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HEGEMONIE/1810: Deutsch-türkische Stresstestsimulation (SB)



Unter bündnistechnisch weniger günstigen Umständen kann die Aufforderung, sich zu entscheiden, ob ein Staat Freund oder Feind eines anderen sein will, schon Anlaß zu einer Kriegserklärung sein. Und nicht nur das, der türkische Außenminister Cavusoglu und sein Präsident Erdogan lassen auch den Nazivergleich nicht aus, um die deutsch-türkischen Befindlichkeiten einem Stresstest auszusetzen, der dennoch nur zur Simulation ernstzunehmender Entfremdung taugt. Die Regierungen der beiden NATO-Staaten liegen einander auch deshalb so innig in den Haaren, weil sie weit mehr aufeinander angewiesen sind, als daß sie wirklich die Wahl zwischen Blutvergießen oder dem Verlassen der Arena unter möglichst wenig Gesichtsverlust hätten. Die Wahlkampfauftritte türkischer Regierungspolitiker in der BRD nach Kräften zu behindern ist dem Reputationsmanagement einer Bundesregierung geschuldet, von der alle Welt weiß, daß sie handfeste hegemonialstrategische Gründe dafür hat, den türkischen Präsidenten Erdogan in seinen diktatorischen Ambitionen gewähren zu lassen. Gegen diesen unfreundlichen Schritt mit starken Worten zu protestieren wiederum dient der Imagepflege einer türkischen Administration, die dabei ist, den permanenten Verfassungsbruch zur legalen Grundlage ihrer Regierungspraxis zu erheben und damit auch Maßstäbe möglicher exekutiver Ermächtigung für die NATO-Verbündeten zu setzen.

Inhaltlich hat die Berlin Koalitionsregierung damit weit weniger Probleme, als sie glauben macht. Die säkulare Krise steht vor einem Regulationsschub, der den autoritären Sicherheitsstaat unter dem Vorwand unabdinglichen Handlungsnotstandes gegen jedes potentielle Aufbegehren in Stellung bringt, das vor der Überwindung herrschender Aneignungsverhältnisse nicht halt macht. Die politische Unterstützung, die dem AKP-Regime trotz der offenen Aussetzung demokratischer Rechte und des Bürgerkriegs gegen die kurdische Minderheit gewährt wird, läßt erkennen, was hierzulande droht, wenn der konjunkturelle Aufschwung des Krisengewinnlers Deutschland abebbt und die daraus erwirtschaftete Befriedungsdividende nicht mehr an die Bevölkerung ausgezahlt wird.

Daß es auch ganz anders geht, wenn es die Staatsräson gebietet, hat der Jugoslawienkrieg gezeigt. Die Regierung Serbiens bekämpfte die separatistische Miliz der in ihrer Provinz Kosovo lebenden Albaner, wie es jede zentralstaatliche Regierung tut, der ein Teil ihres Territoriums verlorenzugehen droht, obwohl der dort lebenden Bevölkerung bereits weitgehende Autonomierechte zugestanden worden waren. Der dafür zuständige Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien, Milosevic, wurde, obschon Chef der Sozialistischen Partei eines Landes, das aus dem Partisanenwiderstand gegen die faschistischen Besatzer entstanden und schon drei Mal Opfer deutscher Kriegsaggression war, den deutschen Bürgern als neuer Hitler des Balkans vorgestellt. Weder hatte die albanische Minderheit in Jugoslawien auch nur annähernd so viel kulturelle Negation und politische Repression zu erleiden wie die kurdische Minderheit in der Türkei, noch hat sich Milosevic auf vergleichbar brutale Weise an der inneren Opposition vergriffen, wie es die AKP-Regierung auch schon vor dem Putsch im Juli 2016 tat.

Warum also wird in den beiden Umbruch-Szenarios so unterschiedlich verfahren? Das verbliebene Jugoslawien war ein postsozialistischer Rumpfstaat, dessen Restbestände an föderaler Organisation, Minderheitenschutz, Sozialstaatlichkeit und Arbeiterselbstverwaltung immer noch das Potential aufwiesen, zumindest als Entwurf mit der durchökonomisierten EU zu konkurrieren. Den praktisch auf die kampflose Kapitulation hinauslaufenden Forderungen der NATO, die sich der separatistischen Kräfte unter den Kosovo-Albanern bediente, um die Axt an die Wurzeln des einstmaligen sozialistischen Hoffnungsträgers Jugoslawien zu legen, wollte Milosevic nicht stattgeben. Die demütigende Art und Weise, wie Jugoslawien mit militärischen Mitteln zur Kapitulation gezwungen, Milosevic der Prozeß gemacht und die Gebietsabtrennung des Kosovo durchgesetzt wurde, ohne selbst Rechenschaft über diesen Akt kriegerischer Aggression abzulegen, macht die Predigt von Außenminister Gabriel über die angebliche Wertebindung deutscher Politik nicht glaubwürdiger, als sie es ohnehin nicht ist.

Die Türkei ist eine regionale Mittelmacht, die als Mitglied der NATO zu wichtig und als staatlicher Akteur zu bedeutsam ist, um in einer vergleichbaren Scharade dem eigenen Willen unterworfen zu werden. Um zu verhindern, daß sich Erdogan vollends anderen Bündnispartnern zuwendet oder anderweitig der Kontrolle einer EU entgleitet, die zu allem Überfluß mit dem Brexit und der Erosion der transatlantischen Waffenbrüderschaft konfrontiert ist, verfährt die Bundesregierung nicht anders als ihr türkischer Konterpart. Starke Ansagen, symbolträchtige Gesten, große Oper - im dichten Bühnennebel geht unter, daß Gabriel spätestens mit seinem Imperativ, das Verhältnis zwischen beiden Ländern dürfe nicht nachhaltig beschädigt werden, die Unterschrift unter den moralischen Offenbarungseid der Bundesregierung geleistet hat.

Staaten haben Interessen, die jeden in Anspruch genommenen Ehrbegriff so weit strapazieren können, daß er der Paßform ihrer Ziele genügt. Niemals sind sie miteinander befreundet, und grenzt ihr Zweckbündnis an offene Feindschaft, dann wird blank gezogen. Die Aufregung um den angestellten Nazivergleich, der Theaterdonner in Ankara und Berlin, die Empörung unter den jeweiligen Bevölkerungen - je ungenierter Regierungen ihr Heil im Nationalchauvinismus suchen und je mehr sie sich auf die Geschichtsamnesie ihrer Bürger verlassen, desto hemmungsloser geben sie diesen Interessen den Vorrang über die konstitutionellen Pflichten und Aufgaben, aus denen sie ihre Legitimität schöpfen. Diese Herrschaftspraxis nicht zu hinterfragen begründet eine Teilhaberschaft an ihr, die in Krieg und Katastrophe lebensgefährliche Folgen haben kann.

8. März 2017


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