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PROPAGANDA/1368: Neujahrsansprache verwechselt ... wen interessiert's? (SB)



Weihnachts- und Neujahrsansprachen gehören zu jenen repräsentativen Aufgaben von Staats- und Regierungschefs, auf die sie keinesfalls verzichten können, selbst wenn es ihnen eine lästige Pflichtübung ist. Mit ihrem Adressaten wird einem Volkssouverän symbolisches Leben eingehaucht, der ein trübes Dasein als sinnentleerte Formel im Grundgesetz fristet, weiß er von sich selbst meist nicht einmal, daß er die maßgebliche Instanz jeder Demokratie sein soll. Wer den Jahresabschlußworten an den Radios und vor den Bildschirmen lauscht, ist daher nicht von Bedeutung.

Der große Unbekannte, der bestenfalls zu Wahlen in Erscheinung tritt, um ansonsten fast vollständig hinter seinen politischen Repräsentanten, die das Stück namens Demokratie weitgehend in Eigenregie produzieren, zu verschwinden, wird bei diesen Gelegenheiten ganz persönlich angesprochen, um ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Zusammenhalt zu wahren. Wie einseitig die Vermittlung von Regierungspolitik verläuft, wenn die von professionellen Autoren verfaßten Reden ohne Widerhall jenseits des Kurzschlusses von Politik und Medien durchs Land tönen, belegt auch das schon zum zweiten Mal erfolgte Versehen, daß eine Neujahrsansprache aus dem Vorjahr ausgestrahlt wurde.

Nach dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, mit dessen Rede dies zum Jahreswechsel 1986/87 geschah, darf sich nun der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck darüber freuen, daß seine Neujahrsansprache zumindest aus diesem Grund Beachtung findet. Sie wurde eine Stunde später nach Ausstrahlung der Vorjahresansprache gesendet, was SWR 1-Programmchef Harald Weiß mit "menschlichem Versagen" erklärte", von dem er eigentlich glaubte, "daß es bei einem so sensiblen Thema ausgeschlossen ist". Gleich zwei Personen, der für die Auswahl der Rede und der für ihre Ausstrahlung verantwortliche Mitarbeiter, hätten versagt, was nicht eben dafür spricht, daß die Neujahrsansprache des Regierungschefs unter den Journalisten des Senders für besonders wichtig gehalten wird.

Was den ehemaligen SPD-Chef, dem ein notorisches Defizit in Sachen publikumwirksames Auftretens nachgesagt wird, daran erinnert haben mag, wie er von führenden Mitgliedern der eigenen Partei kalt geschaßt wurde, wird als Petitesse unter Sonstiges rubriziert, weil die Inhalte dieser Festtagsreden häufig von einer Beliebigkeit sind, an die nur noch die Austauschbarkeit der sonntäglichen Glaubensindoktrination heranreicht. Die Mahnungen, Beschwichtigungen und Hoffnungen, die allesamt das gleiche Ziel der Sicherung herrschender Verhältnisse bei einem Minimum an bürgerlichem Aufbegehren verfolgen, treffen auf Menschen, denen es entweder so gut geht, daß sie keinen Grund dafür haben, den von ihnen geförderten Politikern auf die Finger zu gucken, oder denen es so schlecht geht, daß sie ohnehin nichts anderes als an ihren Problemen völlig vorbeigehende Wortdrechseleien erwarten.

Bei der amorphen Masse der unentschiedenen, in jeder Beziehung ambivalenten, weil sich systematisch jeder Stellungnahme, mit der man sie beim Wort nehmen könnte, enthaltenden Mehrheitsbevölkerung fallen Festtagsreden ohnehin auf einen Boden, aus dem keine Frucht erwächst, weil sie schon im Vorwege ihrer Aussaat verbraucht wurde. Auf in ihrer Unvereinbarkeit zwischen unterstellter Aktualität und zukünftigem Geschehen nach dem verkaufsträchtigen Motto "Ich bin doch nicht blöd" rhetorisch verdrehte Weise hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den sinnstiftenden Charakter der Aussicht darauf, daß sich alle Duldsamkeit eines Tages auszahlen wird, in ihrer Neujahrsansprache auf den Punkt der Belohnung für das, was die Bevölkerung nicht zu erstreiten wagt, gebracht: "Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, es gibt schon jetzt viele Ereignisse, auf die wir uns im kommenden Jahr freuen können: auf die Fußballweltmeisterschaft ...."

2. Januar 2010