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HEGEMONIE/1681: Merkels langer Atem ... EU auf deutsche Kapitalinteressen zurichten (SB)



Wenn der Regierungsführung der Bundeskanzlerin in der Konzernpresse in letzter Zeit schlechte Noten ausgestellt wurden, dann war damit sicherlich nicht die Durchsetzung deutscher Kapitalinteressen auf EU-Ebene gemeint. Viel zu wenig scheint man sich hierzulande darüber klar zu sein, daß Merkel die europäische Integration von Anfang an zum Vorteil ihrer Klientel in Finanz- und Industriekapital vollzogen hat. Vielleicht will man die Zurichtung der EU nach Maßgaben deutscher Interessen auch nicht an die große Glocke hängen, da es noch deutlicher machte, daß dieser Prozeß zu Lasten demokratischer und sozialer Rechte der Bevölkerung ging und geht. Das gilt nicht nur für die abhängig arbeitenden und auf Sozialtransfers angewiesenen Bundesbürger, sondern auch für die Bevölkerung Griechenlands, an der ein Exempel der totalen Unterwerfung menschlicher Bedürfnisse unter das Rentabilitätsinteresse des Kapitals statuiert wird, ohne daß die versprochene Sanierung des Staatshaushalts oder gar eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Aussicht stände.

Es ist Merkels Verdienst, das Zustandekommen des Lissabon-Vertrags nach dem Scheitern des Entwurfs zu einem Verfassungsvertrag an Referenden in Frankreich und den Niederlanden ermöglicht zu haben. Die Durchsetzung dieses weithin unpopulären Projekts gelang nicht zuletzt, weil dieser tiefgreifende Einschnitt in die Verfassungswirklichkeit jedes EU-Staats im eigenen Land auf undemokratische Weise zustandekam. Es ist Merkels Verdienst, daß die internationalen und deutschen Banken an der Krise der Staatshaushalte keinen Schaden nehmen, sondern an ihr verdienen. Das von ihr zu schlechtesten Bedingungen für die betroffenen Bevölkerungen vorangetriebene Krisenmanagement zielt ganz auf die Subordination in Not geratener Volkswirtschaften unter das deutsch-französische Generaldirektorat, das bei der nun beschlossenen Verschärfung des Euro-Stabilitätspakts und der Etablierung eines dauerhaften Krisenmechanismus für die Eurozone die Bedingungen diktiert.

Zwar konnte der Entzug des Stimmrechts für überschuldete EU-Staaten im europäischen Rat von den kleineren Mitgliedstaaten noch einmal abgewendet werden. Die von der Bundesregierung erhobene Forderung nach dieser Sanktion läßt jedoch keinen Zweifel daran, wohin die Reise gehen soll. Die sogenannte europäischen Wertegemeinschaft versteht Wert ausschließlich als ökonomische Kategorie, den es in strikter EU-Binnenkonkurrenz zu erwirtschaften gilt. Wer dabei nicht mehr mithält, weil er die Nachteile der strukturellen Ungleichheit zwischen der hochproduktiven, auf Kosten der Lohnarbeiter Exportvorteile erwirtschaftenden Bundesrepublik und dem Rest der EU nicht mehr kompensieren kann, der soll durch Sanktionen dazu genötigt werden, die zur Sicherung dieses Verwertungsgefälles erforderlichen neoliberalen Reformen vorzunehmen.

Diese verlangen im wesentlichen das Abtragen von Staatsschulden und die Schaffung größerer Konkurrenzfähigkeit durch strikte haushaltspolitische Austerität. Für die herrschende ökonomische Lehre gibt es kein größeres Schreckgespenst als eine allgemeine Nivellierung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, wäre damit doch dem Zwang zur kostensenkenden Optimierung des Standorts das Wasser abgegraben. Was derzeit in Britannien an sozialen Grausamkeiten verwirklicht wird, ist ein Musterbeispiel für die volkswirtschaftliche Seite nationalen Hegemonialstreben. Wer die eigene Bevölkerung nicht kujoniert, um im europäischen Konzert weiterhin Sitz und Stimme zu haben, auf den ist auch nicht zu zählen, wenn es um die imperialistische Durchsetzung europäischer Interessen gegen den Rest der Welt geht.

Dazu spielen sich Staat und Kapital geschickt die Bälle zu. So ist die von Merkel geforderte Beteiligung der Finanzmarktakteure an der Bewältigung von Schuldenkrisen alles andere als ein versteckte Form des Antikapitalismus. Sie bewirkt lediglich, daß die Zinsen für die Kreditaufnahme in Not geratener Staaten so hoch werden, daß diese noch früher als bisher auf den Krisenmechanismus der EU angewiesen sein werden, so daß die de facto-Aufhebung ihrer souveränen Handlungsfähigkeit um so schneller erfolgen kann.

Die Etablierung eines permanenten Krisenmechanismus unter Inkaufnahme einer Änderung des Lissabon-Vertrags müßte den Urhebern dieses marktfundamentalistischen Reformwerks mehr als peinlich sein. Die monetaristische Doktrin einer Marktwirtschaft, die desto besser funktioniert, wenn Währungsstabilität herrscht und die Staatsquote niedrig ist, soll mit der Sozialisierung der Kosten der Party gerettet werden. Anstatt den Geburtsfehler des Euro - die Aufgabe nationaler Währungshoheit, mit der sich einseitige Entwicklungen der Handels und Zahlungsbilanz austarieren ließen, unter Beibehaltung eigenständiger nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik zwecks Anfachung des Standortwettbewerbs - zu beheben, wird die Souveränität einzelstaatlicher Ausgabenpolitik weiter beschnitten, um Sozialkürzungen und Privatisierungen verallgemeinern zu können.

Die weitreichende Durchsetzung deutscher Forderungen ist eine Folge wirtschaftlicher Dominanz der Bundesrepublik. Deren dementsprechend hohen Beiträge für einen Krisenfonds vergrößern die Abhängigkeit der Eurozone vom deutschen Akkumulationsmodell, dessen ökonomische Voraussetzungen mit der Einrichtung eines permanenten Krisenmechanismus gesichert werden. Der harte Ton, in dem die jüngsten Verhandlungen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel geführt wurden, läßt ahnen, daß diese Dominanz Widerstand provoziert. Selbst wenn dieser zum jetzigen Zeitpunkt nicht manifest wird, zeigen sich Bruchlinien im EU-Gebälk, die im Falle eines Scheiterns des vielbejubelten deutschen Erfolgs weiter aufreißen dürften.

31. Oktober 2010