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HEGEMONIE/1760: Alter Räuber in neuem Gewand - Deutschen Hegemonialinteressen huldigen (SB)




Am 6. April 1941 überfiel die Wehrmacht Griechenland und Jugoslawien und errichtete dort ein brutales Besatzungsregime. Wie viele andere Opfer des deutschen Angriffskriegs mußte auch Griechenland die Kosten der Besetzung tragen, wofür 1942 die Summe von 2,5 Milliarden Reichsmark in Rechnung gestellt wurde. Zudem wurde die griechische Wirtschaft durch Zwangsexporte ausgeplündert, wofür man eigens eine "Deutsch-Griechische Warenausgleichsgesellschaft" gründete. Zwangsläufige Folgen waren eine galoppierende Inflation der Drachme und ein dramatisch sinkender Lebensstandard der Bevölkerung. Überdies zwang das Dritte Reich die griechische Nationalbank, Deutschland zinslos Geld zu leihen. Die Gesamtsumme dieser unfreiwilligen Anleihe betrug nach einem Bericht des Auswärtigen Amtes vom 12. April 1945 an die Reichsbank 476 Millionen Reichsmark.

Nach der Kapitulation Deutschlands fand im Herbst 1945 in Paris eine erste Reparationskonferenz statt, auf der Griechenland zehn Milliarden US-Dollar forderte. Dies war jedoch bereits im Februar 1945 von den USA und Großbritannien als zu hoch beurteilt worden. Letztlich gestand man den Griechen nur einen Anteil von 4,5 Prozent an den materiellen deutschen Reparationsleistungen und von 2,7 Prozent an anderen Formen der Reparationen zu. Tatsächlich erhalten hat Griechenland jedoch lediglich Sachleistungen, vor allem Maschinen aus westdeutscher Produktion im damaligen Gesamtwert von rund 105 Millionen Mark.

Die Festlegung der Pariser Konferenz blieb praktisch irrelevant, weil vor allem die USA die junge Bundesrepublik vor Forderungen in Schutz nahmen. Westdeutschland wurde zum Bollwerk gegen den Kommunismus aufgebaut und durfte deshalb nach Maßgabe Washingtons nicht durch Reparationszahlungen geschwächt werden. So wurde im Londoner Schuldenabkommen von 1953 die Regelung der Reparationsforderungen bis zum Abschluß eines Friedensvertrages verschoben. Als schließlich 1990 die deutsche Einheit verhandelt wurde, schloß man das völkerrechtlich bindende Zwei-plus-Vier-Abkommen, das "anstelle eines Friedensvertrages" trat. Auf diese Weise konnten Forderungen nach Reparationsleistungen endgültig aus dem Feld geschlagen werden.

Unabhängig davon entschädigte die Bundesrepublik individuell Opfer von NS-Verbrechen, um sich von allen weitergehenden Forderungen freizukaufen. Am 18. März 1960 schlossen Griechenland und die Bundesregierung einen Vertrag, dem zufolge 115 Millionen DM für griechische Opfer der NS-Herrschaft gezahlt wurden. Das war mit der Zusage verknüpft, daß keine zusätzlichen Forderungen auf individuellen Schadenersatz mehr zulässig sein sollten. Dessen ungeachtet kam es mehrfach zu Forderungen von Nachkommen griechischer Opfer. Die bekannteste derartige Klage erhoben die Kinder von Bewohnern des Dorfes Distomo, die am 10. Juni 1944 ermordet worden waren. Sie erreichten 1997 ein Urteil, demzufolge die Bundesrepublik umgerechnet 37,5 Millionen Euro Entschädigung zahlen müsse. Nach vielen juristischen Winkelzügen, der Unterstützung durch italienische und der Ablehnung der Klage durch deutsche Richter, verhandelt derzeit der Internationale Gerichtshof in Den Haag über die Forderung.

Mitunter versuchten griechische Politiker, Forderungen nach Entschädigungen zu erheben. Beispielsweise ist der Charakter der Zwangsanleihe von 476 Millionen Reichsmark rechtlich umstritten. Handelt es sich um eine Form von Kriegsschaden, müßte Deutschland nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht zahlen. Beurteilt man die Summe hingegen als gewöhnlichen Kredit, hätte Griechenland Anspruch auf Rückzahlung des Geldes. Stellt man die heutige Kaufkraft und eine Verzinsung in Rechnung, beliefe sich der Betrag auf mindestens 70 Milliarden Euro. Würde diese Schuld auch nur in Teilen anerkannt, schüfe das einen Präzedenzfall, der unabsehbare weitere Forderungen nach sich ziehen könnte. Folglich werden die Griechen nie auch nur einen einzigen Cent aus dieser Forderung erhalten.

Eingedenk dieser Geschichte, in der Griechenland ein Opfer deutscher Aggression wurde und dennoch nie zu den Siegermächten gehörte, kann man den dort lebenden Menschen schwerlich verdenken, in ihrer existentiellen Not Deutschland erneut als Angreifer zu erleben. Was immer man gegen Nazi-Vergleiche einwenden kann, sind sie doch zumindest in Griechenland, Portugal oder Zypern in nicht unmaßgeblichen Teilen Ausdruck des Empfindens, insbesondere auf Betreiben der deutschen Politik wiederum ins Elend getrieben zu werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hütet sich wohlweislich davor, dem Beispiel etlicher anderer Unionspolitiker zu folgen und den häßlichen Hitler-Vergleichen auf Titelseiten und Transparenten mit heftiger Polemik zu begegnen. Demonstrativ Öl ins Feuer zu gießen, überläßt sie niederen Chargen, wenn sie die eiserne Faust mit sanfter Baumwolle kaschiert. "Ich empfinde es im Grunde als Glücksfall für Europa, dass wir helfen können, weil wir zu Hause unsere Reformen schon angepackt haben", lektioniert sie in schlichten Worten den Rest des Kontinents, daß der deutsche Weg der einzig gangbare sei. "Ich habe keine Zeit, mich mit Ärger aufzuhalten. Psychologisch ist es interessant: Ob ich an einer Verhandlung überhaupt teilnehme oder ob die Troika das macht, vollkommen egal, Deutschland steht nun mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit." [2]

Was die Kanzlerin zum Glücksfall für Europa erklärt, wird in Griechenland oder Zypern zwangsläufig anders gesehen. Warum dort die helfende deutsche Hand nicht dankbar geschüttelt, sondern als Würgegriff aufgefaßt wird, weiß der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ganz im Sinne der Berliner Regierung auszudeuten. [3] Die Rolle, die lange die EU innegehabt habe, werde zunehmend auf Deutschland übertragen, da "diese eigentümliche Kombination aus korrupten Eliten in anderen Ländern und populistischen Akteuren" einen Sündenbock suche, dem sie ihre eigenen Fehler zuschieben könne. Dafür biete sich Deutschland infolge seiner Geschichte natürlich an.

Nachdem Münkler das ökonomische Gefüge der Eurozone samt den daraus resultierenden Krisenfolgen kurzerhand auf Korruption der griechischen oder zyprischen Eliten heruntergebrochen und damit sowohl eine Pseudoerklärung geliefert als auch die Schuldfrage gleich vorab geklärt hat, ist er bereits in die nachfolgende Einbahnstraße der Bezichtigung eingebogen. Was in den südlichen Ländern vor sich gehe, sei schlichtweg "Erpressung":

Denn in gewisser Hinsicht läuft das Ganze so, dass erklärt wird, wir brauchen Hilfe, wir wollen Hilfe, aber wir wollen Hilfe zu unseren Bedingungen, nicht zu euren deutschen Bedingungen, und wenn ihr nicht bereit (sic!) seid, zu unseren Bedingungen Hilfe zu geben, dann zeigen wir euch die Symbole eurer Schande und versuchen darüber gewissermaßen, innerhalb der EU-Koalition gegen euch zu mobilisieren.
Also, es ist eine Politik des Ressentiments, von der man ja eigentlich angenommen hat, dass sie durch die Formierung der Europäischen Union überwunden worden seien (sic!). Nun zeigt sich aber, dass die peripheren Akteure und die Fliehkräfte innerhalb der EU doch größer sind, und Deutschland die Rolle sozusagen der zentripetalen Macht spielen muss, damit in eine Position hineingerät, in der sie immer wieder angreifbar ist.

Diese inszenierte Empörung halte er im Falle der Zyprer für "besonders frivol", da Zypern von der Wehrmacht nie besetzt worden sei. Da könne man sehen, wie in einer Zeit der globalen Vernetzung auch die Symbole beliebig zirkulierten und kurzfristig eine Art Koalition der Südländer angestrebt werde. Es handle sich eben nicht nur um die Empörung des sogenannten kleinen Mannes oder der kleinen Frau auf der Straße, sondern um das politische Kalkül, die deutsche Position zu schwächen.

Nachdem Münkler so den Spieß vollends umgedreht und die Entrüstung der Griechen und Zyprer zu einem politischen Kalkül der Erpressung erklärt hat, nimmt er zum krönenden Abschluß eine bemerkenswerte Umdeutung deutscher Hegemonialinteressen vor. Die Funktion eines Hegemons bestehe nicht darin, so belehrt uns der Berliner Professor, daß er selber große Vorteile habe. Er stelle vielmehr "kollektive Güter für den Gesamtverband bereit", das seien in diesem Fall "Stabilität und Nachhaltigkeit und vielleicht auch so etwas wie korruptionsresistente Eliten". Das sei nicht immer angenehm, da man diese Dinge gegen andere durchsetzen müsse, zumal man obendrein auch noch die materiellen Kosten trage. Folglich ließen sich relativ leicht "emotionale, aber auch sachlich begründete antihegemoniale Koalitionen organisieren", mit denen man es hier zu tun habe.

Die deutsche Politik müsse eine hegemoniale Rolle spielen, da andernfalls die Europäische Union eine Unwucht bekäme und auseinanderzufliegen drohte. Sobald sie aber diese Rolle übernehme, sei sie auf Grund der deutschen Geschichte in besonderer Weise angreifbar. Schon vor der Europäischen Union seien viele deutsche Vorschläge über Paris in die europäischen Mechanismen hineinlanciert worden. Da jedoch diese Achse nicht mehr funktioniere, sei Deutschland auf eine dramatische Weise sichtbar geworden, und die anderen stünden dabei und beobachteten das mit einer gewissen Schadenfreude.

Kein Wort von der Auspressung deutscher Belegschaften zur Senkung der Lohnstückkosten, von dem Elendsregime der Agenda 2010 samt Hartz IV, von der Exportoffensive zu Lasten der schwächeren EU-Volkswirtschaften, von deren währungspolitischer Knebelung durch die Gemeinschaftswährung, von der Übernahme geschwächter Unternehmen durch ausländische Investoren und Konzerne, von immer neuen Sparauflagen durch die Troika, kein Wort von Hunger, Krankheit, Erniedrigung und Tod.

Um dem Hegemon zu huldigen, setzt Münkler die politische Machtposition Deutschlands, die Renditen deutscher Konzerne und den immer noch vergleichsweise hohe Lebensstandard als so selbstverständlich voraus, daß er sie kurzerhand als substantielle Vorteilslagen unterschlägt. Blendet er dann noch alle relevanten ökonomischen Parameter der Krise aus, landet er flugs bei derselben Küchenpsychologie wie die Kanzlerin: Deutschland übernehme die Verantwortung und werde dafür zum Sündenbock gemacht. Korruption, Neid und Schadenfreude der Griechen, Zyprer und Resteuropäer - doch keinesfalls ein weiterer Raubzug unter deutscher Führung, der diesmal, um mit Münkler zu sprechen, stabiler und nachhaltiger ausfallen soll als der letzte.

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/politik/deutschland/article13610386/Schuldet-Deutschland-den-Griechen-70-Milliarden.html

[2] http://www.focus.de/politik/deutschland/habe-keine-zeit-mich-mit-aerger-aufzuhalten-merkel-ertraegt-nazi-vergleiche-mit-gelassenheit-dank-ddr-erfahrung_aid_951023.html

[3] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/2062491/

4. April 2013