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HERRSCHAFT/1821: Arbeit - Lohn und Gewerkschaft rückwärts voran ... (SB)



"Europa. Jetzt aber richtig!" - wer im Aufruf des DGB zu den Kundgebungen am 1. Mai einen bedrohlichen Unterton vernimmt, liegt nicht ganz falsch. Schließlich hebt der Dachverband der deutschen Einheitsgewerkschaften auf einen Staatenbund ab, der seinen Einflußbereich auch militärisch zu erweitern versucht und in der Ukraine tatkräftig an einem Umsturz teilhatte, der maßgeblich von der nationalistischen Rechten vollzogen wurde. Daß dieser Staatenbund nicht bei seinem Namen Europäische Union benannt wird, sondern mit dem durchgängig verwendeten Begriff "Europa" zumindest symbolisch die Repräsentanz für den Kontinent inklusive seiner nicht zur EU gehörigen Staaten beansprucht, unterstreicht den imperialistischen Anspruch EU-europäischer Deutungsmacht.

Für diese vereinnahmt der DGB über 30 in Europa gelegene Staaten mit über 200 Millionen EinwohnerInnen, zu denen nach Vollzug des Brexit noch 65 Millionen BritInnen hinzukommen. Der Gewerkschaftsdachverband des Landes, das massiv von der sozialen Abwertungspolitik innerhalb der Eurozone und dem großen Produktivitätsgefälle innerhalb der EU profitiert, gibt sich mit der Devise, nicht zurück zur Krieg und Feindseligkeit hervorbringenden europäischen Kleinstaaterei zu wollen, fortschrittlich. Ohne auch nur im Ansatz zu kritisieren, daß die Befriedung des Binnenraums geostrategische und ökonomische Expansionsstrategien freigesetzt hat, die als Ausdruck der Hegemonie "Deutsch-Europas" weit mehr Durchschlagskraft besitzen als die einzelner Staaten, oder etwa den gigantischen Import von Agrarprodukten in Frage zu stellen, mit dem die kostengünstige Reproduktion der Arbeitskraft in der EU auf dem Rücken der LandarbeiterInnen und KleinbäuerInnen des Globalen Südens gesichert wird, erweist sich der DGB als Sachwalter eines weit auf das kapitalistische Weltsystem ausgreifenden Monopolkapitals.

Es ist dem neoliberalen Charakter eines Staatenbundes geschuldet, der seine Akkumulationsdynamik aus vier ökonomisch definierten Grundfreiheiten speist, die in krassem Gegensatz zur Immobilität von Millionen an den Grenzen der EU scheiternden Armuts- und Kriegsflüchtlingen stehen, daß die Ausbeutung durch Arbeit in der Bundesrepublik mit Hilfe von Leih- und Werkverträgen desto mehr um sich greift, als zur Sanierung krisengeschüttelter Unternehmen vor allem gut bezahlte Kernbelegschaften ausgedünnt und hochflexibel einzusetzende JobberInnen an ihre Stelle gesetzt werden. Wo der DGB die EU stark macht, ohne gegen die Vormachtstellung der großen Unternehmen und Konzerne zu kämpfen, setzt er auf eine Sozialpartnerschaft, die im Kern Klassenspaltung produziert. So wird Standortkonkurrenz betrieben, wo internationale Solidarität gefragt wäre, und unabhängige Gewerkschaften, die zu wilden Streiks aufrufen oder den transnationalen Streik propagieren, werden bekämpft.

Dabei hätten die DGB-Gewerkschaften allen Grund, vor der eigenen Haustür zu kehren und Rechenschaft über eine Zukunft der Lohnarbeit abzulegen, in der sie als Vertretung der ArbeiterInnen immer bedeutungsloser werden. So findet auf breiter Ebene eine Informalisierung der Arbeit durch den Plattformkapitalismus statt, bei dem das Internet zwischen Angebot und Kundschaft vermittelt, so daß die Zuständigkeit und Strukturen traditioneller Branchen wie die der TaxifahrerInnen wirksam unterlaufen werden. Elektronische Arbeitsvermittlungsagenturen bedienen sich am Rechner sitzender Clickworker und rekrutieren sie für Projektaufträge, die ohne jeden gewerkschaftlichen oder versicherungstechnischen Schutz zu Mindestpreisen verrichtet werden, die sich aus der plattformvermittelten Konkurrenz jeder gegen jeden ergeben.

Das mit hohem Innovationsdruck im Rahmen staatlicher Industriepolitik vorangetriebene Konzept Industrie 4.0 hebt zu einer neuen Qualität der Rationalisierung von Arbeit ab, mit der die Qualifikation von Menschen verrichteter Lohnarbeit systematisch unterlaufen wird. Wo die Automatisierung noch nicht weit genug vorangekommen ist, werden erwerbsabhängige LohnarbeiterInnen unter massiven Leistungsdruck gestellt und sind schon bei kleinen Fehlleistungen von Kündigung bedroht. Einem die Angestellten mit informationstechnischen Systemen lückenlos überwachenden und so den Arbeitsdruck anheizenden Monopolisten wie Amazon wurden in einem fünfjährigen Arbeitskampf nur kleine Zugeständnisse abgerungen, weil der Schutz der Investoren in "Deutsch-Europa" weit mehr politische und rechtliche Unterstützung genießt als der der Lohnabhängigenklasse.

Die am Horizont notgedrungener Begrenzung des Klimawandels aufscheinende Green Economy verheißt zwar mit der Zauberformel "Wachstum durch Effizienzsteigerung" die Aufrechterhaltung des herrschenden Akkumulationsregimes, steht aber vor dem Problem, daß die grünen Technologien aufgrund ihrer weniger verbrauchsintensiven stofflichen Basis nicht nur einen geringeren Durchsatz von Rohstoffen haben, sondern auch weniger menschlicher Arbeit bedürfen. Das Paradebeispiel der Produktion von E-Autos zeigt, daß die Fahrzeuge technisch weniger komplex sind, während die stofflichen Erfordernisse mit neokolonialistischen Praktiken der Rohstoffextraktion im Globalen Süden sichergestellt werden. Letzteres ist ein wesentliches Argument für militärische Interventionen in Afrika, ersteres höhlt die wertbildende Basis der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die Produktion von Mehrwert, aus.

Vor dem Hintergrund sich anbahnender Krisen unter anderem in der Staatenkonkurrenz mit den USA und China den weiteren Aufbau eines imperialistischen Staatenbundes zu propagieren und dabei, wie DGB-Chef Reiner Hoffmann, zu behaupten, daß die EU Wohlstand gebracht und Frieden gesichert habe, ist klassische Burgfriedenspolitik im neuen Gewand. Wie der Überfall der NATO auf Jugoslawien vor 20 Jahren und die wachsende Kriegsgefahr innerhalb Europas aufgrund der Herausforderung der Russischen Föderation durch die NATO-Staaten belegt, ist die EU allemal bereit, die Schwierigkeiten mit der Integration ihrer Mitgliedstaaten durch Aggression nach außen zu kompensieren. Gleiches gilt für die klassengesellschaftlich wie unter den 27 Mitgliedstaaten höchst selektive Reichtumsverteilung - daraus erstehende Sozialkonflikte werden mit einer mörderischen Flüchtlingsabwehr nach außen projiziert und bleiben im Innern der sozialchauvinistischen und rassistischen Propaganda der Neuen Rechten überlassen.

Von den Gewerkschaften wäre zu erwarten, daß ihre Forderungen zumindest theoretisch auf eine Klassenbasis abheben, die zwar nicht mehr der fordistischen Arbeiterklasse entspricht, aber in der Diversität spätkapitalistischer und postindustrieller Arbeitsformen, der millionenfachen Ausgrenzung eines Surplusproletariats als auch identitätspolitischer Kämpfe, anhand derer ebenfalls Klassenantagonismen ausgetragen werden, das Gemeinsame von Ausbeutung und Unterdrückung herausstellt und für neue Formen des Zusammenkämpfens mobilisiert. Nicht zuletzt wäre die historische Gelegenheit beim Schopf zu packen, anläßlich der sich schließenden Klammer von Naturverbrauch und Naturzerstörung über eine Neuformulierung der sozialen Frage etwa im Sinne eines ökosozialistischen Gesellschaftsmodells nachzudenken.

Wenn statt dessen die Verabsolutierung des Erhalts der Arbeitsplätze in fossilistischen Industrien wie der Braunkohleverstromung gepredigt wird, als gäbe es nicht auch andere Möglichkeiten, den betroffenen Kumpel ein angemessenes Erwerbsleben zu ermöglichen, dann müssen sich die Gewerkschaften nicht wundern, wenn sie rapide an gesellschaftlichem Einfluß verlieren. Wenn sich der Gewerkschaftsdachverband im Zentrum "Deutsch-Europas" am 1. Mai als Fürsprecher kriegerischer Expansionsstrategien und technologischer Rationalisierungsoffensiven präsentiert, stellt er sich objektiv nicht nur gegen die eigene Klassenbasis, sondern vor allem die der EU-Staaten, deren ArbeiterInnen als Flexibilitätsreserve und verlängerte Werkbank deutscher Kapitalinteressen fungieren. Damit werden zwar die Karrierechancen der Gewerkschaftsbürokratie gesichert, aber für die gesellschaftliche Relevanz der organisierten ArbeiterInnenvertretung ist so nicht einmal ein Blumentopf zu gewinnen, in dem man zumindest noch ein paar Kräuter für das frugale Mahl der Hartz-4-Küche ziehen könnte.

30. April 2019


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