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HERRSCHAFT/1605: Zensus 2011 - Das Volk zählen zu seiner neoliberalen Bewirtschaftung (SB)



Der Beginn des Zensus 2011 seit 9. Mai erfolgt in weitgehender Geräuschlosigkeit. Die Medien berichten eher routinemäßig denn engagiert, und eine Protestbewegung, die 1983 noch hohe Wellen schlug, glänzt durch Abwesenheit. Kritik an der Volkszählung wird vor allem durch den Arbeitskreis Zensus [1] geleistet, dessen Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht allerdings nicht angenommen wurde. Über die von seinen AktivistInnen vor allem thematisierte Datenschutzproblematik hinaus stellt sich die Frage, weshalb eine Volkszählung überhaupt erforderlich ist. Die Angaben des Statistischen Bundesamts dazu sind eher dürr, beruft man sich dort doch auf die größere Planungssicherheit für Verwaltung und Politik etwa hinsichtlich kommunaler Einrichtungen, des Finanzausgleichs oder der Schaffung sicherer Voraussetzungen für die repräsentative Demokratie durch zuverlässige Wählerdaten. Dies mit erheblichem finanziellen Aufwand von über 750 Millionen Euro und unter Zwang zu gewährleisten läßt vermuten, daß der eigentliche Ertrag dieses organisatorisch höchst anspruchsvollen Unterfangens in Bereichen angesiedelt ist, die eher nicht in den Vordergrund der Debatte gespielt werden.

Dies zu ergründen lohnt den Blick auf die EU-Verordnung vom 9. Juli 2008, die dem deutschen Zensusgesetz 2011 vom 16. Juli 2009 zugrundeliegt. Darin werden die regelmäßig in der EU alle zehn Jahre durchzuführenden Volkszählungen auf zwar abstrakte, aber doch aufschlußreiche Weise auf den Punkt ihrer Nutzung gebracht:

"Oberstes Ziel ist es, ein hinreichend detailliertes Bild von Struktur und Merkmalen der Bevölkerung zu zeichnen, das es ermöglicht, die in vielen politischen Bereichen für Planungs-, Verwaltungs- und Kontrollzwecke benötigten eingehenden Analysen durchzuführen. Viele dieser politischen Maßnahmen haben eine europäische Komponente, und die Institutionen der Europäischen Union wie auch die Mitgliedstaaten verlangen nach zuverlässigen Vergleichen im europäischen Kontext."

Die Erfassung der Bevölkerung nach Kriterien ihrer geografischen, demografischen, geschlechtlichen, familiären, berufständischen und wohntechnischen Beschaffenheit erfolgt nicht im luftleeren Raum administrativer Bemittelung, sondern auf dem Boden einer spezifischen, Staat und Gesellschaft prägenden Verwertungsordnung. In der Verordnung verwiesen wird dazu insbesondere auf Artikel 2 und 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), in denen die Werte und Ziele der EU verankert sind. So werden die EU-Staaten unter Art. 3 Abs. 3 auf "die Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" festgelegt. Diese den neoliberalen Charakter der EU-Gesellschaften festschreibende Bestimmung der wirtschaftspolitischen Grundlagen ist für die staatliche Administration auf nationaler wie supranationaler Ebene weit verpflichtender als alle hehren Werte, die im EUV aufgeführt werden. Die Europäische Union ist als Wirtschaftsgemeinschaft entstanden und definiert sich nach wie vor über deren marktwirtschaftlichen Charakter, wie nicht zuletzt der Tenor des Krisenmanagements der Eurozone belegt, laut dem Erfolg oder Scheitern der gemeinsamen Währung über das künftige Schicksal der EU befinden.

Um das jüngst im Pakt für den Euro angemahnte Ziel gesteigerter Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, bedient man sich der vertrauten Logik des verschärften Standortwettbewerbs, der Freisetzung bislang kommunal oder staatlich verwalteter Ressourcen der Daseinsvorsorge für private Kapitalinvestoren, der Senkung von Steuern auf den Faktor Arbeit, der Abkopplung der Lohnentwicklung von der Inflationsrate, der Disziplinierung der Erwerbslosen nach Vorbild des deutschen Hartz IV-Regimes und der Kriminalisierung informeller Formen der Erwerbssicherung. Wo die laut EU-Verordnung verlangte Bereitstellung von Daten für "zuverlässige Vergleiche im europäischen Kontext" die Voraussetzungen des nationalen und regionalen Standortwettbewerbs optimieren, indem die Grundlagen für infrastrukturelle und industriepolitische Entscheidungen präzisiert werden, begünstigen die vorgegebenen Merkmale des Zensus zum Bildungsstand, zur Erwerbstätigkeit, zur Wohnsituation wie zu Alter und Geschlecht die betriebswirtschaftliche Rationalisierung der Bevölkerung zugunsten ihrer höheren Verwertungseffizienz.

Die hochdifferenzierte Struktur der Fragen zu allen Belangen des Erwerbslebens in der Haushaltsstichprobe und die für den Zensus verwerteten Daten der Agentur für Arbeit schaffen mithin einen Datenfundus, der den Griff der Arbeitsverwaltung nach noch brachliegenden Ressourcen zweifellos erheblich vertiefen kann und wohl auch wird. Instrumente dafür sind die im Hartz-IV-Regime verankerten Zwangsmaßnahmen, die sich auf vielerlei Weise individualisieren wie verallgemeinern lassen, und die ordnungspolitischen und fiskalischen Stellschrauben der Produktion und Reproduktion. Darüberhinaus ist der Staat zuständig für eine Industrie- und Wirtschaftsplanung, die sich nicht nur an räumlichen, umwelt- und verkehrstechnischen Bedingungen orientiert, sondern auch der Bereitstellung von Arbeitskräften jeglicher Qualifikation bedarf. Diese in ausreichender Zahl verfügbar zu machen und nach Kriterien der Mobilität und Flexibilität zu organisieren orientiert sich vor allem an der Verwertbarkeit der Arbeit und weniger an den Interessen der erwerbsabhängigen Bevölkerung. Diese werden den Anforderungen des Kapitals desto mehr nachgeordnet, je intensiver der Wettkampf um Direktinvestitionen geführt wird.

Ob ein Kindergarten, ein Schwimmbad, eine Schule oder eine Straße gebaut werden, wird nicht anhand des realen Bedarfs entschieden, sondern in Abhängigkeit von einer politisch bestimmten Rentabilitätslogik. Man stellt keine sozial wertvollen Angebote in blühende postindustrielle Landschaften, wenn man schon zuvor weiß, daß dort keine zahlungsfähige Bevölkerung lebt. Es wird keine angemessene Alimentierung von Erwerbslosen geben, wenn dies dazu führen könnte, das die Lohnarbeit teurer werden könnte, selbst wenn das Datenmaterial dies hergäbe. Es handelt sich um politische Entscheidungen, die einer Ratio des Mangels entspringen, ohne die der Kapitalismus sich nicht im beanspruchten Sinne durchsetzen ließe. Der Bevölkerung weiszumachen, ihr werde auf den nackten Datenleib geschaut, weil man nur das Beste für sie wolle, ist ein probates Mittel, sie in noch größerem Ausmaße einem Interesse zu unterwerfen, das in der EU vom Primat des Kapitals dargestellt wird, auf welche Weise auch immer verwertet zu werden.

Das über die EU-Verordnung hinausgehende Interesse des deutschen Staates am migrantischen Hintergrund und religiösen Bekenntnis der Bundesbürger bestätigt das vordringliche Interesse, die Menschen nicht einfach nur zu zählen oder demografisch zu sortieren, sondern die Bevölkerung in ihrer Zusammensetzung zu bestimmen. Dieses administrative Anliegen betrifft Fragen der Integration und Repression, der Produktion und Reproduktion von eminenter politischer Bedeutung. Werden diese Fragen anhand sozialtechnokratischer, die Ratio des Verwertungsinteresses und der Herrschaftsicherung vollziehender Maßgaben entschieden, dann geht dies zu Lasten des demokratischen Anspruchs, als Bevölkerung der Bundesrepublik souveräne Entscheidungen auch gegen die postulierten Sachzwänge treffen zu können. Deren Gültigkeit ist jedoch bereits im sozialökonomischen Charakter des Fragenkatalogs der Haushaltsstichprobe und des Datenfundus der Bundesagentur für Arbeit angelegt. Subjektive Faktoren wie die persönliche Lebensqualität, der Wunsch nach nichtentfremdeter Arbeit, nach einem Leben in intakter Umwelt und in sozialem Frieden bleiben demgegenüber nicht nur aus Gründen wissenschaftlicher Objektivität oder des Datenschutzes außen vor. Ihnen kommt in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der soziale Teilhabe und staatsbürgerliche Einflußnahme vor allem von der jeweiligen Verwertungsfähigkeit abhängen, schlicht keine Bedeutung zu.

Dabei ist die akademische Wissensproduktion zu Staat und Gesellschaft längst weiter. Man weiß - etwa aufgrund des Gouvernementalitätsdiskurses Michel Foucaults - sehr genau, daß die Bewirtschaftung der Bevölkerung häufig nicht mit dem Interesse der Betroffenen in eins fällt, sondern Widersprüche aller Art freisetzt. Die Erhebung quantitativer wie qualitativer Daten mit dem Ziel, möglichst präzise Erkenntnisse zur sozialökonomischen Verfassung der Bevölkerung zu generieren, kann dementsprechend widrige und fremdbestimmte Entwicklungen in Gang setzen. Die Passivität, mit der die BürgerInnen den Zensus 2011 über sich ergehen lassen, läßt allerdings nicht auf einen politischen Willen schließen, in dem sich autonome Subjektivität gegen den datentechnischen Zugriff artikuliert.

Fußnoten:

[1] http://zensus11.de/

[2] http://www.zensus2011.de/fileadmin/material/pdf/gesetze/Verordnung%20des%20Europäischen%20Parlaments%20und%20des%20Rates.pdf

Zum Zensus 2011 siehe auch:

BERICHT/069: Zensus 2011 - Der Bevölkerung auf den Datenleib geschaut (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0069.html

10. Mai 2011