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PROPAGANDA/1333: Der Kapitalismus ist keine "Schönwetterveranstaltung" (SB)



Der von der rot-grünen Bundesregierung bewirkte Sozialabbau wurde gerne durch demagogisches Eindreschen auf die sogenannte Spaßgesellschaft vorangetrieben. Daß provokantes Amüsement und hemmungsloser Konsum schon damals eher ein Phänomen wohlhabender Eliten war, die sich in den Promi-Spalten des Boulevards zum Ergötzen Minderbemittelter auslebten, während den "Unterschichten" Elendskonsum Marke Big Brother und Konsorten verordnet wurde, änderte nichts daran, daß den Erwerbslosen mit Hartz IV auch einfachste Freuden, um von einer menschenwürdigen Beteiligung am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ganz zu schweigen, gestrichen wurden.

Mit dem Anschwellen der Zahl der Langzeiterwerbslosen kommen auf den Staat nicht nur Kosten zu, sondern er muß das Problem einer immer brüchiger werdenden Legitimationsbasis, auf der in dieser Gesellschaft Reichtum und Armut verteilt wird, lösen. Vor dem Hintergrund des aktiven Widerstands französischer Arbeiter gegen Stellenstreichungen und im Vorfeld des 1. Mais fühlt sich der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, denn auch bemüßigt, etwas für die Friedhofsruhe im Land zu tun. "Wir haben keinen Grund, uns große Sorgen über politische Unruhen zu machen", versichert er im Deutschlandfunk (27.04.2009) mit einer Blauäugigkeit, wie sie sich nur jemand leisten kann, der vorgibt, nichts über das Los von Menschen zu wissen, die auf dem harten Boden dieser Gesellschaft angekommen sind.

"Unser Sozialstaat (...) ist keine Schönwetterveranstaltung", tönt der SPD-Politiker unter Verweis auf Maßnahmen wie die Verlängerung der Kurzarbeit, sondern diene dem Schutz der Arbeitsplätze und dem Erhalt industrieller Strukturen. Verschenkt wird nichts, und von lauterer Menschenfreundlichkeit wird schon gar niemand satt, lautet die Ratio des "aktivierenden Sozialstaats", dessen Sachwalter bei Einführung der Agenda 2010 allerdings verschwiegen, daß sie beim "Fördern" an das Kapital und beim "Fordern" an die Lohnabhängigen dachten.

Von einer Verantwortung des Kapitals dafür zu sprechen, daß in einer Gesellschaft, die ihm als Werkzeug wie Werkstoff dient, jeder Mensch auch ohne Lohnarbeit Anspruch auf ein lebenswertes Leben hat, bleibt ihm doch angesichts der Totalität marktwirtschaftlicher Durchdringung gar keine andere Möglichkeit, geht Sozialdemokraten wie Oppermann allemal zu weit. Nachdem es um die Bezichtigung, jeder könne mit Lohnarbeit überleben, wenn er nur wolle, aufgrund der objektiv nicht mehr vorhandenen Arbeitsplätze leise geworden ist, wird der Sozialstaat vollends zum Wächter eines Kapitalismus erklärt, über dem die Sonne niemals untergehen soll.

Diese Begünstigung gilt nicht für die Masse der Menschen, die sich der herrschenden Verwertungsordnung vorbehaltlos zur Verfügung zu stellen haben. Das Feuer, das die Prosperität der Kapitaleigner erhält, ernährt sich von ihrer Substanz. Ihr Leben steht und fällt mit dem Betrieb der großen Maschine, der sie auch dann noch eingespeist werden, wenn weit und breit nichts vorhanden ist, das zum Erreichen des vorgeblichen Ziels einer Rückkehr in den Arbeitsmarkt beitrüge. Die bereits von einigen Politikern geforderten Leistungskürzungen für Hartz IV-Bezieher belegen, daß die Möglichkeit, von den Ärmsten zu nehmen, was bei den Reichen nicht angetastet werden soll, weil es angeblich in irgendein Investment fließen könnte, einkalkuliert und absehbar ist.

Wenn es also heißen wird, daß der Schutz der strukturellen und personellen Voraussetzungen kapitalistischer Verwertung Einsparungen bei unproduktiv erworbenen Einkommen erfordert, sollte dem letzten Lohnempfänger klargeworden sein, daß sein Leben so lange zur Disposition ihm feindlich gesonnener Interessen steht, als er die kapitalistische Entwicklungsdoktrin widerstandslos schluckt. Wo früher behauptet wurde, Erwerbslose müßten kürzertreten, um das Wachstum der Wirtschaft und damit die eigenen Chancen auf Erhalt eines vollwertigen Arbeitsplatzes zu fördern, da erklärt Oppermann heute, daß die Krise vielleicht etwas länger dauere, aber danach gäbe es wieder einen Aufschwung, an dem nur Länder teilhätten, denen industrielle Strukturen erhalten geblieben sind.

"Wir sind Deutschland" kann Lohnabhängige, die schon beim letzten Aufschwung bemerkt haben, daß er auf ihrem Rücken und nicht in ihrem Magen stattfand, kaum mehr davon überzeugen, daß diese Anleihe auf eine angesichts des historischen Ausmaßes der Krise ohnehin völlig ungeklärte Zukunft nicht erst recht von ihnen beglichen werden muß. So geht Oppermann darüber hinweg, daß die Ausweitung des Niedriglohnsektors als Maßnahme zur Begünstigung hochproduktiver Schlüsselindustrien konzipiert war, die unter anderem durch einen möglichst niedrigen Regelsatz bei Hartz IV ermöglicht wurde. Auf die Verwertungsinteressen des Kapitals zugeschnitten kann der Sozialstaat nur die Ausplünderung der Ewerbslosen und Lohnabhängigen betreiben, so daß weitere Kürzungen hier ebensosehr im Sinne der Bundeskanzlerin "systemrelevant" sind, als es die staatliche Refinanzierung großer Banken ist.

Mit der Krise der Autoindustrie schmilzt auch im hochproduktiven Kern der Deutschland AG der Speck relativ einträglicher Arbeitsplätze ab, so daß die übergroße Mehrheit der Bürger in absehbarer Zeit aus Empfängern von Versorgungsleistungen und Inhabern prekärer und unterbezahlter Jobs bestehen wird. Der mit Fähnchengeschwenke und WM-Euphorie erfolgreich ausgeblendete Klassenwiderspruch holt die Gesellschaft in der Krise allemal ein und wird zu verschärften Auseinandersetzungen um das Wenige führen, das dann noch zur Verteilung freigegeben wird. Was schon früher ganz im Gegensatz zur verbreiteten Legende kein Spaß war und heute mit dem unverhohlenen Vorwurf, es gäbe immer noch Leute, die den Sozialstaat für eine "Schönwetterveranstaltung" hielten, eng in den Griff der Mangelproduktion genommen wird, sind nicht nur die Lebenschancen, sondern vor allem der Zusammenhalt von Menschen, die als politisches Subjekt nicht auftauchen sollen.

Das Menetekel "politischer Unruhen" zielt auf die Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit derjenigen ab, die sich von den politischen Institutionen längst nicht mehr vertreten fühlen. So unterentwickelt ihre Fähigkeit, auf widerständige Weise in Erscheinung zu treten, sein mag, so real ist die Angst der Eliten davor, daß das atomisierte Gesellschaftssubjekt sich klar darüber wird, daß die Verhältnisse nicht so unberührbar sind, wie sie erscheinen.

29. April 2009