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HERRSCHAFT/1762: Kritik am G20-Gipfel von unverhoffter Seite (SB)



Als im vergangenen Jahr beim G20-Gipfel in Hangzhou Hunderttausende Menschen die Stadt verlassen mußten und die Berichterstattung der Presse massiv eingeschränkt wurde, echauffierten sich westliche Medien unisono über das staatsautoritäre chinesische Gesellschaftssystem. Hierzulande, in der funktionierenden Demokratie, sei so etwas unvorstellbar, hieß es damals. Weil Deutschland in diesem Jahr die G20-Präsidentschaft innehat, findet der Gipfel am 7. und 8. Juli in Hamburg statt. Das wird teurer. Der Bund hat für G20 in der Hansestadt sowie für das OSZE-Ministerratstreffen im vergangenen Dezember insgesamt 50 Millionen Euro bereitgestellt. Die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft befürchtet jedoch, daß der Gipfel teurer als geplant wird und Hamburgs Steuerzahler die Mehrkosten schultern müssen. Sie steht mit dieser Einschätzung nicht allein. Laut Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) kostete der G8-Gipfel im Jahr 2007 in Heiligendamm die Steuerzahler rund 100 Millionen Euro. Er geht davon aus, daß G20 vermutlich das Doppelte oder Dreifache kosten werde. Selbstverständlich sei es wichtig, daß die Staats- und Regierungschef miteinander reden, so der Unionspolitiker. "Aber man muss sich über Möglichkeiten von Tagungsorten verständigen, wo nicht so ein immens verrückter Aufwand gemacht werden muss." [1]

Wie das chinesische Beispiel zeigt, ist die Kostenfrage nicht das einzige Problem. An den beiden Gipfeltagen ruft ein Linksbündnis zu einem "Dreiklang von Gegengipfel, Aktionen zivilen Ungehorsams und einer Großdemonstration" in Hamburg auf. Allein hier werden rund 100.000 Teilnehmer erwartet. Das Bundeskriminalamt rechnet auch mit Ausschreitungen. "Wir müssen davon ausgehen, dass eine erhebliche Klientel in Hamburg das Ziel haben wird, die Veranstaltung zu stören", sagte BKA-Präsident Holger Münch nichts Neues. Noch im April hatte Justizsenator Till Steffen (Grüne) betont, der Senat sei "einig" darin, keine Verbotszone auszuweisen. Zum Zeitpunkt dieser Äußerung wurde jedoch bereits an einem Dokument zur Verbotsverfügung gearbeitet. Steffen sei offenbar nicht eingeweiht gewesen, heißt es dazu in Polizeikreisen. Bis zuletzt hatten Vertreter der Polizei abgestritten, daß eine "blaue Zone" während des Gipfels geplant sei, in der das Versammlungsrecht ausgehebelt werde, aber zugleich betont, daß die Protokollstrecken abgesichert bleiben müßten.

Nun hat Hamburgs Innensenator Andy Grote ein großflächiges Demonstrationsverbot zum G20-Gipfel bekanntgegeben. Von dem Verbot betroffen ist eine nicht weniger als rund 38 Quadratkilometer große Zone zwischen Flughafen und Messehallen rechts und links der Alster. [2] "Ich kann den Gipfel sonst nicht sicher durchführen", so der Sozialdemokrat. Letztlich habe die Lageeinschätzung keine andere Möglichkeit ergeben, da ein breiter Korridor zwischen Innenstadt und Flughafen komplett freigehalten werden müsse, um allein 42 Personen mit hohen und höchsten Gefährdungsstufen, darunter US-Präsident Donald Trump, beschützen zu können. Man müsse aus einer Vielzahl von sicheren Routen für die Staatsgäste spontan wählen können. In der Praxis werde eine Kolonne vom Flughafen bis zur Innenstadt gut zehn Minuten unterwegs sein. Ohne ein Verbot müßten die friedfertigen und gewaltbereiten Demonstranten bei einer spontanen Aktion sehr schnell unterschieden werden, so die Argumentation. Das aber sei in der Realität unmöglich. Würde eine Kolonne zum Anhalten gezwungen, könnte die Situation eskalieren. Wegen der Protokollstrecken ist auch das geplante G20-Protestcamp im Stadtpark für Grote unvorstellbar. Er kündigte an, die jüngste Entscheidung des Verwaltungsgerichts anzufechten, die das Camp als politische Versammlung eingestuft hatte.

Um sich juristisch abzusichern, hat die Innenbehörde ihre Begründung des großflächigen Demonstrationsverbots auf 66 Seiten dezidiert ausgeführt. Grote rechnet mit Klagen bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Das linke Bündnis "Grenzenlose Solidarität statt G20" hat bereits Klage gegen die Verfügung angekündigt. Juristisch sei diese Aushebelung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit haltlos, sagte der Sprecher Yavuz Fersoglu. Offenbar war das Demonstrationsverbot auch in der rot-grünen Koalition über Monate umstritten. Vertreter der Grünen versicherten nun, sie hätten eine noch größere Verbotszone verhindert. Die jetzige Verfügung sei "nachvollziehbar, aber bitter", sagte die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Antje Möller. Während CDU und AfD in der Bürgerschaft die Entscheidung als nachvollziehbar lobten, bezeichnete die Innenexpertin der Linkspartei, Christiane Schneider, Grote als "überfordert" - der Senator wisse sich nur mit einem Ausnahmezustand zu helfen. Zudem warf sie dem grünen Justizsenator Till Steffen mit Blick auf seine Aussage vom April einen Wortbruch vor. [3]

Ein riesiges Aufgebot von 15.000 Polizisten soll beim G20-Gipfel in Hamburg eine sichere Abwicklung garantieren. Die Polizei kündigte an, sie werde vor allem auf den Protokollstrecken "sehr, sehr stark" präsent zu sein - auch mit Spezialeinheiten. Große Beachtung findet in diesem Zusammenhang ein offener, aber anonymer Brief eines Polizeibeamten, der auf der Facebook-Seite "Polizist=Mensch" die immensen Kosten des hochrangigen Treffens scharf kritisiert und der alltäglich erlebten Armut zahlloser Menschen gegenüberstellt. Bei der Facebook-Seite handelt es sich um keine offizielle Seite der Polizei. Sie will jedoch über das Thema Polizei und den "Menschen hinter der Uniform" informieren. Der Autor des Briefs ist den Betreibern nach eigenen Angaben bekannt.

Wie er selbst schreibt, sei er Ende 30 und mittlerweile seit über 15 Jahren bei der Polizei. Er habe einige Zeit der Bereitschaftspolizei seines Bundeslandes angehört und versehe derzeit seinen Dienst auf einem Stadtrevier im Streifendienst. Dabei habe er durchaus gelernt, mitunter auch gegen die eigene Überzeugung zu arbeiten, wenn er beispielsweise die Ablagerung von Atommüll durchsetze oder verfassungsfeindlichen Organisationen zu ihrem Recht auf Versammlung verhelfe. Er habe Gewalt "aus allen (un)politischen Richtungen erlebt", sei bei Einsätzen verletzt worden und habe "fast das ganze Programm bekommen, was man in diesem Beruf erleben kann". Der geplante G20 setze jedoch all diesen Dingen die Krone auf. Allein die Kosten, die vermutlich erst nach dem Gipfel abzusehen sein werden, seien eine einzige Frechheit. "Soll allein die GeSa (Gefangenensammelstelle) tatsächlich über vier Millionen Euro kosten? Ihr Ernst?"

Ich lade Sie gern ein, wenn Sie noch einen Programmpunkt zwischen teurem Essen und Konzertbesuch frei haben, mal eine Schicht im Streifendienst zu begleiten. Schauen sie sich gern Familien am Rande der Gesellschaft an, die wir in polizeilichen Einsätzen oft erleben. Die Menschen, die ohne Obdach auf der Straße (er)frieren, oder die, die sich beim Discounter um die Ecke eine Packung Toastbrot und Käse klauen, um den Kindern Brote für die Schule zu machen. Ist es tatsächlich ihr Ernst, solche Schicksale tagtäglich zu dulden, um an zwei Tagen Milliarden von Euro für Ihr belangloses Stelldichein zu verschwenden, die in unseren sozialen Systemen besser angelegt wären?

Wieder würden Millionen von Euro in Sachen Sicherheit in wenigen Tagen verheizt. Wie gut könnte man das Geld in den Pflegeeinrichtungen oder in der Flüchtlingsarbeit gebrauchen: "Bedenken Sie bei Ihren teuren Gängemenüs, dass täglich durchschnittlich 40.000 Kinder in Entwicklungsländern verhungern. Machen Sie sich mit vollem Bauch bewusst, dass es Ihre Aufgabe wäre, diesen Umstand zu ändern!"

Eine komplette Stadt wird lahmgelegt, damit Sie, liebe Staatschefs, Ihre Partner und Freunde, drei schöne Tage in der Hansestadt Hamburg verbringen. (...) Verraten Sie mir, welchen Durchbruch erwarten Sie auf Ihrer kleinen Klassenfahrt, dass man tausende Bürger in ihren Grundrechten einschränkt, Gewerbetreibenden finanzielle Einbußen zumutet und hunderte Menschen zeitweise in ihren Wohnungen einsperrt? Wie kommen sie darauf, die Grundrechtseingriffe und Maßnahmen, die sie den Bürgern zumuten und durchsetzen lassen, seien irgendwie verhältnismäßig, erforderlich oder sinnvoll? Wir wissen doch alle, dass Ihr Milliardenschwerer Ausflug keinen Konflikt der Welt entschärfen, keine Hungerkrise lösen und kein Heilmittel für eine tödliche Krankheit liefern wird.

Er sei nicht zuletzt deswegen zur Polizei gegangen, um "einfach mal da sein, wenn andere flüchten, in der Situation helfen" zu können.

Ich bin nicht zur Polizei gegangen um dafür zu sorgen, dass Menschen in überteuerten Anzügen noch teurer essen und Konzerte besuchen können, um das Ganze noch mit wichtigen politischen Anliegen zu rechtfertigen. Ihr Gelage erinnert mich bereits jetzt an Festlichkeiten in mittelalterlichen Burgen, während der gemeine Pöbel vor der erleuchteten Burg stehen muss. Ich finde es eine bodenlose Frechheit, wie ignorant dieses Treffen geplant und gegen den Willen Hunderttausender Menschen durchgesetzt wird. Ich kann nur hoffen, dass sich so etwas sobald nicht wiederholen wird.

Wer wollte dem widersprechen!


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article165349304/Anonymer-Wutbrief-Polizist-prangert-G-20-Gipfel-an.html

[2] http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/G20-Zwei-Meinungen-zum-Demonstrations-Verbot,hamburgkommentar132.html

[3] http://www.abendblatt.de/hamburg/article210860831/Ich-kann-den-Gipfel-sonst-nicht-sicher-durchfuehren.html

10. Juni 2017


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