Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1738: Digital-Metropolis (SB)



Echtzeitdämmerung: Der Mensch verschwindet, digitale Paßförmigkeit bleibt

Der dystopische Alptraum so manchen Schriftstellers von einer perfekt überwachten Gesellschaft, in der die kontrollierten Bürger selbst alles dafür tun, um noch besser überwacht zu werden, nimmt immer mehr Gestalt an. Nicht in ferner Zukunft, sondern hier und heute. Um der kleinen Vorteile willen lassen sich immer mehr Menschen von Aktivitätsmessern überwachen und stellen ihre Gesundheitsdaten Krankenkassen zur Verfügung, damit sie ihnen Boni gewähren. Die AOK Nordost hatte 2015 damit begonnen, Käufern von Pulsmessern, Self-Trackern oder anderen digitalen Fitness-Geräten bis zu 50 Euro zuzuzahlen. Mit dieser Masche werden vor allem junge (gesunde) Kunden angelockt, was der Versicherung wiederum hilft, Kosten einzusparen. Die Generali-Versicherungsgruppe setzte noch einen drauf. Kunden, die per App Daten über ihre Lebensgewohnheiten an den privaten Versicherungskonzern weiterleiten, werden für ihr gesundheitsbewußtes Verhalten mit Gutscheinen und Rabatten belohnt.

Verschiedene Autoversicherer in Deutschland haben in diesem Jahr begonnen, telematikbasierte Bonus-Programme auf den Markt zu bringen. Bei den Tarifen hängt die Höhe der Versicherungsprämie von der persönlichen Fahrweise ab, die durch eine Telematik-Box im Auto oder eine App für das Smartphone ständig überwacht wird. Wer langsam fährt, sanft beschleunigt und keine ruckartigen Lenkbewegungen ausführt, wird bei der Huk-Coburg mit Preisnachlässen von bis zu 30 Prozent belohnt. Sämtliche Daten des eigenen Fahrverhaltens werden ausgewertet und in Scores zusammengefaßt. Jeder kleine Fehler wird sofort aktenkundig. Wie Mißgeschicke, Übertretungen, Versäumnisse oder Unsicherheiten interpretiert werden und wer sie später vielleicht einmal unbefugt oder ganz legal zu sehen bekommt, liegt nicht in der Macht der Fahrer. Nur so viel ist sicher: Meßvorgänge, obwohl sie scheinbar objektive Daten ausspucken, sind nicht frei von Interessen. Schon allein die Auswahl der Meßpunkte oder was alles nicht gemessen wird, unterliegt subjektiven Entscheidungskriterien. Ganz zu schweigen von der Interpretation oder Bewertung der Meßdaten.

Die Digitalisierung der Gesellschaft macht auch nicht vor der beschleunigten Quantifizierung von Arbeitsleistungen halt. Durch verbesserte und vervollständigte Methoden der biometrischen Arbeitsüberwachung erweitert sich das Instrumentarium der Arbeitgeber, den bereits weitreichend vermessenen REFA-Menschen noch enger an die Kandare gesteigerter Effizienz und Profitmaximierung zu legen. Der wie die Produktionsabläufe in Einzelteile zerlegte Mensch, der die Erhebung seiner Meßreihen in der Freizeit- und Privatsphäre fortsetzt und sich bereitwillig den Algorithmen der digitalen Objektivierungsmaschinen überantwortet, degeneriert auf diese Weise zu einem Funktionspartikel, dessen größte Subjektivität in zahlengetriebener Paßförmigkeit besteht - gefüttert und belohnt durch die Häppchen sozialer wie materieller Anerkennung, am Band geführt durch die Social Engineering- oder Nudging-Methoden der Sozial- und Arbeitswissenschaften, die den Grundwiderspruch zwischen Leistungs- und Gesundheitsförderung längst fachgerecht entsorgt haben. Von den Interessensgegensätzen zwischen Lohnarbeit und Kapital gar nicht erst zu reden.

In offenen Gesellschaften bedarf es keiner autoritären Methoden oder drakonischen Zwangsmittel mehr, um die Menschen "sanft" und "smart" an die Angel zu nehmen. Umfragen haben ergeben, daß die Bereitschaft von Arbeitnehmern hoch ist, betriebsinternen Big-Data-Systemen ihre Gesundheitsdaten zu überlassen, wenn sie dafür nur Vergünstigungen oder Gratifikationen erhalten. Mitunter reicht auch der Gruppendruck aus, schwächelnden Mitarbeitern Feuer unterm Hintern zu machen. So können Belegschaften im Rahmen von firmeneigenen Gesundheits(vorsorge)programmen ihren hohen, für die Berechnung der Betriebskrankenkassenbeiträge wichtigen "Health-Score" einbüßen, wenn einzelne MitarbeiterInnen unterdurchschnittliche Werte aufweisen. [1]

Wer auf gröbere Formen des Nudgings (engl. für anstupsen) anspricht, um "schlechte Angewohnheiten" zu verändern wie "schon wieder das Fitness-Ziel nicht erreicht" zu haben, kann sich auch von der Firma Pavlok Elektroschocks versetzen lassen. Das amerikanische Unternehmen hat ein Armband entwickelt, das sich wie bei der klassischen Konditionierung dazu einsetzen läßt, alltägliche Laster mit milden Elektroschocks zu bestrafen und dadurch Aversionen auszulösen. Freunde oder Lebenspartner können sich ebenfalls gegenseitig "motivieren", z.B. weniger zu essen oder mehr zu trainieren, und Stromimpulse beim Partner auslösen, heißt es verlockend im Angebot. [2]

Wer das Gadget für einen technisch abartigen Witz hält, der sollte sich klar machen, daß das Äquivalent der physikalischen Stromstöße durch dritte Personen, Instanzen oder Maschinen die sozialen oder ökonomischen Anreizsysteme der Versicherungen, Krankenkassen oder Unternehmen sind, die "gesundheitsbewußtes Verhalten" über Rabatte oder Bonusprogramme anzustoßen versuchen und indirekte Strafimpulse an alle senden, die sich nicht an der allgemeinen Punktejagd beteiligen und somit selbstverschuldet auf Vorteile verzichten.

Das alte Teile-und-herrsche-Prinzip entwickelt im digitalen Kapitalismus, der die Menschen mit erhöhter Schlagzahl auf alles abklopft, was technisch vermess- und sozioökonomisch verwertbar erscheint, neue Qualitäten des expansiven Zugriffs. Während nach außen hin die Finanzblasen zum Bersten anschwellen, allen Datenskandalen und Bürgerrechten zum Trotz die nachrichtendienstliche Ausforschung sämtlicher Telekommunikationsstrukturen steigt und die Kriegswirtschaft immer größere Schlachtfelder absteckt, zielt die innere Expansion auf die progressive Vermessung sämtlicher Lebensentäußerungen. Wo die "trägen" Zählwerke der analogen Welt noch nicht hinreichten, den Menschen der Maschine immer gleicher zu machen, kann im digitalen Zeitalter seine Bereitschaft, sich vergleich- und rechenbar zu halten, zu neuen Höhen getrieben werden. Wer spricht noch von Emanzipation gegenüber fremden Interessen, wenn die als wohlgesonnen verinnerlichte Hand des Digital-Trainers, mag sie mitunter auch strafend sein, einem Zuckerstücke der Selbstoptimierung reicht?

Fußnoten:

[1] https://www.dacadoo.com/bgm-fuer-mitarbeiter/?lang=de

[2] https://digiwell.com/shop/entdecken/highlights/534/pavlok-elektroschock-armband

23. Oktober 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang