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HERRSCHAFT/1830: Weltprobleme - Nationalgrenzen, Handlungsgrenzen ... (SB)



Die NPD fordert im Wahlkampf zum EU-Parlament die Schaffung von "Schutzzonen für Deutsche". Andere klagen darüber, daß "wir" im Eurovision Song Contest wegen eines Zählfehlers noch einen Platz nach hinten gerückt sind. Ob rassistischer Opfermythos oder enttäuschter Schlagerfan, in beiden Fällen scheint Klarheit darüber zu bestehen, wer dazugehört und wer nicht. Wer die rechtlichen Grundlagen konsultiert, stößt unter Paragraph 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) auf eine formalrechtliche Definition, die kaum befriedigen kann: "Deutscher im Sinne dieses Gesetzes ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt." [1] Das Studium weiterer Paragraphen des StAG führt zu der Erkenntnis, daß die einst vielbeschworenen Blutsbande ethnisch-kultureller Herkunft keine entscheidende Bedeutung mehr besitzen. Seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 geht eines aus der komplizierten Rechtsmaterie eindeutig hervor - Herr Schmidt und Frau Müller sind, wenn sie im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind, nicht mehr oder weniger Deutsche als Frau Özdemir oder Herr Yilmaz.

Für die häufig über Leben und Tod entscheidende Frage, wer dazugehört und wer draußen vor der Tür bleiben muß, ist die Staatsangehörigkeit zentral. Die direkten, mit dem Wiedererkennen der jeweiligen Person und der Kenntnis ihres Namens verbundenen sozialen Kontakte der meisten Menschen sind durch Lebenszeit, Erinnerungsvermögen und die Bewältigung der täglichen Aufgaben auf einige hundert Menschen beschränkt. Alles, was darüber hinausgeht, ist so abstrakt wie das Konzept der Nation als Bezeichnung für eine Gruppe, die sich über gemeinsame Kriterien wie das der Sprache oder des Territoriums definiert. Die damit einhergehende Behauptung, es mit einer homogenen Bevölkerung zu tun zu haben, kann schon dadurch widerlegt werden, daß die Mitglieder dieser Gruppe von einander ausschließenden Interessen bewegt sein und höchst unterschiedliche Lebensvoraussetzungen haben können.

So sagt der Sachverhalt, über eine bestimmten Staatsbürgerschaft zu verfügen, wenig mehr aus als daß dadurch bestimmte Rechtsansprüche definiert werden. Diese allerdings können von elementarer Bedeutung sein, kann die jeweilige nationale Zugehörigkeit doch darüber entscheiden, schon als Kind aus mangelbedingten Gründen sterben zu müssen oder die volle menschliche Lebenserwartung ausschöpfen zu können. In keinem Fall ist es ein persönliches Verdienst, in Deutschland geboren zu sein. Kein Kind sucht sich seine Eltern aus, und doch können daraus Feindseligkeiten erwachsen, die in Pogromen und Kriegen blutig ausgetragen werden.

So unterstellt das Kokettieren mit identitären Bezügen, die Aussehen und Namen betreffen, in der Regel eine sich als Mehrheitsbevölkerung empfindende Gruppe, der gegenüber andere Menschen als "ausländisch" oder "fremd" identifiziert werden. Wird diese Unterscheidung auf materielle Verteilungsprobleme und Konkurrenzverhältnisse angewendet, können daraus Feindbilder wie das des "Sozialschmarotzers" - O-Ton NPD - resultieren, der im Rahmen der "Einwanderung in die Sozialsysteme" - so der sich sozialtechnisch larvierende Jargon der bürgerlichen Mitte - zu seinem schändlicherweise ganz eigennützigen Ziel gelangt. Das Streben nach Wohlstand und Sicherheit wird der einen Person so selbstverständlich gewährt wie der anderen als Ausdruck illegalen Vorteilsstrebens angelastet.

Mit der von Thilo Sarrazin befürchteten Abschaffung der Deutschen und der daran anknüpfenden Behauptung, die Bevölkerung des Landes werde durch Flüchtlinge und Zuwanderer aus muslimischen Staaten ersetzt, wird ein autochthones Subjekt vorausgesetzt, das ethnisch und religiös eindeutig bestimmt ist. Was früher "Volksgemeinschaft" hieß und in einem blutigen Fanal und systematischen Genozid endete, mag seiner identitären Dimension durch formalrechtliche Definitionen noch so sehr entkleidet sein, dennoch erscheint das Bedürfnis nach nationaler, über den Personenkreis persönlich bekannter Menschen hinaus reichender Zugehörigkeit sich dem nüchternen Blick auf Probleme übergreifender Art wirksam zu entziehen. So schlägt die Erkenntnis, die Existenz aller Lebewesen bedrohenden Entwicklungen nur auf globaler Ebene entgegentreten zu können, nicht selten in das Argument um, daß ein einzelner Staat ohnehin nichts tun könne, wenn andere Staaten mit ihren destruktiven Praktiken fortführen. Wo Staaten als personale Rechtssubjekte auftreten, scheint sich die soziale Konkurrenz unter Individuen auf allerdings weit folgenreichere Weise zu wiederholen.

Ein Anfang zu internationaler Solidarität und kosmopolitischer Handlungsfähigkeit wäre gemacht, wenn der Mensch nicht mehr erklärt, Deutscher, Brite oder Franzose zu sein, sondern lediglich über die jeweilige Staatsbürgerschaft zu verfügen. Schon mit dieser sprachlichen Feinheit darauf zu verweisen, daß nationale Zugehörigkeit ein Rechtsakt und kein Seinsmerkmal ist, könnte daran erinnern, daß Menschen im Kern mit den gleichen Problemen konfrontiert sind und es keinen rationalen Grund gibt, diese dadurch zu vergrößern, daß sie dem jeweils anderen als moralische Verfehlung oder ökonomische Bringschuld aufgelastet werden. Nationale Zugehörigkeit und Identität aufzukündigen, um die Freiheit zu erlangen, die dadurch gesetzten Grenzen zugunsten einer den anstehenden Problemen gemäßen Handlungsfähigkeit hinter sich zu lassen, bedeutet nicht zu ignorieren, daß Nationalstaaten ein zentrales Handlungsfeld und Verfügungsinstrument sind. Dies ist aber auch nicht in Stein gemeißelt ist und muß nicht auf ewig so bleiben.


Fußnote:

[1] https://www.gesetze-im-internet.de/stag/BJNR005830913.html

24. Mai 2019


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