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HEGEMONIE/1828: Bundesrepublik Deutschland - Augen für den Machterhalt ... (SB)



Die Akzeptanz der Angriffspläne der Türkei in Nordsyrien durch die Bundesregierung stellt einmal mehr klar, daß die Interessen der Bundesrepublik nicht mit denen seiner Bevölkerung identisch sein müssen, sofern diese eine lebenswerte und naturfreundliche Zukunft anstrebt. Da die türkischen Eroberungspläne sich gegen das im Norden Syriens etablierte, von der kurdischen Freiheitsbewegung initiierte Autonomiemodell Rojava richten und nach der Eroberung des Kantons Afrin bereits den zweiten Anlauf der Türkei zur Vertreibung und Vernichtung der mehrheitlich kurdische Bevölkerung darstellen, kann kein Zweifel daran bestehen, daß das AKP/MHP-Regime unter Präsident Erdogan nun auf die vollständige Beseitigung Rojavas abzielt. Bei der angekündigten Besetzung eines 30 Kilometer tief nach Syrien hineinreichenden Territoriums kann von nichts anderem als einem völkerrechtswidrigen Aggressionsakt gesprochen werden.

Ob die Bundeswehr mit ihren in Jordanien stationierten Aufklärungsflugzeugen den Angriff unterstützen wird, ist zwar nicht klar, die politische Flankierung des geplanten Eroberungsfeldzuges ist jedoch gegeben, war nach der Ankündigung dieses Vorhabens durch Erdogan auf der UN-Generalversammlung doch kein Einwand aus Berlin zu vernehmen. Die routinemäßige Erklärung, man zeige sich angesichts einer einseitigen Militäroperation der Türkei in Nordsyrien besorgt, weil dies zu einer weiteren Eskalation in Syrien führen könne, ist bei zugleich attestiertem Verständnis für die Sicherheitsinteressen Ankaras nicht anders denn als Plazet der Bundesregierung zu verstehen. Daß diese Stillhaltepolitik durch die Befürchtung genährt wird, andernfalls könne Erdogan die EU mit einem von der Türkei ausgehenden Flüchtlingsstrom in Bedrängnis bringen, erklärt die Haltung der Bundesregierung nur zum Teil. Schließlich besteht gerade Deutschland als größter EU-Staat auf außenpolitische Souveränität, behauptet also, nicht erpreßbar zu sein. Zudem mischt sich die Bundesregierung seit jeher auf eben jene erpresserische Weise in die politischen Verhältnisse der äußeren Peripherie der Europäischen Union ein, der sie sich selbst nicht aussetzen will.

So sind die gegen die syrische Regierung unter Präsident Assad gerichtete Politik der Bundesrepublik ebenso wie die von ihr mitgetragene Besetzung Afghanistans, die im EU- und NATO-Verbund erfolgte Zerstörung Libyens und die politische Akzeptanz der Eroberung des Irak und der Isolation des Iran durch die USA mit dafür verantwortlich, daß Millionen Menschen aus schierer Überlebennot in Richtung EU flüchten mußten. Das sogenannte Flüchtlingsproblem ist ein weitgehend aus dem eigenen Hegemonialstreben resultierendes Geschehen, dessen Regulation durch eine systematische, im Bündnis zwischen Berlin und Ankara vertiefte Flüchtlingsabwehr die dadurch freigesetzte Menschenfeindlichkeit weiter verschärft.

Die besondere Bedeutung des bevorstehenden Angriffs der türkischen Streitkräfte auf Rojava besteht darin, daß mit ihm der Keim einer zukunftstauglichen Gesellschaftsalternative zunichte gemacht werden soll. Ihre bereits erprobte sozialökologische Praxis müßte man sich in der Bundesrepublik zum Vorbild nehmen, wenn es tatsächlich, wie behauptet, um bessere Verhältnisse für alle Menschen und die Bewältigung der Klimakrise gehen soll. Bei dem nach einem Entwurf Abdullah Öcalans konzipierten demokratischen Konföderalismus handelt es sich um ein multiethnisches Modell gesellschaftlicher Selbstorganisation, mit dem versucht wird, soziale Gleichheit, Geschlechtergerechtigkeit und einen ökologischen Umgang mit der natürlichen Lebenswelt auf eine Weise zu verwirklichen, die den geringen Möglichkeiten einer in politisch bedrängter Situation lebenden Bevölkerung mit beschränkten Versorgungsmöglichkeiten entspricht.

Selbstverständlich hinkt die Wirklichkeit stets hinter dem Ideal hinterher. Was jedoch in Rojava mit der sozialen Verwirklichung solidarischer Praxis erreicht wurde, ist schon aufgrund dessen, daß dieses Experiment inmitten einer zutiefst patriarchalen Kultur und umgeben von nationalchauvinistischen wie islamistischen Anfeindungen seit fast sieben Jahren existiert, außergewöhnlich. Zwar wurde die Verteidigung der Stadt Kobane durch die kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ gegen den IS weltweit beachtet und bewundert, und auch die unter erheblichen Verlusten an eigenen KämpferInnen errungenen militärischen Erfolge bei der Vertreibung des IS aus der Region sind allgemein anerkannt. Konkrete Unterstützung gegen die Aggression der Türkei hat die inzwischen als Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien um politische Anerkennung ringende Region jedoch niemals erhalten, auch wenn die militärische Präsenz der UN-Streitkräfte in diesem Gebiet, wie nun deutlich wird, lediglich befristeten Schutz bot. Dieses Zweckbündnis konnte, das war den führenden Kräften in Rojava stets klar, nur aus opportunistischen Gründen Bestand haben. Die Aktien, an denen die US-Regierung in Ankara festhält, wiegen weit mehr als die Autonomie eines Gebietes, dessen politisch linkes Selbstverständnis ohnehin auf keinen Zuspruch in Washington stößt.

So auch in Berlin, wo die Praxis, Feuer an die Lunte virulenter Konflikte am Rande der EU zu legen, die daraus resultierenden Fluchtbewegungen zur Stärkung rechter Politik zu nutzen und alle emanzipatorischen Chancen auf einen Neubeginn mit kriegerischen Mitteln zu bekämpfen, längst zu einer Konstante deutscher Außenpolitik geworden ist. Mit ihr bewahrheitet sich die These, daß eine imperialistische Hegemonialpolitik über den Zweck, den Nachschub an essentiellen Rohstoffen, den Erhalt vorteilhafter Handelsbeziehungen und den Kapitalexport in alle Welt zu sichern, nicht zuletzt der Stabilisierung der Herrschaft im eigenen Land dient. Es läßt zudem tief ins Betriebssystem grünkapitalistischer Politik blicken, wenn ein sozialökologisch fortschrittliches Projekt wie das Rojavas sehenden Auges der Vernichtung preisgegeben wird, während die Grenzen der eigenen, den Herausforderungen der Zukunft adäquaten Politik eng gesteckt sind. Weder in Berlin oder Ankara noch in Washington oder Moskau will man wahrhaben, daß die Bewältigung der Klimakatastrophe tiefgreifendes Umdenken erfordert. Ein Projekt wie Rojava darf in den Augen dieser Regierungen schon deshalb nicht sein, weil ihnen damit der Spiegel eigenen Versagens vorgehalten wird.

7. Oktober 2019


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