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HEGEMONIE/1791: "Europa zusammenhalten" ... doch zu welchem Preis? (SB)



Eine "intellektuelle Fehlleistung" attestiert der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel nicht nur der in Frankfurt gegen die Eröffnung der neuen EZB-Türme protestierenden Blockupy-Bewegung, sondern allen Kritikerinnen und Kritikern der Europäischen Zentralbank. "Ausgerechnet die EZB zum Verantwortlichen zu machen, zeugt auch von einem ganz erheblichen Unverständnis darüber, was die EZB derzeit für den Zusammenhalt in Europa leistet" - in der Spur der Kanzlerin wandelnd, für die Euro und Europa ein und dasselbe sind, präsentiert der SPD-Politiker den blinden Fleck einer EU-Seligkeit, der imperiale Größe, globale Expansion und aggressive Machtentfaltung alles, aber ein von Geld- und Tauschwert freier Zusammenhalt der Menschen nichts ist.

Was die EZB konkret tut, ist mit billigem, ja den Banken fast nachgeworfenem Geld eine Staatsschuld in Kurs zu halten, für die die Arbeit der Lohnabhängigenklasse auf viele Jahre verpfändet wurde. Tatsächlich kittet sie damit die Bruchlinien, die unter dem Druck der an nationalen Produktivitätsunterschieden ausgetragenen Standortkonkurrenz zum Zerreißen gespannt sind. Um dieses Gefälle zugunsten des davon am meisten profitierenden Standortes aufrechtzuerhalten, müssen die Ziele der Warenströme deutscher Unternehmen und Kapitalexporte deutscher Investoren mit dem einzigen Mittel, das nach der Einebnung aller Wechselkursdifferenzen noch übrigbleibt, abgewertet werden, nämlich der wachsenden Produktion von Liquidität ohne absehbaren Gegenwert, also der Gelddruckoption. Haushaltsausgaben, die nicht unmittelbar die angestrebte Wettbewerbsfähigkeit nationaler Industrien und Banken stärken, gelten als Wachstumshindernis und sind daher zu unterlassen.

Dies betrifft insbesondere Sozialausgaben, denn diese versetzen die Menschen in die Lage, nicht jeden Job unter jeder Bedingung annehmen zu müssen, sondern noch Zeit und Platz für Dinge zu haben, die keinem ökonomisch verwertbaren Nutzen frönen. Die Hungerkur der Austeritätspolitik nötigt ganze Bevölkerungen, die eigene Lebensqualität in schmerzhafte und lebensverkürzende Tiefen zu treiben und seit jeher sozial und kommunal geregelte Faktoren der Daseinsvorsorge dem Wertwachstum der Privatisierungspolitik preiszugeben. Daß Kapitaleigner Anlageprobleme haben, weil die an den Börsen und Finanzmärkten, im Immobiliengeschäft und im Rechtehandel vervielfachten Geldmengen immer weniger durch menschliche Arbeit gedeckt sind, ist quasi der Preis, den sie für das Privileg entrichten, in immer größerem Ausmaße über das Leben der Menschen zu verfügen, mit deren mehrwertschöpfender Arbeit letzten Endes alles steht und fällt.

Die von der EZB mitzuverantwortenden Sparauflagen halten eine EU zusammen, in der die Konkurrenz der Staaten und Regionen niemals endet, weil sich am angsterfüllten Blick auf das jeweils größere Elend der Funken nationalchauvinistischer und volksgemeinschaftlicher Ideologien entzündet. Auch Gabriel erklärt jedem, der es hören will oder nicht, daß die unselige Feindschaft zwischen den europäischen Staaten überwunden und daß, wer die EU insgesamt als unreformierbar ablehne, ein unverbesserlicher Nationalist sei. Auch wenn diese Feindschaft innerhalb Europas nicht mehr militärisch ausgetragen wird, von dem zur Konsolidierung der Maastricht-EU geführten Krieg gegen Jugoslawien und der zugunsten der Ostexpansion der EU erfolgten Brandstifterei in der Ukraine einmal abgesehen, so werden die Bevölkerungen im Namen der Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Wirtschaftsstandorts doch notorisch gegeneinander aufgewiegelt.

Auch einem Sozialdemokraten wie Gabriel, der ein sozialistisches Europa für Teufelszeug hält, könnte die Idee einer Sozialunion, die die Asymmetrien der nationalen Produktivitätsniveaus ein wenig entlastete, einleuchten. Das nötigte ihm jedoch das Eingeständnis ab, daß das eigene Nationalprodukt, das angeblich so hart erarbeitet wurde, daß es permanent gegen "faule" und "gierige" Südländer verteidigt werden muß, wesentlich aus der Lohnzurückhaltung der eigenen Bevölkerung, dem Leistungsbilanzüberschuß des Exportweltmeisters und der Begleichung der in Defizitkreisläufen rotierenden Kredite geschöpft wird. Es hieße mithin zuzugeben, daß der auf stetiges Wachstum abonnierte Kapitalismus längst von der Substanz lebt, sprich das Leben der Menschen für das in seinem nominellen Wertanspruch nicht mehr einzulösende Geld verbraucht wird. Es hieße schließlich zu erkennen, daß die vielbeschworenen Entwicklungschancen technologischer Innovation nicht kaufkräftig mobilisieren können, was an neuen Gütern gar nicht erst erzeugt wird, weil die Effizienz der Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen den Platz einnimmt, der einer an realen menschlichen Bedürfnissen orientierten Produktion vorbehalten sein sollte.

Eine EU durch eine Einheitswährung zusammenzuhalten, in der zwischen Ländern wie Rumänien und der Bundesrepublik Welten liegen, was den bereits gegebenen Entwicklungsstand und mögliche Produktivitätszuwächse betrifft, ohne die dabei anfallenden sozialen Verluste nach Kräften auszugleichen, läuft auf eine programmatische Ausplünderei hinaus. Den nationalen Eigentumsvorbehalt, der im Falle Deutschlands durch den großen Einfluß der Bundesregierung auf die Politik der EZB paßförmige Gestalt annimmt, aufzugeben bedeutete wiederum, ein ganz anderes Europa als das der neoliberalen Marktwirtschaft und imperialen Globalkonkurrenz zu schaffen. Wenn die Einheit, die mit dem Begriff "Europa" eingefordert wird, über einen territorial oder kulturhistorisch fundierten Anspruch hinaus eine Gemeinsamkeit stiften könnte, dann wäre es die der grenzüberschreitenden Solidarität und damit des kollektiven Widerstands gegen die Atomisierung der Menschen zu isolierten Marktsubjekten und fremdbestimmten Arbeitsdrohnen. Um sich die Welt so schönzureden, wie es der SPD-Chef tut, braucht man eben hohe Türme, aus deren oberen Etagen man das Elend und die Gewalt auf den Straßen der europäischen Metropolengesellschaften nicht mehr erkennen kann.

19. März 2015


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