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HEGEMONIE/1683: Muß man Angst vor dem neuen Deutschland haben? (SB)



Beflügelt von seinem umfragengestützten Ruf, derzeit der beliebteste deutsche Politiker zu sein, nimmt Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg kein Blatt vor den Mund. Wo andere um den heißen Brei herumreden, um das Wahlvolk nicht zu verprellen, prescht er als Sturmtrupp schneidig voraus und beglückt die Bundesbürger mit Klartext deutschen Hegemonialstrebens. Wer den Gürtel enger schnallen muß, soll sich wenigstens am Bedeutungswahn berauschen, bei der Positionierung im großen Raubzug fiele auch für ihn etwas ab. Auf einer Sicherheitskonferenz in Berlin unterstrich Guttenberg, daß "die Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen ... ohne Zweifel unter militärischen und globalstrategischen Gesichtspunkten zu betrachten" seien. Dieser Zusammenhang müsse "ohne Verklemmung" angesprochen werden, auch wenn das in gewissen Kreisen als "verwegen" gelte. (www.welt.de 10.11.10)

Als der frühere Bundespräsident Horst Köhler im Mai geäußert hatte, daß "im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege", war er Guttenberg zufolge dafür "fürchterlich geprügelt" worden. Er hätte sich "von uns allen etwas mehr Unterstützung in dieser Fragestellung gewünscht", so der Verteidigungsminister. Im Grunde habe Köhler nur etwas Selbstverständliches ausgesprochen. Da 20 Prozent des deutschen Außenhandels über den Seeweg gingen, sei es doch nur recht und billig, gegen Piraterie vorzugehen, wählte der Verteidigungsminister mit Vorbedacht jenen Einsatz, der sich derzeit sicher am besten verkaufen läßt. Piraterie sei "keine Randnotiz", sondern eine "ernste Herausforderung" für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik.

Um gleich den großen Bogen zu spannen, lektionierte Guttenberg sein Publikum, daß Schwellenländer wie China, Indien oder auch Indonesien die Durchsetzung nationaler Interessen "als Selbstverständlichkeit" betrachteten. Da aber der Bedarf dieser aufstrebenden Mächte an Rohstoffen ständig steige und damit "zunehmend mit unseren Bedürfnissen in Konkurrenz" trete, könne dies "zu neuen Spannungen, Krisen und Konflikten führen." Darauf müsse auch die deutsche Sicherheitspolitik eine Antwort finden. (www.abendblatt.de 10.11.10)

Was der Verteidigungsminister verächtlich als "verklemmt" abtat, steht im Grundgesetz. Dieses erlaubt den Einsatz der Bundeswehr nur in zwei Fällen, nämlich zur Landesverteidigung und Teilhabe an internationalen Missionen. Angriffskriege für Wirtschaftsinteressen zu führen, fällt hingegen nicht darunter. Folglich legte Linkspartei-Chef Klaus Ernst dem Minister den Rücktritt nahe: "Guttenberg wurde als Verteidigungsminister vereidigt und deutet jetzt sein Amt zum Kriegsminister um." Dies stehe im Widerspruch zur Verfassung, weshalb Guttenberg das richtigstellen müsse oder als Minister nicht mehr haltbar sei. Außenpolitiker Wolfgang Gehrke fügte hinzu, für Wirtschaftsinteressen dürfe kein Blut vergossen werden.

Auch Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin ist der Auffassung, daß sich Guttenberg "jenseits der Linien des Grundgesetzes" bewegt. Der Verteidigungsexperte Omid Nouripour riet Guttenberg zu prüfen, ob "sein Fokus als Verteidigungsminister der Verantwortung seines Amtes gerecht wird". Stabilität dürfe nicht zum Vehikel für Wirtschaftsinteressen werden: "Auslandseinsätze sind die Ultima ratio in der Verteidigungspolitik."

SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold bezeichnete es als ein primäres Ziel der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen, das betreffende Land zu stabilisieren. "Wenn dann als Abfallprodukt die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands vertreten werden können, ist das ja auch gut", so Arnold, "aber das darf nicht oberste Priorität sein." Niemals dürfe die Bundeswehr handelspolitische Ziele verfolgen, erklärte auch SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann. Guttenbergs Vorstoß sei "gefährlich" und könne das Vertrauen in die Bundeswehreinsätze zerstören.

Während Die Linke Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt, tun sich die Kriegsparteien SPD und Grüne schwer, auf der Oppositionsbank scheinheilig Gründe gegen den rabiaten Freiherrn in Merkels Kabinett ins Feld zu führen, der doch nur vehement fortsetzt, was sie einst auf den Weg gebracht haben. Sozialdemokraten und Lodengrüne haben den Bundesbürgern Angriffskriege mit deutscher Beteiligung schmackhaft gemacht, die angeblich für die Menschenrechte, die Stabilität oder den Aufbau geführt wurden. Auf leisen Sohlen schlich man sich in die Schlacht, inszenierte Kontroversen mit den Amerikanern und hielt stets die Fahne deutscher Besonderheit hoch, die Angriffskriege gewissermaßen von selbst verbietet. Nun erklärt Guttenberg all die gedrechselten Worthülsen zur Makulatur, die den Krieg leugneten, vertuschten und verbrämten - und wird dafür auch noch weithin als ehrliche Haut und Macher hofiert, der den Menschen endlich reinen Wein einschenkt.

Wie weit dieser Prozeß inzwischen gediehen ist, unterstreicht die aktuelle Verlängerung mehrerer Bundeswehreinsätze durch das Kabinett. Derzeit sind mehr als 7.000 Soldaten an elf Auslandseinsätzen beteiligt, von denen drei ausgelaufen sind und nach dem Willen der Bundesregierung verlängert werden sollen. So soll sich die Marine ein weiteres Jahr am Kampf gegen Piraterie im Indischen Ozean und der "Anti-Terror-Mission" im Mittelmeerraum beteiligen. Zudem soll die Stabilisierungsmission in Bosnien-Herzegowina fortgesetzt werden, deren Grundlage der Friedensvertrag von Dayton vom 14. Dezember 1995 und die Resolution 1088 des UN-Sicherheitsrates vom 12. Dezember 1996 ist. Der Bundestag stimmte am 13. Dezember 1996 erstmals der Entsendung von bis zu 3.000 deutschen Soldaten zu. An dem zunächst von der NATO geführten Einsatz nahmen teilweise bis zu 60.000 Soldaten teil. Seit Ende 2004 wird die Operation von der EU als EUFOR-Mission "Althea" weitergeführt. Im Herbst 2010 war die Bundeswehr noch mit 115 Soldaten beteiligt, wobei die Obergrenze bei 900 Soldaten bleiben soll. (www.tagesschau.de 10.11.10)

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde die deutsche Beteiligung an der NATO-Mission "Active Endeavour" im Mittelmeer beschlossen, für die laut Mandatsentwurf weiterhin bis zu 700 Soldaten zur Verfügung stehen sollen. Derzeit sind an dem Marineeinsatz zwar keine deutschen Schiffe beteiligt, doch wird noch in dieser Woche die Fregatte "Bremen" mit 220 Soldaten entsandt.

Drittgrößtes deutsches Engagement nach den Missionen in Afghanistan und im Kosovo ist der EU-Einsatz "Atalanta" gegen Piraterie, an dem die Bundesmarine derzeit mit 320 Soldaten beteiligt ist, jedoch über ein Mandat von maximal 1.400 verfügt. Da die Piraten inzwischen weiträumig operieren, hat die EU ihr potentielles Einsatzgebiet auf den gesamten Indischen Ozean und die angrenzenden Meere ausgeweitet.

Was man den Bundesbürgern im öffentlichen Diskurs jahrelang nur portionsweise verabreicht hat und vom Verteidigungsminister nun brachial auf seinen offen bellizistischen Nenner gebracht wird, sieht man im Ausland offenbar längst viel klarer und kritischer. Wie es in einem jüngst veröffentlichten Diskussionspapier aus dem Berliner Büro des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) heißt, bekomme man im EU-Ausland inzwischen die sorgenvolle Frage zu hören, "ob man Angst vor einem neuen, nationalen Deutschland haben muß". Die "industriellen Eliten" der alten Bundesrepublik wendeten im Kampf um Weltmarktanteile "ihren Blick schon seit langem von Europa ab", und so verliere "jenseits der offiziellen Rhetorik" das seit 1949 gültige außenpolitische Paradigma der europäischen Integration inzwischen deutlich an Gewicht. Gleichzeitig büßten die transatlantischen Bindungen ihre vormalige Kraft ein. Offenbar glaube man in Deutschland, "alleine schneller, weiter und besser vorwärts kommen" zu können als im Verbund. [1]

Im Mittelpunkt der Verschiebungen steht demnach der Machtgewinn der Bundesrepublik seit 1990: Es stelle sich "eine neue deutsche Frage für das 21. Jahrhundert". Den deutschen Eliten gelte die EU allenfalls noch als nützliche "Basis für globale Marktstrategien" gegenüber aufstrebenden Mächten wie China, Indien und Brasilien. Ansonsten beklagten sie sich "über die unproduktiven europäischen Partner", wobei sie ihre "fast parasitäre Position" als Exporteur im europäischen Binnenmarkt ausblendeten. Deutschland verfüge heute "über mehr ökonomische und politische Macht" als Frankreich, weshalb die Notwendigkeit, Paris mit seinem politisch-militärischen Potential sorgsam einzubinden, nicht mehr im selben Maße wie früher gegeben sei.

US-Beobachter schließen selbst einen Zusammenbruch der EU angesichts des deutschen Machtstrebens nicht aus und rechnen für diesen Fall mit einem deutsch-russischen Bündnis. Laut dem US-Thinktank STRATFOR hat die Krise bestätigt, daß die Bundesrepublik "eindeutig das Gravitationszentrum Europas" ist: "Wenn Deutschland nicht zustimmt, kann nichts getan werden, und wenn Deutschland es so wünscht, wird etwas getan werden. Deutschland hat eine ungeheuere Macht in Europa." Zugleich sei die Bundesrepublik "das einzige Land in Europa mit der Fähigkeit, alternative Koalitionen zu schaffen, die mächtig und bindend sind". Die historische Alternative für Deutschland sei Rußland gewesen, und heute könnten die beiden Länder ihre Bedürfnisse gegenseitig decken. "Eine deutsche Koalition mit Rußland" wäre "das einleuchtendste Ergebnis eines Abstiegs der EU ... - als zunächst wirtschaftliches, perspektivisch aber auch militärisches Bündnis für einen alternativen deutschen Aufstieg zur Weltmacht."

Offen aussprechen würde selbst ein Karl-Theodor zu Guttenberg derartige Ambitionen heute wohl noch nicht, doch wer so erfolgreich die Muskeln spielen läßt wie der Verteidigungsminister und dafür nicht nur von der Boulevardpresse bereits auf den Königsthron gehoben wird, wird sich so seinen Teil zur Beförderung der deutschen Frage denken.

Anmerkungen:

[1] Ulrike Guérot: Wie viel Europa darf es sein? Überlegungen zu Deutschlands Rolle im Europa des 21. Jahrhunderts. Ein Diskussionspapier, ecfr.eu 28.10.2010

10. November 2010