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HEGEMONIE/1842: Moral der neuen Kriege ... (SB)



Minutenlange Ovationen für Serhij Zhadan signalisieren nicht bloß Zustimmung, sie tun Begeisterung über die Worte des ukrainischen Schriftstellers kund. Die in der Frankfurter Paulskirche zusammengekommenen Spitzen der bundesrepublikanischen Gesellschaft setzen mit ihrem Applaus ein politisches Zeichen, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat eine Signalfunktion weit über den Literaturbetrieb hinaus. Die Ehrung eines aktivistischen Autors, über dessen Einsatz bei der Motivierung der ukrainischen Truppen im Kampf gegen den Aggressor viel berichtet wurde, erfolgte trotz oder gerade wegen dessen Bekenntnis zu einer Feindschaft, die in Worte zu fassen dem Schriftsteller keine Verbalinjurie zu heftig ist.

Dass das, was in Anbetracht der durch den russischen Angriff verursachten Verwüstungen und Schmerzen einen literarischen Niederschlag findet, einer archaischen Freund-Feind-Logik folgt und die Verwerflichkeit der anderen Seite mit der unhintergehbaren Dichotomie von Gut und Böse festklopft, mag aus Sicht der Betroffenen verständlich sein. Der kollektiven Verdammung aller RussInnen etwa mit Begriffen wie "Tiere" und "Unrat", so geschehen in Zhadans aktuellem Buch "Himmel über Charkiw", einen Friedenspreis zu widmen und dessen Verleihung mit einem Auftritt in den ehrwürdigen Hallen eines Nationaldenkmals, das wie keine zweites die Emanzipationsbestrebungen des deutschen Bürgertums repräsentiert, zu feiern lässt sich nur mit der Verselbständigung des Willens zum Kriege als neue Staatsdoktrin der Bundesrepublik erklären. Einen Text mit höchsten literarischen Weihen zu versehen, dessen Verfasser wortmächtigen Hass nicht nur gegen die angreifenden Streitkräfte kundtut, sondern ihre nationale Identität zum Hort der Verderbnis erklärt und damit ein nationalistisches Bekenntnis ablegt, das sich kategorisch gegen die nicht Dazugehörigen richtet, könnte die Bereitschaft der deutschen Kultureliten, beim Befeuern dieses Brandes nicht abseits zu stehen, kaum besser dokumentieren.

Zudem erhebt Zhadan mit der dem Anlass gemäßen Bekundung "Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden" ein Ideal zur Bedingung der Einstellung aller Kampfhandlungen, das an einer kapitalistisch bewirtschafteten Welt bricht, deren soziale und ökonomische Hierarchien Frieden bestenfalls als Beschreibung eines Zustandes zwischen Kriegen erlauben. Die Verhältnisse miteinander konkurrierender Staaten werden durch Gewaltandrohungen reguliert, die das jeweilige nationale Interesse durchsetzen sollen. Der Horizont internationalen Rechts ist mit militärischen Maßnahmen besetzt, anders lassen sich die Regeln des gegenseitigen Verkehrs nicht zur Anwendung bringen. In ihnen drückt sich der unbedingte Willen der Staatssubjekte aus, ihrem Interesse nur so weit mit friedlichen Mitteln Geltung zu verschaffen, als die dazu eingesetzten Mittel ökonomischer und hegemonialer Stärke Wirkung zeigen. Tun sie dies nicht mehr, dann wird so lange zu kriegerischer Gewalt gegriffen, bis die damit verknüpften Forderungen durchgesetzt wurden oder der angegriffene Staat den Angriff erfolgreich zurückschlagen kann.

Pazifismus als unethisch zu kritisieren, wenn dadurch Waffenhilfe verhindert wird, ist in einer Dankesrede zur Verleihung eines Friedenspreises ein Novum. Dabei ist Kritik an pazifistischen Positionen erforderlich, so fern seine SachwalterInnen von den sozialen Gewaltverhältnissen kapitalistischer Vergesellschaftung nichts wissen wollen. So lange das Ideal des Friedens die Anwendung militärischer Gewalt als letzte Instanz zivilen und politischen Regelungsbedarfes unterschlägt, setzt der Frieden der Paläste den Krieg der Hütten voraus. Zhadans Vorwurf des "falschen Pazifismus" richtet sich jedoch nicht gegen einen Klassenantagonismus, wie er auch in der Ukraine herrscht. Er greift zum Mittel moralischer Schuldprojektion, indem er etwa die Verweigerung von Waffenlieferungen mit der Korrumpierbarkeit durch das "totale, enthemmte Böse" in eins setzt.

Den russischen Angriff als singuläres Ereignis zu verdammen, während die Hilfe von NATO-Staaten uneingedenk ihrer eigenen Leichen im Keller in Anspruch genommen wird, bedarf der Blendkraft eines moralischen Superlativs. Wie in der gängigen Praxis, den Verweis auf die Kriege der NATO-Staaten rundheraus als "Whataboutism" zu verwerfen, werden Fragen an die Stichhaltigkeit eines Arguments auf den Primat eines inquisitorischen Wahrheitspostulates verkürzt. Damit werden nicht nur ParteigängerInnen Russlands, sondern auch all diejenigen mundtot gemacht, die US-amerikanische Flächenbombardements und die weitreichende Zerstörung der zivilen Infrastruktur im Irak nicht dazu nutzen, den russischen Angriff auf die Ukraine und die Zerstörung ihrer zivilen Infrastruktur mit einem Analogieschluss zu rechtfertigen.

Wird das eine Vergehen mit dem anderen legitimiert, dann sind sich die FürsprecherInnen des Angriffes Russlands und der ukrainische Autor trotz gegenseitiger Feinderklärung einig im Argument des gerechten Krieges. Den Standpunkt des Kreml einzunehmen, die Herausforderung des eigenen Hegemonialanspruchs zum Anlass eines kriegerischen Übergriffs zu machen, heißt den Preis, zur Sicherung der staatlichen Souveränität Zehntausende Menschen zu töten, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen und die weltweite Krisendynamik zu verschärfen, für angemessen zu erachten. Begründungen, die von der Rücksichtnahme auf die Betroffenen entbinden, wurden vom Philosophen des Ausnahmezustands, Carl Schmitt, als Dezisionismus gutgeheißen. Er legitimierte das Treffen einer Entscheidung aus sich selbst heraus als Erfordernis der Staatsräson und entkoppelte sie so von der Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf all diejenigen, die dabei Schaden nehmen, ohne sich jemals für die eine oder andere Seite ausgesprochen zu haben. So wird auf allen Seiten der Front einer nationalistischen Staatsdoktrin zugearbeitet, der das Blut der Kriegsopfer eingepreist ist unabhängig davon, ob sie ihr Leben für das Wohl von Staat und Nation geben möchten oder nicht.

Wo mit der Ratio staatlicher Souveränität ein Herrschaftsimperativ in Anspruch genommen wird, der keine Menschen, sondern nur Staatsangehörige und VolksgenossInnen kennt, sollte die Erinnerung an frühere Kriege wie die Kritik zeitgleich verlaufender Formen militärischer und ökonomischer Gewaltanwendung nicht zu kurz kommen. Wenn die NATO den Krieg im Jemen mit Waffenlieferungen an Saudi-Arabien unterstützt und der türkischen Regierung die Angriffe auf die kurdischen Autonomiegebiete in Nordsyrien zugesteht, wenn die EU viele Milliarden in die Verteidigung der Ukraine investiert, aber nur Almosen zur Linderung des Hungers in Somalia, dem Kongo und Tschad übrig hat, wenn die USA die Klimakrise befeuern, ohne die daraus resultierenden Notlagen zahlreicher Länder im Globalen Süden auch nur annähernd finanziell zu kompensieren, wenn die hochproduktiven Industriestaaten blutige Grenzen errichten, ohne den ressourcenintensiven Raubbau in den Ländern einzustellen, aus denen die Menschen stammen, die des bloßen Überlebens willen die gefährliche Flucht in die EU und USA wagen, dann sollten die zugrunde liegenden moralischen Normen ebenso hinterfragbar sein wie im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine.


Kriseneskalation lange vor Kriegsbeginn

Das vorherrschende rüstungsindustrielle Entwicklungsmodell in Osteuropa und der reaktionäre Verteidigungsnationalismus um minimale Entwicklungschancen angesichts der rasanten Entwertung ökonomischer und sozialer Ressourcen durch die Anpassung an die globalen Produktivitätsstandards schüren das osteuropäische Bürgerkriegsszenario. (...) Die soziale Mobilität, Ansprüche und Erwartungen, die die Entwertung und Zerstörung der osteuropäischen Gesellschaften begleiten, werden auf lange Sicht nicht durch aussichtslose Bürgerkriege und Nationalismus eingedämmt werden können, sondern nur durch eine Militarisierung der Grenzen. Denn auch langfristig nicht wahrscheinlich ist eine politische und ökonomische Stabilisierung der osteuropäischen Region, in der das eine Ende der brennenden Lunte "Krise des Weltsystems" liegt.
Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 4: Das Ende des sowjetischen Entwicklungmodells. Beiträge zur Geschichte der sozialen Konfrontationen mit dem sozialistischen Akkumulationskommando, September 1992 [2]

Was sich schon vor 30 Jahren abzeichnete, ist heute auf eine Weise entbrannt, die mehr bedroht als die relative Stabilität der aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten. Deren Zukunft stand stets in einem untergeordneten Verhältnis zu den ehemaligen Gegnern der Blockkonfrontation. Die Zurichtung der osteuropäischen Nachfolgestaaten der UdSSR auf die Kapital- und Hegemonialinteressen Westeuropas und Nordamerikas bildet seit 1991 den Fluchtpunkt des Verhältnisses zwischen NATO und Russischer Föderation. Letzterer den Status eines gleichberechtigten Mitgliedes der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft zuzugestehen soll nur unter der Bedingung einer Abkehr von russischem Souveränitätsstreben möglich sein. Der krisenhafte Charakter des sowjetischen Staatskapitalismus sollte in eine unumkehrbare Niederlage münden, bei der sich die Zerfallsprodukte der UdSSR mit dem Status der ökonomischen, vor allem extraktivistisch bewirtschafteten Peripherie des hegemonialen Zentrums kapitalistischer Weltwirtschaft hätten abfinden sollen.

Niemals ist es zu einer ernstzunehmenden Bemühung seitens der EU oder USA gekommen, den gescheiterten Gegenkapitalismus der Sowjetunion anders denn als Glücksfall für Geschäftsinteressen und Ressourcensicherung zu betrachten. Eine Aufarbeitung der Geschichte der Oktoberrevolution in emanzipatorischem Interesse konnte nicht erfolgen, musste doch die antikommunistische Erfolgsbilanz mit dem Schlussstrich eines Endes der Geschichte und Sieges des Liberalismus besiegelt werden. Gleiches gilt für die Entwicklung des sozialen Widerstandes gegen das Diktat der sowjetischen Fabrikgesellschaft - in den Annalen bürgerlicher Historisierung wurde jegliche Opposition unter antikommunistischen und prowestlichen Widerstand subsumiert, die soziale Revolution war damals so verrucht wie sie es heute ist.

Die mit dem Ende des Systemgegners erfolgte Zurückstufung Russlands in der Rangfolge der Staatssubjekte führte unter den Präsidenten Jelzin und Putin zum Versuch einer Annäherung an den Westen, so durch die bereitwillige Übernahme des neoliberalen Kapitalismus und das Angebot, sich in die Strukturen der NATO zu integrieren. Die Gelegenheiten, der russischen Führung entgegenzukommen, blieben jedoch ungenutzt. Statt dessen konnte der Zuspruch zu nationalchauvinistischen Bewegungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nicht besser genährt werden als durch die kolonialistische Arroganz westlichen Vormachtstrebens und Erschließungsinteresses. Nun steht für Russland nichts Geringeres als der Status einer Weltmacht auf dem Spiel, wollte seine Führung nicht akzeptieren, sich wie die meisten anderen Staaten auf der Welt mit einem Platz in der zweiten Reihe zufriedenzugeben. Dafür Krieg bis zum äußersten zu führen entspringt einer Staatsräson, die mit den Interessen einzelner Menschen nichts zu tun hat, zumindest so lange nicht ein Aggressor wie der NS-Staat ankündigt, auf russischem Territorium einen Vernichtungskrieg zu führen.

Die imperialen Ambitionen des russischen Staates, seine nach wie vor weitgehend auf Rüstungsindustrie und Rohstoffextraktion festgelegte Wertproduktion als auch die entpolitisierende Wirkung des von Präsident Putin geschmiedeten Klassenkompromisses könnten als Schattenwurf des unvollständig vollzogenen Versuches gedeutet werden, die Innovationsdynamik des postfordistischen Kapitalismus zum Motor des Aufstiegs Russlands in die erste Liga der Staatenwelt zu machen. Dass dies bislang nicht gelang ist nicht nur Ergebnis der finanzkapitalistischen Dominanz westlicher Industriestaaten und ihrer Politik, Russland den eigenen Interessen unterzuordnen. Der neoliberalen Subjektivierung und den dadurch ermöglichten Produktivitätszuwächsen westlicher Gesellschaften hat Russland stets hinterhergehinkt, gerade weil diese Entwicklung kopiert werden sollte. Wäre die Negation sozialistischer Entwicklungspotentiale nicht umfassend erfolgt, dann hätte dies durchaus einen Gegenentwurf ermöglichen können, mangelt es doch in allen kapitalistischen Gesellschaften an einer Kollektivität, die sich nicht aus ethnonationalistischen Identitätsansprüchen speist, sondern emanzipatorischen Praktiken verpflichtet ist.

Um so mehr beschädigte das erklärte Ziel der EU, mit den USA als führendem Wirtschaftsraum gleichzuziehen und damit deren globale Vormachtstellung in Frage zu stellen, auch die Beziehungen zu Russland. Die explizite Doktrin Washingtons, den Aufstieg eines jeglichen Staates zum gleichwertigen oder gar überlegenen Konkurrenten mit allen Mitteln zu verhindern, geht tendenziell desto mehr zu Lasten Russlands und des weiteren Chinas, als die transkontinentalen Beziehungen der EU zu diesen Akteuren den globalen Führungsanspruch der USA schwächen könnten.

Auch wenn Russland den Konflikt mit der NATO durch den Einmarsch in die Ukraine initiativ zu verantworten und sich durch dabei begangene Grausamkeiten ins Unrecht gesetzt hat, macht das die Vorgeschichte der seitens der EU und USA aktiv voran getriebenden Unterminierung seiner Hegemonialinteressen nicht ungeschehen. So wenig der Angriff auf die Ukraine in völkerrechtlicher Hinsicht mit der anwachsenden Interessendivergenz zwischen NATO und Russland zu rechtfertigen ist, so wenig kann eine legalistische Sicht auf diesen Krieg dessen weitere Intensivierung bis hin zum offenen Kriegseintritt der NATO verhindern.

Gleiches gilt für den Abgleich der auf beiden Seiten aufgemachten ideologischen Vorwände - werden in der Ukraine "Freiheit und Demokratie" mit Parteiverboten, der Zwangsverpflichtung zum Kriegsdienst, kapitalistischer Klassenherrschaft und staatlicher Medienzensur verteidigt, so führt Russland Krieg im Namen antifeministischer, homo- und transphober Geschlechterverhältnisse, einer robusten klerikalen Gut-Böse-Dichotomie sowie eines nationalistischen Restitutionspathos, der sich durch einen in sich widerspruchsbehafteten Antifaschismus legitimiert. Auf beiden Seiten der ideologischen Front nehmen Formen der autoritären Staatlichkeit Gestalt an, die, wenn auch in Russland deutlich drakonischer durchgesetzt als in der EU, die Axt an die Wurzeln eines demokratischen Selbstverständnisses legen, dessen Legitimationsfunktion auch in liberalen Gesellschaften zusehends obsolet zu werden scheint.


"Regelbasierter" Kontrollverlust

Wenn man die Rolle der beteiligten Nationalen, zum Beispiel der NATO und ihres Anführers - den USA - in diesem Konflikt herausarbeitet und erklärt, dann liefert man damit in keiner Weise eine Antwort auf die Frage, welche Kriegsseite man in diesem Gemetzel unterstützen sollte. Man erfährt vor allem, warum sowohl für Russland als auch für die USA nichts Geringeres als ihr jeweiliger Status in der Welt auf dem Spiel steht. Die Menschen in der Ukraine sind Opfer dieses Kampfs von Nationen um ihren Status in der Welt - ein Status, für den die USA und Russland bereit sind, Ukrainer*innen zu vertreiben, zu verstümmeln und zu töten; ein Status, für den sie bereit sind, einen Atomkrieg zu riskieren.
Angesichts dessen kann man nur empfehlen, das Daumendrücken für Staaten und ihre Kriege einfürallemal bleiben zu lassen.

Critisticuffs: Für Russland und die USA geht es um alles, 17. Oktober 2022 [3]

Eine solche, hier lediglich summarisch wiedergegebene Sicht auf den Krieg in der Ukraine wird von den SachwalterInnen nationaler Deutungsmacht in Politik und Medien rundheraus als Verschwörungserzählung verworfen und sogar kriminalisiert. Völlig unabhängig von der faktischen Untermauerung der These, als zentrale Handlungsebene auf den Konflikt zwischen NATO und Russland zu verweisen, wird der Angriff Russlands auf die Ukraine auf ein singuläres Geschehen verkürzt, als sei der Bruch internationalen Rechts eine Spezialität russischer Kriegführung. Dieser Deutung stehen diverse Kriege der USA und NATO entgegen, was anzumerken als Rechtfertigung dieser Aggression häufig genug ins moralische Unrecht gestellt wird.

Mit dieser absichtsvoll um die Dimension der zahlreichen Staatenkriege seit 1945, die von der westlichen Wertegemeinschaft initiiert wurden, verkürzten Auslegung werden die UrheberInnen einer rationalen Analyse dieses Gewaltgeschehens systematisch ihrer Stimme in den reichweitenstarken Foren nationaler Meinungsbildung beraubt. Selbst moderate KritikerInnen des von der Bundesregierung und der US-Regierung eingeschlagenen Kurses, auf einen militärischen Sieg der Ukraine zu setzen und so gut wie keine Initiative zur Herbeiführung eines Verhandlungsfriedens zu ergreifen, werden auf eine Weise abgewatscht, die die behauptete Neutralität Deutschlands überzeugend dementiert. So werden der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Philosoph Richard David Precht aufgrund ihrer Einwände gegen das Setzen auf einen Sieg der Ukraine, die dafür erfolgenden Waffenlieferungen und die Flankierung dieses Kurses durch massenmediale Fürsprache auf eine Weise von nämlichen Medien vorgeführt, die von dem starken Widerwillen bestimmt zu sein scheint, sich überhaupt mit den von ihnen artikulierten Bedenken zu befassen.

Statt dessen wird etwa moniert, dass die beiden Intellektuellen sich nicht in jede Debatte einzubringen hätten, das sollte doch bitte den zuständigen ExpertInnen vorbehalten bleiben. Fernab von dem basisdemokratischen Anspruch, sich voraussetzungslos am politischen Geschehen beteiligen zu können, werden selbst akademisch geschulte DisputantInnen auf ein nationales Konsensmanagement eingeschworen, dass vom Ergebnis her formiert wird. Wenn in grundlegenden Fragen wie der von Krieg und Frieden tagtäglich in Pressekommentaren und Rundfunksendungen zu erleben ist, wie bedenkenswerte Interventionen mit polemischen Mitteln stigmatisiert werden, dann verstehen die dafür zuständigen JournalistInnen ihren Auftrag wohl so, der mehrheitlichen Zustimmung der Bevölkerung zur Staatsräson zumindest nicht zuwiderzuhandeln.

Die von ihnen vertretene, über jeden Verdacht auf Gutheißung des Angriffs Russlands erhabene Medienkritik haben Precht und Welzer zum Beispiel eingebracht, vom Sänger Wolf Biermann, uneingedenk der eigenen Befürwortung des Überfalls auf den Irak durch die USA, als "Secondhand-Kriegsverbrecher" beschimpft zu werden. Bei solchen Invektiven, die weit über eine diskussionswürdige Kritik an ihren Ausführungen hinausgehen, wird die vollmundig beanspruchte Diversität politischer Positionen auf kurzem Weg Ein- und Ausschlusspraktiken geopfert, mit Hilfe derer Menschen schon aufgrund der bloßen Wertschätzung bestimmter Meinungsbeiträge außerhalb des gesellschaftlichen Diskurses gestellt werden können.

Kam es in den ersten Monaten noch zu Versuchen, einer Entschärfung der Konfrontation das Wort zu reden, so wird inzwischen unter Verweis auf die angebliche Haltung des russischen Präsidenten, zu keinerlei Kompromissen bereit zu sein, jedes Bedenken solcher Art in die Ecke der Putin-Versteherei manövriert. Zwar ist weithin bekannt, dass es noch im April zu einer Einigung der Kriegsparteien hätte kommen können, die mutmaßlich auf Betreiben des britischen Premiers Boris Johnson verhindert wurde, was selbst der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, attestiert [4], doch Hinweise auf das Interesse einzelner NATO-Staaten, diesen Krieg bis zur letzten UkrainerIn zum Sieg zu führen, anstatt ihn so bald wie möglich zu beenden, werden hartnäckig ins Reich der Legendenbildung verwiesen.

Selbst wenn ein hochrangiger Ex-General und Ex-Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, der kein Problem mit der Lieferung defensiver Waffen an die Ukraine hat und vor der letzten Sitzung des NATO-Russland-Rats im Januar 2022 die NATO aufforderte, Verhandlungen mit Russland aus einer Position politischer Geschlossenheit und militärischer Stärke zu führen, mit Nachdruck vor der Gefahr einer nuklearen Eskalation warnt und die Abwesenheit politischer Vermittlungsbemühungen beklagt, ändert das nichts am entschiedenen Willen maßgeblicher Teile der deutschen Funktionseliten, den Druck auf Russland durch die Lieferung von immer mehr und immer potenteren Waffen zu erhöhen. Laut Kujat hat Russland sein Eskalationspotential längst nicht ausgereizt, was dazu führe, dass jede Intensivierung des Krieges auf dem Gebiet der Ukraine durch die NATO entsprechende Steigerungen der militärischen Gewalt seitens Russlands zur Folge habe.

Gewaltverhältnisse zwischen Staaten als Ensemble kriegerischer Machtbestrebungen herauszustellen, anhand derer die jeweiligen Über- und Unterordnungsverhältnisse reguliert werden, und so die Ebene nationaler Identitätsbildung zu unterschreiten wäre schon erforderlich, um dem offenkundigen Kontrollverlust auf allen Seiten Einhalt zu gebieten. Anstelle dessen wird auf die Gültigkeit einer "regelbasierten" Weltordnung insistiert, als sei die Durchsetzung von Regeln zwischen Staaten nicht stets an die erklärte Bereitschaft zur Gewaltanwendung gebunden. Einzelne Regierungen mögen noch so sehr auf ihrer jeweiligen Wahrheit bestehen, über ihre Gültigkeit wird nach dem Ausreizen diplomatischer Möglichkeiten mit ökonomischer und schließlich militärischer Gewalt befunden. Diplomatie und Krieg sind keine einander ausschließenden Gegensätze, sondern komplementäre Elemente praktischer Staatsgewalt. Dafür zu sterben, im Endeffekt Recht gehabt zu haben, mag zur Befriedigung persönlicher Halsstarrigkeit beitragen, kann aber kein Ausdruck staatlichen Handelns sein, wenn nicht große Teile der eigenen wie gegnerischen Bevölkerung ins Verderben gestürzt werden sollen.

"Regelbasiert" kann denn auch als Synonym eines legalistischen Partikularismus verstanden werden, der den Universalismus internationalen Rechts beschwört, indem er ihn je nach Erfordernis einfordert oder missachtet. Moralisch argumentiert wird zwischen Staaten desto mehr, je weniger die Asymmetrie ihrer jeweiligen Forderungen zum Verhandlungsgegenstand werden soll. Dementsprechend führt der Abtausch der Ideologien in die Irre einer Rechtfertigung, die den Gegner als das ganz Andere eigener Geltungskraft ausweist, was nach ultimativer Gewaltanwendung verlangt und anwachsenden Kontrollverlust zeitigt.

"Regelbasiert" wie bei einer versicherungstechnischen Risikoabwägung wird denn auch das Kalkül eines atomaren Schlagabtausches bemessen. So ist häufig zu vernehmen, dass die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen durchaus ernst genommen werden müsse, es dennoch falsch sei, sich davon beeindrucken zu lassen, ginge damit doch die Strategie des Gegner auf, Angst zu schüren, auch wenn diese nur einem Bluff geschuldet wäre. Täuschungsversuche können jedoch nur längerfristig beeindrucken, wenn sie faktisch untermauert werden. Für Russland hieße dies etwa, Atomwaffen an die ukrainische Grenze zu verlegen oder die Entschiedenheit des eigenen Angriffswillens mit einem praktischen Beispiel zu unterstreichen.

Zudem muss es nicht die russische Seite sein, die die nach oben offene Eskalationsspirale des Atomkrieges in Gang setzt. In der jüngsten National Defense Strategy der USA wird - trotz gegenteiliger Ankündigung des US-Präsidenten - die Option beibehalten, einen atomaren Erstschlag zur Abwendung einer akuten Bedrohung zu führen. Als einziger staatlicher Akteur, der sich nicht durch die Kriegsmacht der USA in die Schranken weisen lässt, nimmt Russland eine Sonderstellung in der Nukleardoktrin Washingtons ein. Es läge mithin auch an der US-Regierung, einen entscheidenden Schritt in Richtung Deeskalation zu tun, doch davon ist bislang nicht viel zu merken [5].

So wurde kürzlich die 101st Airborne Division, die in vielen Angriffskriegen der Vereinigten Staaten die Speerspitze bildete, in einer Entfernung von 10 Kilometern zur ukrainischen Grenze in Rumänien stationiert, um von dort kurzfristig in den Kampfeinsatz geschickt werden zu können. Bei einem solchen Szenario würde die Bundesrepublik allemal in Mitleidenschaft gezogen. Die Bundeswehr bildet ukrainische Truppen an der Bedienung moderner Waffensysteme aus, und auf dem Gebiet der Bundesrepublik werden Planungs- und Kommandostrukturen zur Unterstützung der ukrainischen Kampfeinheiten unterhalten. Die auf der Ramstein Air Base eingerichteten Operationsstäbe sind inzwischen mit SoldatInnen aus 20 Staaten besetzt, darunter Special Forces der US-Armee, die bis Kriegsbeginn in der Ukraine mit der Ausbildung ihrer Streitkräfte befasst waren [6].

Auch deshalb dürfte die in militärwissenschaftlichen Instituten mit ein- bis zweistelligen Prozentangaben taxierte Gefahr eines atomaren Weltenbrandes nicht aus der Luft gegriffen sein. Um den Krieg gegen Russland trotz atomaren Vernichtungspotentials führbar zu machen, wird mit wissenschaftlichen Mitteln eine Gefahr beziffert, die übertragen auf andere Lebensrisiken niemand sehenden Auges in Kauf nähme. Um so aggressiver muss mit dem Primat des gerechten Krieges zu Felde gezogen werden, darin zumindest sind sich die KontrahentInnen einig.


Von der "Zeitenwende" zum "Epochenbruch"

Es ist nicht die selbsternannte oder göttliche Autorität, nicht die überlieferte Tradition, nicht die disziplinarische Norm und in letzter Instanz auch nicht die stets noch zu steigernde Produktivität, an der wir unser Denken, Handeln und Fühlen ausrichten sollen. Sondern die jederzeit mögliche Katastrophe, das unberechenbare Ereignis, die allgegenwärtige Bedrohung (was freilich nicht ausschließt, dass deren Beschwörung für die Mobilisierung, Stabilisierung und Steigerung von Autorität, Ressentiment oder Ausbeutung genutzt wird). Nicht Kritik und Konflikt erscheinen im Zeichen von Resilienz als rationale und ethisch plausible Bezugspunkte, sondern Vulnerabilität, Emotionalität und Gemeinschaft, und dass diese Verschiebung auch von herrschaftskritischer Seite mit teils erheblichem Pathos gestützt und affirmiert wird, macht die Sache der Kritik nicht gerade leichter.
Stefanie Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit [7]

Nehmen führende RepräsentantInnen der Bundesrepublik anlässlich des Einmarsches Russlands in die Ukraine den Windhauch der Geschichte beschwörende Begriffe wie "Zeitenwende" (Bundeskanzler Olaf Scholz) und "Epochenbruch" (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) in den Mund, dann wird die nationale Bereitschaft bekundet, weder auf dem Schlachtfeld noch in der Zivilgesellschaft abseits zu stehen. Während Scholz die Gelegenheit nutzte, die umfassende Aufrüstung der Bundeswehr auf den Weg zu bringen, war es an Steinmeier, dies acht Monate später durch die Ankündigung harter Zeiten und die Aufforderung, diesen "konfliktfähig" mit "Widerstandsgeist und Widerstandskraft" entgegenzutreten, zu flankieren.

Auch wenn der Bundespräsident den sozialpsychologischen Begriff der Resilienz nicht verwendete, meinte er nichts anderes als dass die Menschen die Fähigkeit ausbilden sollen, größere Belastungen auszuhalten, als sie womöglich jemals in ihrem Leben erfahren haben. Was auf administrativer Ebene längst breit diskutiert wird, so etwa in einem Panel der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) zur Stärkung "gesellschaftlicher Resilienz" im Rahmen der Nationalen Sicherheitsstrategie [8], wenn in kulturindustriellen Vermittlungszentralen das Wort vom "resilienten Journalismus" die Runde macht, stets ist ein Krisenmanagement gemeint, das sich alltagssprachlich als eine Form der Abhärtung präsentiert.

Der ursprünglich aus der Physik stammende und aus Lateinisch "resilire" für "abprallen, abfedern" abgeleitete Begriff bezeichnet im weitesten Sinne die Entwicklung von Fähigkeiten zur Krisenbewältigung unter Belastungsbedingungen, den vielen Stresstesten, zu denen es jüngst gekommen ist, nicht unverwandt. Dem ursprünglichen Wortsinn gemäß wird auch von der Fähigkeit, eine Störung abzufedern, gesprochen, von einem System flexibler Stabilität, das in der Lage sei, äußeren Einflüssen im Sinne des Eigenerhalts dadurch zu entsprechen, dass die ursprüngliche Ausgangslage wiederhergestellt wird. Diese wird allerdings nicht in Frage gestellt oder der Möglichkeit ihrer Aufhebung ausgesetzt. Welche Defizite und Probleme die Menschen auch immer umtreiben, bei der Entwicklung von Resilienz geht es allein darum, mit diesen Herausforderungen auf pragmatische Weise zurechtzukommen.

Somit handelt es sich um eine zutiefst affirmative Strategie, setzt sie doch die grundsätzliche Akzeptanz von Missständen voraus, anstatt die Frage zu stellen, wie zu verhindern wäre, dass Menschen überhaupt in eine lebensbedrohliche Schieflage geraten. Zwar wirft eine unmittelbare Problembewältigung technische Fragen aller Art auf und verlangt nach konkreten Antworten auf diese. Die Verallgemeinerung situativer Problemstellungen zu einem abstrakten Konzept sozialstrategischer Zurichtung trägt jedoch dazu bei, administrative Lösungen zu befürworten, die die Funktionseliten in Staat und Gesellschaft aus der Verantwortung entlassen, für eine Welt zu kämpfen, in der Solidarität mit Mensch und Natur an die Stelle einer im Kern sozialdarwinistisch bestimmten Resilienz tritt. Letzteres ergibt sich aus der Funktionslogik kapitalistischer Vergesellschaftung, bleibt diese doch stets dem abstrakten Nutzen einer Kapitalverwertung verpflichtet, demgegenüber individuelle Notlagen auf eine Weise rechenschaftspflichtig gemacht werden, die selbst die erstrebenswerte Qualität selbstbestimmten Handelns der geräuschlosen Kompensation gesellschaftlicher Missstände unterwerfen.

So macht der Begriff angesichts des völligen Versagens eines adäquaten gesellschaftlichen Umgangs mit der Klimakrise seit längerem dem zuvor im Mittelpunkt sozialökologischer Konzepte stehenden Terminus der Nachhaltigkeit Konkurrenz [9]. Der Bestsellerautor Jeremy Rifkin zieht mit seinem aktuellen Opus Magnum "Das Zeitalter der Resilienz" die Summe aller Kritik an den gesellschaftlichen Naturverhältnissen als Credo defensiver Anpassung an vermeintlich unabänderliche menschliche Zerstörungsgewalt. Auf diese Weise geraten Fragen an die eigenen Vergesellschaftungspraktiken und Produktionsverhältnisse, die zur Verursachung katastrophaler Entwicklungen beitragen, ins Abseits monokausaler Erklärungsmodelle, in denen für emanzipatorische Gesellschaftskritik kein Platz mehr ist.

Wird im Falle der Klimakrise nun verstärkt akzeptiert, das eine Erderwärmung von mehr als zwei Grad selbst mit einem grünen Kapitalismus nicht mehr zu verhindern sei, die Menschen also Vorkehrungen aller Art zur Bewältigung der anstehenden Gefahren zu treffen hätten, anstatt eine sozialökologische Transformation anzustreben, die vor der Aufhebung der herrschenden Eigentums- und Verwertungsordnung nicht Halt macht, so dampft das regierungsamtliche "Zeitenwende"- und "Epochenbruch"-Paradigma die Krisendiagnose auf von Russland ausgehenden Herausforderungen ein. Zielstrebiger könnte kein angeblicher Handlungsnotstand geltend gemacht werden, der mit der Bereitschaft der Bundesrepublik zur Kriegführung in aller Welt verschlimmert, was ohnehin im Argen liegt.

Und nicht nur das, die angesichts der globalen Krise des Kapitals erforderliche Widerspruchsregulation befeuert eine Innovationsdynamik, die keinen Reichtum auf breiter Ebene mehr zulässt, sondern Mangel produziert und Armut verwaltet. Das hat zumindest der Kapitalismuskritiker Robert Kurz 2005 festgestellt, als er drei Jahre vor der Weltfinanzkrise der verbreiteten Ansicht widersprach, es gehe dem transnationalen Kapital um die Mobilisierung von Ressourcen und Arbeitskräften zum Zwecke eines neuen Akkumulationsaufschwungs.


Nachrichten aus der "Komfortzone"

Das genaue Gegenteil ist der Fall; es geht um die Krisenverwaltung der Demobilisierung von Ressourcen und Arbeitskräften, weil das Weltkapital auf der erreichten Stufe der Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards nicht mehr zur erweiterten Resorption von Produktionskapazitäten in der Form "abstrakter Arbeit" fähig ist. Der neue äußere Krisenkolonialismus des Westens zielt einzig darauf ab, die unbrauchbaren Menschenmassen der Zusammenbruchsregionen in Schach zu halten. Der neue innere Krisenkolonialismus der nationalen Menschenverwaltungsapparate andererseits zielt einzig darauf ab, die Demobilisierung der jeweils "eigenen" Arbeitskraft repressiv zu befrieden und ihr eine bewältigbare Verlaufsform zu geben. Armutsverwaltung bis zum Gehtnichtmehr ist angesagt, nicht regulative Erneuerung gesamtgesellschaftlicher "Projekte". Dazu ist der transnationale Kapitalismus einfach nicht mehr in der Lage.
Robert Kurz: Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems [10]

Sozialstrategische Innovationen wie die verhaltensökonomische Konditionierung der Menschen, die das atomisierte Marktsubjekt mit Hilfe informationstechnischer Systeme auf individuell angepasste Leistungsnormen und Optimierungsforderungen eichen, sollen nicht erst seit Beginn dieses Krieges die Bereitschaft steigern, sich den Forderungen von Staat und Kapital klaglos zu unterwerfen und dabei Ausfallrisiken in Kauf zu nehmen, die mit Defiziten der eigenen Konstitution und Anpassungsbereitschaft erklärt werden. Die offiziell angekündigten Einschnitte in Konsum und Lebenssicherheit werden zwar mit dem Angriff auf die Ukraine und dem daran anknüpfenden Wirtschaftskrieg gegen Russland erklärt, während die generalisierte Krise des Kapitals und der Arbeit, der Naturverhältnisse und des Klimas viel zu wenig Beachtung finden. Gerade diese langfristigen Problemstellungen bieten Anlass, die Systemfrage zu stellen und eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse zu erwirken. Sie lassen ahnen, der dem inneren Widerspruch des sich selbst prozessierenden und dabei substantiell aufhebenden Werts wie der dadurch intensivierten Ausbeutung gesellschaftlicher Naturverhältnisse mit keiner Reform und keinem Krieg beizukommen ist.

Die "Komfortzone", die nicht verlassen zu wollen Serhij Zhadan den Verweigerern von Waffenhilfe für die Ukraine anlastet, ist längst unrettbar vom Virus einer Verwertungslogik befallen, deren "Mehr" an Wachstum und Profit sich als "Weniger" an substantieller Existenzsicherheit ausbuchstabiert. Den Brand in der Ukraine mit Benzin zu bekämpfen, indem immer mehr und potentere Waffen geliefert werden, wird als Akt der Solidarität gefeiert, gerade weil das eigene Leben nicht ins Feuer geworfen wird. Wäre irgendetwas dran an der Behauptung, dass in der Ukraine europäische Werte verteidigt würden, dann müssten die Wertegemeinschaften NATO, EU und USA längst eigene Truppen in die angebliche Schlacht um Freiheit und Demokratie geworfen haben. Indem sie sich davon freihalten, während UkrainerInnen womöglich noch auf Jahre hinaus zu Tausenden sterben, agieren sie ganz im Sinne eines Krisenkolonialismus, der die Menschen auf gemeinsame Feindbilder einschwört, um sie unten zu halten und zu verhindern, die eigene Befreiung in Angriff zu nehmen.

Daher ist auch zu fragen, ob der häufig als monokausales Deutungskonzept verwendete Begriff des "Stellvertreterkrieges" zutreffen kann, wenn zumindest Teile der ukrainischen Bevölkerung angeben, freiwillig für das eigene Land gegen die Invasoren kämpfen zu wollen, und sich nicht dagegen verwahren, dabei für übergeordnete Interessen, sprich den liberalen Kapitalismus, in die Pflicht genommen zu werden. Schließlich ist es ihre Sache zu bestimmen, mit wessen Herrschaft sie sich einst arrangieren wollen. Vom Ende her gedacht stellt sich die Frage, ob das Kämpfen für irgendeinen Staat den Verlust des Lebens wert ist, analog dazu, ob die Unterwerfung unter Lohnarbeit die Frage des Wertes nicht ausschließlich negativ beantwortet.

So oder so werden die UkrainerInnen zu Objekten fremder Interessen gemacht. Daher könnte die ihnen verbliebene Würde zumindest verlangen, nicht als Bauernopfer auf dem eurasischen Schachbrett, hinter dem auf der einen Seite die NATO und auf der anderen Seite Russland Platz genommen hat, jeglicher Selbstbestimmung beraubt zu werden. Dass diese so fiktiv sein kann wie jeder Freiheitsanspruch im warenproduzierenden Kapitalismus hält niemanden davon ab, dennoch so zu tun, als wäre es anders.

Eine Staatenperspektive zu verabsolutieren, für die keine individuelle Betroffenheit und erst recht keine aller Staatlichkeit und nationalen Zuschreibung entsagende Position von Belang ist, sucht Sicherheit in der Distanzierung von allem, was an Krieg schmerzt und Angst macht. Wie in jedem Krieg werden auch in der Ukraine horrende Grausamkeiten begangen [11], dies zu rechtfertigen mit dem nationalem Souveränitätsanspruch Russlands auf Territorien in einem anderen Land rechtfertigt Kolonial- und Aggressionskriege aller Art.

Das widerspricht nicht der Verantwortung, die die NATO für das Entfachen neuer Kriege trägt, sondern unterstreicht den notwendigen Widerstand gegen patriotische Mobilisierungsstrategien auf allen Seiten. Nationalismen sind stets unvereinbar miteinander, daher tendiert ihre kriegerische Durchsetzung zu genozidalen Verläufen. Dass die Katastrophe des Staatenkrieges auf den Begriff der Nation gebracht und in Europa, wo dieses abstrakte Unterwerfungsattribut geschaffen wurde, ausgetragen wird, unterstreicht die identitäre Austauschbarkeit der Akteure ebenso wie ihr eurozentrisches Selbstverständnis. Russland ist nicht mehr die Sowjetunion, auch wenn diese Gleichsetzung im Verhältnis zur NATO immer wieder vorgenommen wird, sondern ein kapitalistischer Nationalstaat wie die meisten anderen Staatssubjekte der Welt auch. Machte das Beispiel dieses Krieges dort Schule, dann würde es auch in der vermeintlichen Komfortzone Deutschland schnell ungemütlich.

Fußnoten:
[1] https://www.zeit.de/kultur/literatur/2022-10/frankfurt-buchmesse-serhij-zhadan-friedenspreis

[2] https://archive.org/details/materialien-fur-einen-neuen-antiimperialismus/Materialien%20f%C3%BCr%20einen%20neuen%20Antiimperialismus_4_1992

[3] https://communaut.org/de/fuer-russland-und-die-usa-geht-es-um-alles (enthält eine umfassende Gegenüberstellung der Nukleardoktrinen der Konfliktparteien)

[4] https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Kujat-Keine-weiteren-Offensiv-Waffen-fuer-die-Ukraine-article23646226.html

[5] https://www.counterpunch.org/2022/11/08/u-s-review-envisions-using-nuclear-weapons-against-non-nuclear-attacks/

[6] https://www.nytimes.com/2022/06/25/us/politics/commandos-russia-ukraine.html

[7] Stefanie Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit, Bielefeld 2019, S. 195

[8] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/nationale-sicherheitsstrategie-gesellschaftliche-resilienz-fokus-5514816

[9] https://www.phase-zwei.org/hefte/artikel/von-der-nachhaltigkeit-zur-resilienz-370

[10] Robert Kurz: Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Berlin, 2005, S. 458

[11] https://www.ohchr.org/en/documents/reports/a77533-independent-international-commission-inquiry-ukraine-note-secretary

10. November 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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