Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1631: Die Revolution zu ihrem Ziel führen ... Ägypter kämpfen gegen neue Despoten (SB)



Die Entwicklung in Ägypten drängt spätestens seit Mitte September zur Machtprobe zwischen den Revolutionären und der vom Supreme Council of the Armed Forces (SCAF) gebildeten Übergangsregierung. Diese hatte dem im März per Referendum für Ende September beschlossenen Auslaufen des seit 30 Jahren in Kraft befindlichen Ausnahmezustands zuwidergehandelt, indem sie diese legalistische Machtbasis des gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak nicht nur per Dekret fortgeschrieben, sondern durch neue exekutive Sonderrechte erweitert hat. So dienen die kriminelle Beschädigung von Staatseigentum, die Unterbrechung des regulären Verlaufs der Erwerbsarbeit und das Verbreiten angeblich falscher Nachrichten und Informationen [1] den Militärs künftig als Vorwand zum gewaltsamen Eingreifen. Die Zusicherung des SCAF, die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands diene ausschließlich dem Schutz der nationalen Sicherheit, richtet sich damit gegen die Fortsetzung der unvollendet gebliebenen Revolution.

Der SCAF hat mit diesen Sonderbefugnissen bewiesen, daß er sich vorbehält, Streiks und die Kommunikation der revolutionären Aktivistinnen und Aktivisten gewaltsam zu unterbinden. Mehr als 12.000 Zivilisten wurden seit dem Sturz Mubaraks und der Einsetzung des SCAF vor Militärtribunale gestellt. Damit wurde die Willkürjustiz, mit der das Mubarakregime die politische Opposition im Zaum gehalten hat, von den Staatsschutzgerichten auf Militärtribunale übertragen. Zahlreiche Mitgliederinnen und Mitglieder der Protestbewegung wurden seither in Administrativhaft genommen und gefoltert, auf Demonstrationen verletzt und ermordet. Die Militärführung versucht ihrerseits, den demokratischen Prozeß, der mit dem am 28. November beginnenden Parlamentswahlen seinen Lauf nehmen, im nächsten Jahr zur Verabschiedung einer Verfassung führen und mit Präsidenschaftswahlen Ende 2012 oder Anfang 2013 vollendet sein soll, durch exekutive Vollmachten zu usurpieren [2]. So soll der SCAF als Hüter der Verfassung von der demokratischen Kontrolle durch das Parlament ausgenommen werden und über seinen Haushalt in eigener Regie entscheiden.

Wenn dies erfolgte, dann sähe die Herrschaft des SCAF nicht nur wie eine Militärdiktatur aus, sondern wäre de facto eine. Die am Wochenende in ganz Ägypten ausgebrochenen Proteste sind die logische Folge einer Herausforderung, der die ägyptische Bevölkerung entgegentreten muß, so lange dies überhaupt noch möglich ist. Das unmittelbare Vorfeld der Wahlen ist dazu besonders geeignet, weil der Widerspruch zwischen staatsautoritärer Praxis und demokratischem Prozeß Legitimationsprobleme produziert, die die Militärregierung vor einige Probleme stellt. Sie versucht dementsprechend, die von ihr ausgehende Repression als Schutzmaßnahme zur Durchführung freier Wahlen darzustellen, so daß es nun vor allem darauf ankommt, ob die Regierungen der EU und USA diese Version des Geschehens unterstützen.

Wenn Außenminister Guido Westerwelle angesichts der neuen Kämpfe appelliert, "alle Seiten" sollten "von jeglicher Gewaltanwendung" absehen, weil es "von überragender Bedeutung" sei, daß die Parlamentswahlen "in einem friedlichen und geordneten Umfeld" abgehalten würden, dann entspricht er dieser Lesart durchaus. Er ignoriert ganz bewußt, daß die Gewaltanwendung seitens der SCAF Anlaß und Auslöser der Proteste ist. Seine Mahnung, die demokratische Entwicklung in Ägypten dürfe nicht aufs Spiel gesetzt werden, dokumentiert, daß der deutsche Außenminister den Ausnahmezustand und die Verurteilung Oppositioneller durch Militärtribunale für demokratisch hält. Nähme man ihn ernst, dann müßten seine Äußerungen Anlaß zu großer Sorge über die politische Entwicklung in der Bundesrepublik sein.

Den Revolutionären, die bereits einen hohen Blutzoll beim Sturz Mubaraks geleistet und, weil sie mit zunehmender Brutalität überzogen werden, seitdem noch mehr Opfer zu beklagen haben, geht es darum, nicht auf halber Strecke stehenzubleiben und am Ende durch eine nur dem Schein nach neue Form staatsautoritärer Unterdrückung jeder Chance beraubt zu werden, ihre Ziele zu erreichen. Diese bestehen lediglich im ersten Schritt in der Etablierung demokratischer Verhältnisse, um in der Folge die soziale Unterdrückung der verelendeten Bevölkerung des Landes aufzuheben.

Es ist kein Zufall, daß die Verhinderung der Streiks, die trotz massiver Repression in großer Zahl stattfinden, ein vordringliches Ziel der SCAF ist, das mit allen legalistischen und exekutiven Mitteln verfolgt wird. Die seit 2006 geführten Arbeitskämpfe sind der eigentliche Motor der Revolution, die, wäre sie von Anbeginn an als Klassenkampf propagiert worden, durch die Regierungen der EU und USA kaum akzeptiert worden wäre. Diese haben ihren Statthalter Mubarak ohnehin erst fallen lassen, als er nicht mehr zu halten war, und seitdem alles versucht, um den sozialen Charakter der revolutionären Erhebung zu hintertreiben. So werden die ägyptischen Generäle nach wie vor mit umfassenden Finanzmitteln von der US-Regierung unterstützt. Und nicht nur das, selbst das auf die Demonstrantinnen und Demonstranten in Kairo, Alexandria und Suez abgefeuerte Tränengas stammt aus den USA. Es ist von mehr als symbolischer Bedeutung, daß es sich um die gleichen Granaten handelt, mit denen dort die Occupy-Bewegung, in den von Israel besetzten Gebieten palästinensische Demonstranten und in Ägypten die Menschen vom Tahrir-Platz bekämpft werden [4].

Auch der offizielle Anlaß zur Beibehaltung des Ausnahmezustands, die Proteste gegen die israelische Botschaft in Kairo am 9. September, erinnert daran, daß die ägyptische Revolution von den Bedingungen der imperialistischen Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten nicht zu trennen ist. Während die ägyptischen Sicherheitskräfte die demonstrierende Menge gewähren ließen, wurde niemals zufriedenstellend aufgeklärt, wer für die Übergriffe auf die diplomatische Vertretung Israels verantwortlich war [5]. In jedem Fall müssen die Aktivistinnen und Aktivisten, die mit der Parole "Reclaim the revolution" dagegen kämpfen, daß das von ihnen Erreichte wieder zunichtegemacht wird, damit rechnen, daß nicht nur der SCAF, sondern auch die westlichen Regierungen massives Interesse an der vorzeitigen Beendigung des revolutionären Prozesses haben. Wenn ersteinmal die schwerwiegenden sozialen Konflikte, denen die Regierungen der EU und USA keine besondere Bedeutung zubilligen wollen, in den Mittelpunkt des Kampfes rücken, dann wird auch die Unterstützung des Kairoer Militärregimes durch diese staatlichen Akteure in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten.

Fußnoten:

[1]http://www.almasryalyoum.com/en/node/495212

[2] http://www.wsws.org/articles/2011/nov2011/egyp-n08.shtml

[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,798848,00.html

[4] http://english.al-akhbar.com/blogs/gadfly/arms-firm-behind-suppression-occupyoakland-and-palestines-popular-struggle

[5] http://english.ahram.org.eg/News/21162.aspx

20. November 2011