griechenland hat gezeigt, daß die von dem angeblichen Rettungspaket betroffenen Bürger des Landes keine Stimme besitzen. Wenn in der Eurozone schon keine Bereitschaft für eine sozialfreundliche Entschuldung besteht, dann hätte der Austritt Griechenlands aus der Eurozone größere Chancen auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Landes geboten als ein Schuldenregime, mit dem der beabsichtigte Rückgang der Staatsverschuldung kaum zu leisten sein wird. Auch der jüngste Maßnahmenkatalog repräsentiert durch die Beteiligung demokratisch nicht legitimierter Finanzinstitutionen wie der EZB und des IWF ein an neoliberaler Verwertungslogik ausgerichtetes makroökonomisches Diktat, das dem Interesse des Gros der Europäer an angemessenen Lebensbedingungen kaum Rechnung trägt.

Die von den Regierungen Frankreichs und Deutschlands betonte Verteidigung des Euro steht für die Durchsetzung eines Hegemonialanspruchs des imperialistischen Zentrums der EU, der nicht einmal diskret bemäntelt wird, wie die Aussage der Bundeskanzlerin belegt: "Wir schützen das Geld der Menschen in Deutschland." Wer keines hat, der findet sich in der Konkursmasse einer Systemkrise wieder, die in ihrer politischen Bestimmung die Interessen der Gewinner zu Lasten der schwächsten Elemente gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion sichert. Elemente deshalb, weil nicht nur Lohnabhängige und Erwerbsunfähige in der EU wie in den Ländern des Südens als Verluste der Defizitkonjunktur abgeschrieben werden, sondern weil die Fortsetzung der transnationalen Wertschöpfung in der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen kumuliert. Ein ausschließlich auf die Wiederherstellung hoher Wachstumsraten ausgerichtetes Krisenmanagement, in dem die Rentabilität des Kapitals weiterhin durch die Ausbeutung billiger Arbeit und Ressourcen gewährleistet wird, verschließt sich der dringend erforderlichen Bewältigung des Klimawandels sowie der Nahrungsmittel- und Ressourcenverknappung. Desto absehbarer ist die Verschärfung der Systemkrise und desto unabdinglicher der Kampf um das Primat einer solidarischen Bewältigung der alle Menschen bedrängenden Probleme.

11. Mai 2010