Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HEGEMONIE/1705: Merkel mahnt taktische Kurskorrektur Netanjahus an (SB)



Wenngleich man westlicherseits selektiv einige Erhebungen im Nahen Osten als Revolution bezeichnet, als wolle man gerade durch die unangemessene Okkupation des Begriffs die gemeinhin darunter gefaßte Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse bannen, ist eine Entfaltung der Aufstände bis hin zu einer antiimperialistischen oder gar antikapitalistischen Stoßrichtung nicht mit Sicherheit auszuschließen. Selbst eine nationale, panarabische oder religiös konnotierte Woge der Veränderung könnte zu Verwerfungen in der Region führen, die sie den Zügeln US-amerikanischer und europäischer Hegemonie zu entreißen droht. Israel, das bislang als Speerspitze seiner Finanziers und Schutzmächte weit über seine nie festgelegten Grenzen hinaus nach Belieben schalten und walten konnte, sieht sich plötzlich Turbulenzen ausgesetzt, die seine in 60 Jahren auf überlegene Waffengewalt und ideologische Suprematie gegründete Dominanz erschüttern. Wankt das Zug um Zug erzwungene Gebäude der Kollaboration arabischer Regimes, tun sich aus Perspektive israelischer Machtpolitik plötzlich Abgründe auf, wo man zuvor felsenfest verankerte Stützen wähnte.

Der Eindruck, Israel fahre den Zug eigener und damit auch übergeordneter westlicher Interessen an die Wand, da sich seine rechtsgerichtete Führung als unfähig zu einer taktischen Kurskorrektur erweist, stimmt die engsten Verbündeten nervös bis ungehalten. Nicht, daß man die Absicht hätte, seinen Lieblingszögling zu verstoßen, doch scheint man gegenwärtig in ihm erstmals das verzogene Kind zu sehen, dem man besser erzieherische Strenge angedeihen läßt. Das gilt insbesondere für die Bundesregierung, an deren Spitze die Kanzlerin inmitten der Krisen und Stürme machtbewußt daran arbeitet, die deutsche Vorherrschaft in Europa zu stärken, sich der arabischen Welt auf lange Sicht als glaubwürdigster Hegemon zu empfehlen und im supranationalen Verbund der EU den USA im Konkurrenzkampf unter Verbündeten zuvorzukommen. Wenn die Karten schon vielerorts neu gemischt werden, will man in Berlin das Hauen und Stechen nutzen, um hinterher die höheren Trümpfe in der Hand zu halten.

So wenig sich deutsche Regierungspolitik jemals um das Schicksal der Palästinenser geschert hat und so sehr man sich auf den Verrat arabischer Despotien verlassen konnte, muß man doch heute damit rechnen, daß der andernorts als Kriegsvorwand in Stellung gebrachte Schutz der Menschenrechte unversehens zugunsten der palästinensischen Sache ins Feld geführt wird. Was, wenn eine junge Generation in den arabischen Ländern, die nicht durch jahrzehntelange Teilhaberschaft von Buckeln und Treten zugunsten eigener Pfründe kontaminiert ist, propagandistisch verseuchte Denkweisen entsorgt und fundamentale Fragen wie jene nach besseren und würdigeren Lebensverhältnissen neu stellt? Was, wenn nach dem Sturz der mit Israel und dem Westen paktierenden Regimes Regierungen an die Macht kämen, denen die Solidarität mit den Palästinensern und eine Koexistenz mit Israel auf gleicher Augenhöhe selbstverständliche und ernsthaft verfolgte Anliegen sind?

Die Angst im Nacken, angesichts um sich greifender Wirren unschätzbaren Boden zu verlieren, und zugleich magisch angezogen von der Verheißung, aus einer Phalanx ineinander greifender Krisen auf buchstäblich allen Gebieten als Profiteur hervorzugehen, wird das Nervenkostüm dünner und der Ton harscher, wenn Kanzlerin Merkel den deutschen Umgang mit der israelischen Führung neu konfiguriert. In der Vergangenheit standen Bundesregierungen stets so eng an der Seite Israels, daß sie in der EU jede kritische Stellungnahme gegen israelische Regierungspolitik blockierten oder zumindest dagegen votierten und damit eine gemeinsame Stimme der europäischen Mächte verhinderten. Inzwischen deutet sich jedoch an, daß die deutsche Führung erstmals offen zwischen ihrer sogenannten historischen Verantwortung gegenüber Israel und ihren politischen Zielen im Nahen Osten zu differenzieren beginnt.

Bei ihrem Israelbesuch Anfang Februar warnte Merkel die Regierung Netanjahu, daß angesichts der rasanten und unabsehbaren Veränderungen in der gesamten Region diesmal die Zeit nicht auf Seiten ihrer Gastgeber sei. Wenige Wochen später stimmte Deutschland zusammen mit Frankreich und Großbritannien im UN-Sicherheitsrat erstmals seit Jahren für eine Resolution, welche die Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten als illegal bezeichnete und einen sofortigen Stopp aller Siedlungsaktivitäten forderte. Zwar verhinderten die USA wie üblich mit ihrem Veto die Annahme der Resolution, doch standen sie damit unter den 15 Ratsmitgliedern allein auf weiter Flur. Als Ministerpräsident Netanjahu daraufhin wutschnaubend bei der Bundeskanzlerin anrief, um sich zu beschweren, soll ihm Merkel heftig in die Parade gefahren sein und erklärt haben, daß es die israelische Regierung sei, die Deutschland enttäuscht habe, weil sie keinen einzigen Schritt auf dem Weg zu einer Friedenslösung getan habe.

Inzwischen befürchten israelische Diplomaten, daß den Deutschen das Hemd europäischer Interessen näher als der Rock des Schulterschlusses mit Israel sein könnte und sie gemeinsam mit Briten und Franzosen die Führung im Nahostprozeß übernehmen wollen, um den Amerikanern zuvorzukommen. Mit vereinten Kräften könnten die europäischen Führungsmächte bei den Vereinten Nationen und der Europäischen Union einen Friedensplan konzipieren, der die Langzeitstrategie israelischer Regierungspolitik, Friedensabkommen mit den Palästinensern zu blockieren, in die Defensive bringt. [1]

Beim jüngsten Besuch Netanjahus, der zwei Monate nach den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen in Jerusalem nach Berlin gereist war, nahm ihn Merkel erneut mit der Mahnung ins Gebet, die Rückkehr an den Verhandlungstisch dulde keinen Aufschub mehr, da vom Friedensprozeß die Stabilität in der gesamten Region abhänge. Fortschritte seien dringlicher denn je. Israels Premier räumte zwar ein, daß im Nahen Osten gewaltige Veränderungen stattfänden, wollte darin aber keinen Zusammenhang mit den stagnierenden Friedensverhandlungen sehen. Wie er vage und ohne jeden Hinweis auf einen Zeitplan erklärte, müsse man versuchen, Wege zu finden, um diese Verhandlungen wieder aufleben zu lassen. Merkel hielt mit den vergleichsweise deutlichen Worten dagegen, daß bis September wichtige Fortschritte erzielt werden sollten "und nach unserer Meinung auch erzielt werden könnten". [2]

Die palästinensische Führung hat angekündigt, sie werde im Herbst mit Hilfe der UN-Vollversammlung einen unabhängigen Staat ausrufen, was Israel unbedingt verhindern will. Netanjahu sucht aus diesem Grund dringend Unterstützung bei den Verbündeten, die er bei Merkel in dieser wichtigen Frage auch fand. Deutschland werde keiner einseitigen Anerkennung eines palästinensischen Staates zustimmen, versicherte die Kanzlerin. Die Bundesregierung trete weiterhin für eine Zwei-Staaten-Regelung ein. "Und deshalb sind einseitige Anerkennungen auf gar keinen Fall ein Beitrag dazu, diesem Ziel, was ich für unerläßlich halte, entgegenzukommen", so die Kanzlerin.

Auch in Israel wächst der Druck auf Netanjahu, die Situation mit einer eigenen Initiative zu entschärfen und damit das Heft in die Hand zu bekommen. Israelische Diplomaten, die ihr Ohr am Puls europäischer Befindlichkeiten haben, mahnen Bewegung in den Friedensverhandlungen dringend an. In Israel hat eine Gruppe von ehemaligen ranghohen Geheimdienstmitarbeitern und Wirtschaftsführern die Regierung dazu aufgefordert, gewisse territoriale Zugeständnisse an die Palästinenser zu machen, wogegen jedoch der einflußreiche Flügel der Siedler in Netanjahus Likud-Partei Sturm läuft.

Unterdessen hat Israels Präsident Shimon Peres bei einem Auftritt vor den Botschaftern der 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats eindringlich Stimmung gegen jeden Versuch der Vereinten Nationen gemacht, einer einseitigen palästinensischen Staatsgründung zuzustimmen, solange die UN nicht für die Sicherheit Israels sorgen könne. Man sei bereit, Land gegen Frieden aufzugeben, doch könne das nur geschehen, sofern die Sicherheit garantiert werde. [3] Zugleich versuchte Peres aus dem Rückzieher Richard Goldstones Kapital zu schlagen, der von Seiten Israels als vollständige Rehabilitation der eigenen Position verkauft wird. Wie der israelische Staatschef erklärte, reiche Goldstones Stellungnahme nicht aus, um die "Verleumdung" Israels aus der Welt zu schaffen, die langlebiger als die Rücknahme der Vorwürfe sei. Vielmehr müsse der Goldstone-Report des UN-Menschenrechtsrats aus dem Verkehr gezogen werden.

Diesem Ansinnen hat zuletzt die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan E. Rice, im Rahmen einer Kongreßanhörung eine Absage erteilt. Sie wünsche zwar, daß dieser Bericht "verschwinde", glaube aber nicht, daß an ihm Änderungen vorgenommen werden können. Daß der Goldstone-Report verschwinden möge, wünscht sich die israelische Führung seit 2009, listet er doch auf rund 600 Seiten zahlreiche Greueltaten der Armee beim Angriff auf den Gazastreifen auf, in dessen Verlauf etwa 1.400 Palästinenser getötet, zahlreiche weitere verletzt und traumatisiert sowie immense Zerstörungen angerichtet wurden. Wie Peres nun erklärte, sei in diesem Bericht von 400 Menschenrechtsverstößen der Streitkräfte die Rede. Eigene Untersuchungen hätten aber gezeigt, daß es nur in drei Fällen zu "Fehlern" gekommen sei, für die sich die verantwortlichen Soldaten vor Gericht verantworten müßten.

Unter der ewig gleichen Verdrehung von Tätern und Opfern über Verleumdung zu lamentieren, wenn jemand ein Massaker als solches bezeichnet, und zu behaupten, das Schlachten und Verwüsten sei so gut wie anstandslos verlaufen, könnte einem wie beabsichtigt die Sprache verschlagen. Daß die engsten Verbündeten Israels solche kaltschnäuzigen Manöver bislang mitgetragen und wohl sogar bewundert haben, heißt jedoch nicht zwangsläufig, daß die dadurch erzwungene Sprachlosigkeit und Teilhaberschaft ewig währt. Ein überspannter Bogen mag für gewaltige Schüsse sorgen, doch vermag niemand zu sagen, wann und wo er bricht. Die rasanten Veränderungen in der gesamten Region können dazu führen, daß Israel als Sachwalter westlicher Interessen und Garant der Sicherheitsarchitektur an Bedeutung verliert. Verlassen sollte man sich darauf aber ebenso wenig wie auf die Risse zwischen den Bündnispartnern, die allenfalls andeuten, wo potentielle Bruchlinien angesiedelt sein könnten.

Anmerkungen:

[1] Germany Pushes Israelis on Peace (08.04.11)

www.nytimes.com

[2] Nahost-Prozess. Merkel drängt Israel zu raschen Verhandlungen (07.04.11)
http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-04/nahost-merkel-netanjahu-friedensprozess

[3] Warning by Israeli on U.N. Nod to Palestinians (08.04.11)
www.nytimes.com

9. April 2011