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HEGEMONIE/1797: Exit vom Brexit? (SB)



Nigel Farage tritt als UKIP-Chef zurück, angeblich weil er sein Ziel, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, erreicht hat. Der Brexit-Frontmann Boris Johnson zieht die Reißleine, als habe er nicht gewußt, wofür er selbst mit dem testosteronversprühenden Habitus eines wildgewordenen Bullen geworben hat. Zwar haben die den Austritt propagierenden Eliten erfolgreich das reaktionärste Moment aller denkbaren Kampagnen gegen die EU, die Feindseligkeit gegenüber Migrantinnen und Migranten, mobilisiert, doch mit dem Echo einer auf neoliberale Sozialkonkurrenz zugerichteten Bevölkerung scheinen sie überfordert zu sein. Nun, da sich die Zeichen dafür mehren, daß das Schiff sinkt, noch bevor es in die ersehnte Freiheit ungezügelter globaler Raubzüge ausgelaufen ist, schwant ihnen, daß die reaktionäre Verkehrung sozialer Widersprüche dennoch Ergebnisse zeitigen kann, die den Sachwaltern von Staat und Kapital in die Parade fahren.

Dabei sind die britischen Geld- und Funktionseliten so sehr auf den Zugang zum europäischen Binnenmarkt angewiesen, daß ein Erhalt dessen ihnen unter den Bedingungen eines Austritts aus der EU vor allem Nachteile beschert. Als Mitglied im Binnenmarkt etwa nach dem Modell Norwegens müßten sie weiterhin dessen Regeln umsetzen und ins EU-Budget einzahlen, hätten aber keinen Einfluß mehr auf die Gesetzgebung der Europäischen Union [1]. Für die City of London, deren eminente Bedeutung als Standort für die globale Finanz- und Kreditwirtschaft vor allem daraus resultiert, daß er nicht der Jurisdiktion des US-Finanzmarktes unterliegt und freien Zugang zum EU-Binnenmarkt hat, bräche mit dem Austritt aus der EU eines seiner beiden Standbeine ersatzlos weg.

Trotz des seit 2008 krisenbedingten Einbruchs der internationalen Finanzgeschäfte trägt die City noch rund 15 Prozent zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei. Daß sie für alle am Weltmarkt in Dollar und Euro getätigten Geschäfte quasi den Charakter eines Offshore-Finanzmarktes besitzt, auf den internationale Anleger ihre Kapitalexporte schicken können, um bei hoher Rechtssicherheit die Vorteile eines Steuerparadieses zu genießen, ist ein Grund für den Aufstieg Londons zum globalen Finanzzentrum. Im Rahmen des neoliberalen Paradigmenwechsels wurden Kapitalsverkehrskontrollen aufgehoben, die London Stock Exchange (LSE) für ausländische Direktinvestitionen geöffnet und die Akkumulation fiktiven Kapitals durch Derivatehandel und die Versicherung von Kreditgeschäften angeheizt [2]. Da schon die schiere Größe der vollzogenen Finanztransfers analog zu den Konzentrationsprozessen transnationaler Wirtschaftsakteure über die Bedeutsamkeit eines Finanzplatzes im globalen Vergleich entscheidet, könnte ein Umzug vieler Banken und Fonds aus London in EU-europäische Metropole wie Frankfurt oder Luxemburg schwerwiegende Folgen nicht nur für den Finanzsektor, sondern auch die von seiner Kreditierung abhängigen Unternehmen Britanniens haben.

Die in der Brexit-Kampagne verbreitete Behauptung, mit wiedererlangter Souveränität würde das Land stärker prosperieren, wurde von den in London angesiedelten Großunternehmen und Banken nie geteilt. Zwar mußte die britische Regierung, die die EU-Mitgliedschaft durch zahlreiche Sonderkonditionen stets zum eigenen Vorteil zu nutzen wußte, im Verlauf der Krise einige Rückschläge hinnehmen. Insbesondere die Bundesregierung ging zur Durchsetzung ihrer Hegemonialinteressen auf Konfrontationskurs, indem etwa der Fiskalpakt gegen britischen Widerstand durchgesetzt wurde, was die Befürworter des EU-Austritts beflügelte. In Berlin ließ man die Staaten, die den Euro nicht als Währung übernehmen wollten, zugunsten des deutschen, mit Spardiktaten und Struktureingriffen operierenden Krisenmanagements zusehends spüren, daß dies auch mit Verlusten an Einflußnahme auf europapolitische Entscheidungen verbunden ist.

Doch nun wächst der für einen Austritt zu entrichtende Preis tagtäglich. Das Pfund ist auf historischen Tiefstand gesunken, die Börsenwerte an der LSE verfallen rapide, und mehrere große Investmentfonds haben die Einlagen ihrer Kunden eingefroren, um keinen massiven Wertverlust durch den panikartigen Abzug ihrer Gelder zu erleiden. Dem für die Zahlungsfähigkeit vieler Privathaushalte und die Kreditbranche zentralen Immobilienmarkt droht ein drastischer Einbruch, und den Gerüchten um eine weitere Bankenkrise wird mit beschwichtigenden Stellungnahmen entgegengetreten [3]. So wird die weltweit nicht nur andauernde, sondern sich beschleunigende Verwertungskrise, die unter anderem an der Verzehnfachung mit Negativzinsen belasteter Staatsanleihen von 1,3 auf 11,7 Billionen Dollar innerhalb eines Monats zu erkennen ist [4], an einem zentralen Ankerplatz des in Dollar und Euro notierten Weltgeldes als rezessive Bedrohung unabsehbaren Ausgangs manifest. Wo die Stabilität des Geldwertes nur noch mit einer finanzkapitalistischen Produktivität aufrechterhalten wird, die mit immer größerer Geschwindigkeit leer läuft, weil das dabei akkumulierten Kapital längst nicht mehr in Sachwerten zu realisieren ist, durch niedrige bis negative Zinsraten von Entwertung bedroht wird und sich um so hektischer auf die Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten begibt, bergen politische Erschütterungen wie ein Brexit stets das hochgradige Risiko eines rapiden Wertverfalls.

Was also tun? Die in der City of London ansässige Anwaltskanzlei Mishcon de Reya, die internationale Unternehmen wie Microsoft, American Express, DHL oder Pfizer vertritt, hat rechtliche Schritte gegen das formale Einleiten des Austrittsprozesses angekündigt [5]. Über ihre Auftraggeber macht sie keine konkreten Angaben, doch über die dominante Interessenlage braucht nicht spekuliert zu werden. Ihre Rechts- und Verfassungsexperten machen geltend, daß das Referendum keine bindende Wirkung hätte, sondern nur eine mehrheitliche Entscheidung der Volksvertreter einen Austritt aus der EU beschließen könnten. Das ist nur eine von mehreren Initiativen, die mit starker Unterstützung der Geschäftswelt versuchen, das Ruder herumzureißen und einen Exit vom Brexit zu erwirken.

Nichts in der Politik ist in Stein gemeißelt, das gilt erst recht für formale Demokratien, deren realpolitische Praxis in der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda besteht, gegen die sich kein Widerstand von unten formiert. Daß dies nicht geschieht, ist nicht zuletzt der Zurichtung der Menschen zu hochgradig individualisierten Marktsubjekten geschuldet, die in den anderen meist Konkurrenten, kaum jedoch Kampfgenossen erkennen. Wenn ein an nationalen Referenden gescheiterter EU-Verfassungsvertrag nur wenige Jahre später als Vertrag von Lissabon in fast gleichlautender Form verabschiedet wird, dann ist ein ähnliches Prozedere auch für das Vereinigte Königreich vorstellbar.

Dafür haben dessen Machteliten allen Grund. Daß ein Austritt aus der EU ihnen ökonomische Verluste bescheren würde, war aus ihrer Sicht kein Geheimnis. Daß ein Brexit auch ihr neofeudales Privileg, zu eigenen Gunsten über Staat und Politik zu gebieten, gefährden könnte, wird jedoch erst jetzt, da die Konsequenzen des Austritts Gestalt annehmen, deutlich. Die institutionell und administrativ hochgradig durchregulierte EU ist auf die Klassenkämpfe und geostrategischen Konflikte der Zukunft weit besser vorbereitet als ein Vereinigtes Königreich, das nicht mehr den Rückhalt dieses Staatenbundes genießt und, wie die Folgen des Referendums zeigen, durch heftige Konflikte auch unter den bürgerlichen Eliten erschüttert wird. Was immer sich die Brexit-Befürworter an Freiheiten erhofft haben, dürfte sie vom EU-europäischen Regen in die britische Traufe spülen. Die Dynamik dieser Situation auf den Begriff des sozialen Widerstands zu bringen könnte auf jeden Fall den linken Austrittsbefürwortern zu einem Auftrieb verhelfen, der den dominanten Eindruck, es bei der Brexit-Kampagne nur mit Rassisten und Nationalchauvinisten zu tun zu haben, der zweckdienlichen Übertreibung überführt.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-brexit-grossbritanniens-zugang-zum-eu-binnenmarkt.769.de.html?dram:article_id=359007

[2] http://www.gegenstandpunkt.com/english/UK-and-EU.html

[3] https://www.theguardian.com/business/2016/jul/05/aviva-halts-trading-in-its-property-fund-brexit-standard-life

[4] https://www.wsws.org/en/articles/2016/07/04/econ-j04.html

[5] https://www.wsws.org/en/articles/2016/07/05/brex-j05.html

5. Juli 2016


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