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HERRSCHAFT/1729: "Aufstehen gegen Rassismus" ... und seine Eigentumsordnung (SB)



"Aufstehen gegen Rassismus", heißt es am Sonnabend in Berlin. Das im März gegründete Bündnis dieses Namens umfaßt eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Gruppen, antifaschistischer Initiativen und engagierter Einzelpersonen. In seinem Aufruf zur Demonstration am 3. September richtet es sich "gegen jede gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus und jede andere Form des Rassismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit" [1]. Als Trägerin derartiger reaktionärer und feindseliger Einstellungen wird insbesondere die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) genannt, die am darauffolgenden Sonntag bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern anstrebt, stärkste Fraktion im Schweriner Landtag zu werden.

Obwohl die mit rechtspopulistischen und deutschnationalen Forderungen aufwartende Partei erst seit drei Jahren existiert, stehen die Chancen, daß ihr dieser spektakuläre Erfolg gelingt, nicht schlecht. Das Konzept der sogenannten Volksparteien CDU/CSU und SPD, rechts von ihnen situierte Parteien durch das Besetzen der Felder, auf denen sie Mehrheiten gewinnen könnten, unter der Sperrklausel von fünf Prozent zu halten, ist offensichtlich gescheitert. Zwar konnten die maßgeblich von Unionsparteien und Sozialdemokraten gebildeten Bundesregierungen die EU erfolgreich als Expansionsraum deutscher Hegemonialinteressen nutzen und die fundamentale Krise des kapitalistischen Weltsystems weitreichend zu Gunsten deutscher Unternehmen wenden, doch das muß keineswegs so bleiben.

Als der SPD-Politiker Thilo Sarrazin vor sechs Jahren mit seinem Bestseller "Deutschland schafft sich ab" den bis dahin partiell noch von gesellschaftskritischen Forderungen bestimmten Krisendiskurs eine bevölkerungspolitische und kulturalistische Stoßrichtung gab, vollzog er eine ideologische Wendung, die in der globalen Krisenkonkurrenz stets virulent ist. Die AfD, die dank dieser mit viel medialem Widerhall prächtig aufgegangenen Saat nun reiche Ernte halten kann, ist keineswegs aus dem Nichts oder als Trojanisches Pferd neonazistischer Gruppen entstanden. Sie ist genuines Produkt gutbürgerlicher Besitzstandsinteressen und hat eine mittelständische Klientel, die zwar Abstiegsängste kennt, häufig aber noch im Saft arrivierter Versorgungs- und Einkommensstrukturen steht.

Was als EU-kritisches Projekt gegen die deutsche Steuerzahler angeblich schröpfende Alimentierung südeuropäischer Krisenstaaten begann und damit Gläubigerinteressen bediente, die eher nicht die der auf Arbeitseinkommen angewiesenen Bevölkerung sind, hat die von Sarrazin betriebene Abrechnung mit Gruppen, die angeblich auf Kosten der biodeutschen Bevölkerung leben, erfolgreich aufgegriffen. Dies kam insbesondere im rechten Dunstkreis jener Volksparteien gut an, aus denen sich auch maßgebliche Akteure der AfD-Führung rekrutieren.

Daß CDU/CSU und SPD die neue Konkurrenz fürchten müssen, ist, wie nicht nur die sozialdemokratische Herkunft Sarrazins belegt, zu einem Gutteil der eigenen Politik geschuldet. Neoliberalismus und Sozialdarwinismus sind bis weit in rot-grüne Kreise hinein keine Fremdwörter, sondern legitime Strategien zum Erreichen konkreter Wachstumsziele und Wettbewerbsvorteile. Im Unterschied zur AfD bleibt das kulturalistische Ressentiment, das dort insbesondere im antimuslimischen Rassismus manifest wird, bei den etablierten Parteien jedoch meist unter der Decke des freiheitlich-demokratischen Wertekanons. Das sieht in der exekutiven Praxis der EU-europäischen Flüchtlingsabwehr und der deutschen Beteiligung an imperialistischen Kriegen durchaus anders aus, doch läßt die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und seine höchst profitable Integration in den globalisierten Kapitalismus bislang keinen offenen Bruch mit humanitären Zielen und grundlegenden Menschenrechten zu.

Indem die AfD dies zwar nicht formal, aber inhaltlich tut, während sie keine Einwände gegen neoliberalen Leistungsrassismus und den marktwirtschaftlichen Workfare-Staat geltend macht, bindet sie diejenigen Teile der Bevölkerung in das Projekt des deutschen Imperialismus ein, die seinem EU-europäischen Format und seinen transnationalen Akteuren nicht zutrauen, dauerhaft die eigenen Besitzstandinteressen zu garantieren. Im Ergebnis stärkt die neue Rechtspartei das Handlungsvermögen deutscher Kapital- und Funktionseliten, den Anteil der Lohnabhängigenklasse am Nationalprodukt weiter zu verringern und die Kapitalproduktivität dementsprechend zu steigern. Das ist nicht nur aus Gründen der ohnehin erforderlichen Bestandssicherung und eines Krisenmanagements, das sich unverkennbar in Richtung permanenter Ausnahmezustand bewegt, erforderlich, sondern erhält vor dem Hintergrund der unter dem Titel Industrie 4.0 propagierten Rationalisierungsoffensive zukunftsweisende Bedeutung. Die anstehenden Sozial- und Verteilungskämpfe werden auch diejenigen Teile der deutschen Bevölkerung, die sich dünken, qua Geburtsrecht privilegierter als 90 Prozent der Weltbevölkerung zu sein, nicht verschonen.

Indem die AfD den Klassencharakter der herrschenden Eigentumsordnung nicht einmal symbolisch attackiert und allen daraus erwachsenden Unmut gegen den fremden, nicht der nationalen Schicksalgemeinschaft zugehörigen Menschen wendet, bietet sie sich als Bündnispartner für einen noch entfesselteren, globale Ressourcenplünderung und deren militärische Flankierung mit großer Selbstgerechtigkeit vollziehenden Kapitalismus an. Den von der AfD, den der Partei zuarbeitenden Bewegungen Pegida und Hogesa und einer rechtspopulistischen Presse, die mit ihren Print- und Online-Ausgaben Hunderttausende Menschen erreicht, propagierte Islamfeindlichkeit als bloßen Auswuchs ethnizistisch-biologistischer NS-Ideologie zu verstehen hieße, den ihr eigenen Modernisierungs- und Innovationsschub zu verkennen. So beerbt der europaweit Furore machende antimuslimische Rassismus zwar die mörderischen Ideologien christlicher Suprematie und europäischer Kolonialherrschaft, propagiert mit dem Alleinvertretungsanspruch liberalkapitalistischer Vergesellschaftung allerdings auch die ideologische Voraussetzung für einen weltweit organisierten Geschäftsbetrieb, von dem derjenige am meisten hat, der aufgrund seiner globaladministrativen Dominanz in der Lage ist, seine politischen und rechtlichen Bedingungen zu diktieren.

Wie die große soziale Bewegung gegen Freihandelsabkommen mit der Forderung nach einem gerechten Welthandel auf halbem Wege haltmacht [2] oder der breite Aktivismus gegen ökologische Zerstörung und Klimawandel die notwendige Konsequenz scheut, die soziale Frage in den Mittelpunkt zu stellen und kapitalistische Verwertung als solche zum Problem destruktiven Verbrauchs zu erheben, so könnte der antirassistische Kampf auf der Strecke einer gesellschaftlichen Teilhaberschaft bleiben, die seine uneingeschränkt zu unterschreibenden Forderungen korrumpieren. Was bedingt den massiven Zulauf, den rechtspopulistische bis rechtsradikale Bewegungen und Parteien in den letzten Jahren genießen, an allererster Stelle? Es ist die imaginierte wie echte Angst, im Verteilungskampf zu kurz zu kommen und Privilegien einzubüßen, die bisher so selbstverständlich in Anspruch genommen wurden, daß gar nicht erst gefragt wurde, was die eigene Beteiligung an einer Welt ausmacht, in der Milliarden Menschen unter akutem Mangel an guten Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, angemessener Wohnung und Freiheit von Unterdrückung leben.

Scheitert schon die klassisch linke Position, die Gleichheit sozialökonomischer Bedingungen weltweit durchzusetzen, daran, daß viele Menschen dem wenigen, was sie sicher zu haben meinen, dem revolutionären Anspruch auf grundlegende Gesellschaftsveränderung gegenüber den Vorzug geben, so verschärft sich das Verhältnis zwischen relativ gesichertem Überleben und akuter Not heute durch Krisen, die im Unterschied zu früheren Epochen in globaler Synchronizität verlaufen, so massiv, daß bislang vorhandene Fluchträume zusehends verschlossen werden. Die 60 Millionen Flüchtlinge dieser Tage machen auch hierzulande unmißverständlich klar, daß das Glück im globalen Winkel in sein unter diesen Verwertungs- und Produktionsbedingungen unumkehrbares Endstadium getreten ist.

Gegen den Rassismus von AfD und Konsorten anzutreten greift desto tiefer, als die Bedingungen nationaler, ethnischer, religiöser, geschlechtlicher und kultureller Ausgrenzung und Benachteiligung ohne Rücksicht auf eigene Vorteile analysiert und kritisiert werden. Daß dies bei Bündnispartnern, die neoliberale und grünkapitalistische Politik betreiben, eher nicht der Fall ist, liegt auf der Hand. Die von linksradikalen Aktivistinnen und Aktivisten angestoßene Diskussion um die Wirksamkeit und Korrumpierbarkeit eines solchen Bündnisses ist daher von zentraler Bedeutung, auch wenn sie nur marginal erscheint. Sie antizipiert eine Positionsbestimmung, die unausweichlich ist, wenn soziale und gesellschaftliche Kämpfe auch in Zukunft emanzipatorische Ergebnisse zeitigen sollen. Am 3. September in Berlin zu demonstrieren ist allemal sinnvoll, und sei es nur, um im Rahmen des Bündnisses "Aufstehen gegen Rassismus" Positionen stark zu machen, für die es in der Bundesrepublik durchaus Potential gibt. Wenn die Gewißheit, daß der Schmerz erlittener Ohnmacht und Vernichtung alle Eigentumsansprüche aufhebt, die gegen andere Menschen und Lebewesen gerichtet werden können, um sich greift, dann bleibt die Zukunft offen und die Barbarei ist noch zu verhindern.


Fußnoten:

[1] https://www.aufstehen-gegen-rassismus.de/3-september/

[2] BERICHT/083: TTIP Nein danke - Innovativverwertung humaner Ressourcen ... (1) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0083.html

30. August 2016


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