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HERRSCHAFT/1786: Der linke Standpunkt - verwaschen und ausgedünnt ... (SB)



Auf dem Marktplatz in Dresden wird lautstark "Absaufen!" skandiert. Der Pegida-Redner, der sich über die Rettungsaktion der ebenfalls in der sächsischen Elbmetropole angesiedelten Hilfsorganisation Mission Lifeline ereifert, freut sich über das Echo des Publikums, das wie ein antiker Chor den Klartext seiner Rede vielstimmig zu Gehör bringt. Was am 25. Juni [1] geschah, kann als eines der vielen Zeichen dafür gelten, wie sehr Teile der Bevölkerung bereit sind zum Ergreifen von Maßnahmen, die hierzulande zuletzt vor 1945 mit breiter Zustimmung rechnen konnten. Die für Neue Macht, Neue Verantwortung [2] agitierte Nation läßt sich nicht lange bitten, wie anhand der stetig nach rechts driftenden Wahlergebnisse und Politiken leicht zu erkennen ist. Deutschland befindet sich im Vorkrieg, und fast alle machen mit.

Vorbei die Zeiten, als die Forderung der früheren AfD-Vorsitzenden Frauke Petry, die Bundespolizei solle bei illegalen Grenzübertritten notfalls von der Schußwaffe Gebrauch machen, empörte Reaktionen provozierte. Zweieinhalb Jahre später lädt die Wochenzeitung Die Zeit zur Pro-und-Contra-Debatte über die Frage, ob private Helfer Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot retten sollten. Angeblich Unausprechliches, als Verbotsforderung sogenannter politischer Korrektheit von Thilo Sarrazin und Konsorten seit Jahren beklagt, ist unter Intellektuellen und Journalisten längst wieder gesellschaftsfähig. "Man wird doch wohl noch sagen dürfen" ... das Gift rassistischer Stigmatisierung geriert sich unschuldig und harmlos als lautes Denken über Dinge, die in ihrem demagogischen Gehalt zu exponieren den KritikerInnen das Urteil anlastet, als Gesinnungspolizei zu fungieren.

Ob Menschen sehenden Auges die Hilfe in Seenot verweigert wird oder sie im angeblichen Handlungsnotstand an der Grenze erschossen werden, ist ein gradueller Unterschied. Das Für und Wider derartiger Maßnahmen öffentlich zu diskutieren, natürlich ohne Alternativen wie die Einrichtung sicherer Passagen oder die Abkehr von der Unterminierung der Lebensgrundlagen flüchtender Menschen durch neokolonialistische Politik aufzuzeigen, verschiebt die Normen der angeblich auf Menschenrechten und Demokratie errichteten Gesellschaftsordnung in Richtung jener nationalistischen Wagenburgmentalität, die schon früher beste Voraussetzungen für militärische Antworten bot.

Unter diesen Bedingungen weiterhin linke emanzipatorische Ideale zu propagieren heißt, von der Formierung um die Staatsmacht konkurrierender Mehrheiten Abschied zu nehmen. Der jüngste Aufguß eines rot-rot-grünen Regierungskonstruktes scheiterte auch deshalb, weil die Krise der Sozialdemokratie offenlegt, daß es für sozialreformerische Umverteilungspolitik keine herrschaftsadäquaten Gründe mehr gibt. Die langfristige Überakkumulation niedrig verzinsten Kapitals läßt sich nicht fortschreiben mit Sozialleistungen, die eine reale Umverteilung des Wohlstands inklusive des Anspruchs auf gutes Wohnen, vollwertige Ernährung, umfassende medizinische Leistungen und angemessene Altersversorgung realisierten. Eine solche Form des sozialpolitisch entschärften Kapitalismus legte schnell offen, daß die Schecks des Wohlfahrtstaates ungedeckt sind, weil die umfassende Verschuldung seiner Subjekte wesentliche Voraussetzung dafür ist, die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung mit dem mangelgenerierten Zwang zur Lohnarbeit zu reproduzieren. Wäre es anders und die Nachfrage steuerte tatsächlich das Angebot, dann müßten Millionen Menschen weltweit hungern, die sehr wohl über Nachfrage, aber keine Zahlungsmittel verfügen.

Nicht radikal genug, um die Herrschaft des Kapitals und rechtsbürgerlicher Ideologien frontal anzugreifen, heult auch die parlamentarische Linke bei allen achtenswerten Versuchen, emanzipatorische Positionen zu verteidigen, auf diese oder jene Weise mit den Wölfen. Wenn die Partei Die Linke versucht, mit einer angeblich linkspopulistisch befeuerten Parallelstruktur ihr Angebot an die WählerInnen zu erweitern, um sie nicht an diejenigen zu verlieren, die "Absaufen!" brüllen, dann zerlegt sie sich womöglich bis zur Unkenntlichkeit. Die Idee einer linken Sammlungsbewegung könnte auf kurzem Umweg in den Strudel des sozialdemokratischen Niedergangs führen. Wie die SPD liefe eine Linke, die der Suggestion frönte, neue Verteilungsspielräume durch einen sozial moderierten Neoliberalismus zu erwirtschaften, zielsicher auf Grund. Das hätte die Entsorgung verbliebener Potentiale im Parteienspektrum zur Folge, die der herrschenden Eigentumsordnung noch gefährlich werden könnten, was den Beifall herrschender Kreise zu einigen der Ansagen Lafontaines und Wagenknechts erklärt.

Auch die Abwesenheit einer Debatte, die das angebliche Problem flüchtender Menschen mit der wie selbstverständlich gewährten Reisefreiheit für EU-BürgerInnen in alle Welt kreuzte, verrät, daß neben der Sicherung neokolonialistischer Privilegien die Stärkung der EU im imperialistischen Konkurrenzkampf auf der Agenda hegemonialer Diskurse steht. Wo zum einen wortreich beklagt wird, daß Urlaubsreisende lange Wartezeiten auf den Flughäfen in Kauf nehmen müssen, bevor sie ihr ökologisch besonders destruktives Fortbewegungsmittel besteigen können, wird zum andern die akute Not von Menschen, die Gefahr laufen, den bereits 35.000 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtenden zu folgen, auf technokratisch und sicherheitspolitisch eindimensionale Weise beantwortet.

Auch weil über den karitativen Charakter der Flüchtlingshilfe hinaus nicht über kapitalistische Wachstumsorientierung und die imperialistische Bewirtschaftung der globalen Peripherie gesprochen wird [3], bleibt das Feld den Disputanten der Zeit überlassen. Zahlreiche linke und sozialökologische Positionen könnten angeführt werden, um für die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Entwicklung zum Besseren für alle Menschen zu argumentieren. Wie eindeutige Weichenstellungen in der medial-politischen Formierung mehrheitlicher Meinungen und Einstellungen belegen, zeichnet sich der Vorkrieg durch die wachsende Akzeptanz von Vorschlägen aus, in der die Rettung der eigenen Haut an die Vernichtung anderer Leben geknüpft ist. Der verfassungsrechtliche Schutz vor der Durchsetzung autoritärer Imperative in der konkreten Handlungs- und Maßnahmenagenda staatlicher Gewalt wurde bereits erheblich perforiert und nimmt in der bundesweiten Verabschiedung höchst repressiver Polizeiaufgabengesetze ebenso Gestalt an wie in der kaum mehr auf Widerstand stoßenden Dominanz sozialchauvinistischer Deutungsmacht.

Dementsprechend wird das Eintreten für Schwache und Verletzliche, für stimm- und gesichtslose Menschen zu einer Angelegenheit persönlicher Positionierung, für die keine Honorierung zu erwarten ist. Kommunisten sind Tote auf Urlaub, hieß es früher, und wer die niemals auszuschließende Möglichkeit neuer faschistischer Herrschaft schon nicht wahrhaben und bekämpfen will, tut dennoch gut daran, Deckung in vorauseilender Konformität zu suchen.


Fußnoten:

[1] https://www.heise.de/tp/features/Absaufen-Pro-und-Contra-4113231.html

[2] https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/projekt_papiere/DeutAussenSicherhpol_SWP_GMF_2013.pdf

[3] https://www.heise.de/tp/features/Warum-nicht-ueber-Seenotrettung-diskutieren-4110471.html

https://www.jungewelt.de/artikel/335149.der-m

19. Juli 2018


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