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PROPAGANDA/1491: "Globalisierungsangst" - Im Labor der Politikberatung (SB)



Analog zum Vorwurf der "Lügenpresse" wird auch Meinungsforschungsinstituten gerne eine manipulative Verzerrung der Wirklichkeit angelastet. Wie bei der durchaus begründeten Beschwerde über sogenannte Mainstreammedien, eine von partikulären Interessen bestimmte Sicht auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen zu konstruieren, zeigen sich die Urheber dieses Vorwurfes einem nicht minder interessenbedingten Begriff von "Wahrheit" verpflichtet. Die Unterstellung, diese befreie die Menschen zu selbstbestimmtem Handeln und die Gesellschaft zu demokratischer Willensbildung, macht die Rechnung ohne den Wirt herrschender Gewaltverhältnisse. Diese nicht beim Namen zu nennen und auf vermeintlich objektive Fakten abzuheben, deren inhaltliche Gewichtung und terminologische Bestimmung niemals frei von ideologischen und weltanschaulichen Prämissen vorgenommen wird, ist das Geschäft des handelsüblichen Journalismus wie auch aller Formen der Politikberatung, die demoskopische Institute und sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtungen betreiben.

Bei der skrupulösen Textanalyse als "objektiv" ausgewiesener Artikel großer Tageszeitungen stößt man meist auf spezifische Deutungen empirisch abgesicherter Fakten oder stellt die wissentliche Unterschlagung wie das unwillkürliche Weglassen von Gesichtspunkten fest, für die es im methodologischen Arsenal des etablierten Journalismus keinen Platz gibt. So treten soziologische Deutungen, mit denen die Verhältnisse angeblich neutral beschrieben werden, an die Stelle des Herausarbeitens eines sozialen oder Klassenkonflikts, was generell als überkommen und aus der Zeit gefallen gilt. Es ist ein großer Unterschied, ob eine militärische Intervention als humanitär notwendig dargestellt oder denjenigen Stimmen Raum gegeben wird, die auf die imperialistischen Beweggründe einer kriegerischen Aggression hinweisen. Bei der Schilderung sozialer Malaisen ist keineswegs miteinander austauschbar, ob die Sanktionierung im Leistungsbezug legalistisch als Folge individuellen Fehlverhaltens gedeutet oder in den größeren Zusammenhang kapitalistischen Krisenmanagements gestellt wird.

Der gegen Meinungsforschungsinstitute gerichtete Vorwurf, bei "überraschenden" Wahlentscheidungen wieder einmal versagt zu haben, als sie die schlußendlich unterlegene Kandidatin vorab als chancenreichste Bewerberin um das Präsidentenamt propagierten, unterstellt einen Grad an Determiniertheit gesellschaftlicher Verhältnisse, der den gleichzeitig erhobenen Anspruch auf freie demokratische Willensbildung ad absurdum führt. Der Vorwurf läßt aber auch ahnen, daß es keineswegs ausschließliche Aufgabe demoskopischer Befragungen ist, gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden. Jeder Vorhersage liegt der Versuch zugrunde, die prognostizierte Entwicklung festzuschreiben, sonst handelte es sich um eine bloße Mutmaßung, die nur für das Wettbüro taugte. Zu behaupten, man messe lediglich allgemeine Einstellungen zu einem bestimmten Zeitpunkt im Wahlkampf, unterschlägt die dadurch in Gang gesetzte Praxis, sich der prognostizierten Entwicklung adäquat zu verhalten.

Ein klassisches Beispiel dafür sind antidemokratische Sperrklauseln wie die Fünf-Prozent-Hürde in Deutschland. Läuft eine Partei Gefahr, diese nicht zu überwinden, dann können Wahlentscheidungen revidiert werden, um die eigene Stimme nicht zu entwerten. So standardisiert die Fragen der Wahlforscher sein mögen, kann doch schon die Zusammensetzung der für ein repräsentatives Ergebnis befragten Gruppe ein jeweils unterschiedliches Ergebnis erbringen. Selbst wenn die Annäherung an das offizielle Wahlergebnis bei Umfragen vor dem Urnengang groß ist, muß das kein Beweis für die ausschließlich prognostische Qualität des Verfahrens, sondern kann im Gegenteil dem Mechanismus der selbsterfüllenden Prophezeiung geschuldet sein. Die vermeintlich klare Orientierung an Ursache und Wirkung verkehrt sich im Falle prognostischer Aussagen zwar nicht unbedingt in ihr Gegenteil, bleibt aber auf der Strecke zahlreicher Wechselwirkungen, die durch die mediale Resonanz, die die Wahlforschung erhält, erhebliche Eigendynamik entfalten.

Wären moderne Industrie- und Konsumgesellschaften nicht in hohem Maße sozialtechnokratisch formiert und orientierten sich Wahlen ausschließlich am programmatischen Anliegen, das auf demokratische Weise politisch realisiert werden soll, dann erlebten die Geld- und Funktionseliten in Staat und Gesellschaft eine Überraschung nach der anderen. Eben das soll in der repräsentativen Demokratie weitgehend unterbunden werden, angeblich um das sozial und ökonomisch sinnvolle Funktionieren des Staates zu gewährleisten. Das gilt auch für die erwünschte Kontinuität bestimmter Interessen, wäre doch das Erlangen der absoluten Mehrheit einer Partei, die die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die zentrale Planung der Ökonomie durchsetzt, Anlaß zum Verhängen des Ausnahmezustands.

Das Augenmerk auf das zu richten, was bei demoskopischen Umfragen weggelassen wird, empfiehlt sich besonders bei so wolkigen Aussagen wie derjenigen, daß in Europa "Globalisierungsängste die treibende Kraft hinter der populistischen Revolte" seien. Im konzeptionellen Entwurf einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung vor die Alternative "Globalisierungsangst oder Wertekonflikt?" [1] gestellt, bleiben für das angestrebte Untersuchungsergebnis "Wer in Europa populistische Parteien wählt und warum" relevante Motive ausgeblendet. Ganz dem neoliberalen Gesellschaftsverständnis des einflußreichen Think Tanks gemäß werden die Bevölkerungen Europas auf zwei Grundorientierungen reduziert, den "Wunsch der Menschen nach Ordnung und Stabilität im Gegensatz zu Flexibilität und Wandel".

Nun ist es kein Geheimnis, daß "Flexibilität und Wandel" zentrale Kriterien der permanenten Umwälzung der Produktionsverhältnisse im Kapitalismus und gerade keine Attribute eines Systembruches sind. Im klar umrissenen Duopol von Staat und Kapital soll gerade aus diesen Prozeßeigenschaften "Ordnung und Stabilität" generiert werden. Die neofeudale Eigentumsordnung ist bei aller eingeforderten Wandlungsfähigkeit ihrer sozialen Verhältnisse eben so stabil, wie es ihre sozialtechnokratische Steuerung, für die die Bertelsmann-Studie ein exemplarisches Beispiel bietet, ermöglicht. Schließlich soll das neoliberale Credo von der "kreativen Zerstörung" keine grundstürzende revolutionäre Entwicklung in Gang setzen, sondern den Menschen so sehr in Ungewißheit über seine Lebensverhältnisse stürzen, daß er seine ganze Energie darauf verwendet, den Anforderungen der sich rasch verändernden Arbeitswelt zu genügen.

Wie etwa der Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran und Irak durch die strategische Schwächung zweier aufstrebender Mittelmächte für regionale Stabilität im Sinne des westlichen Imperialismus sorgte, so gewährleistet die Verunsicherung und Spaltung der Lohnabhängigenklasse ihre Funktionsfähigkeit im Sinne der herrschenden Ordnung. Bei dem in der Bertelsmann-Studie aufgemachten "Gegensatz" handelt es sich um Zustandsbeschreibungen komplementärer Art, deren gesellschaftspolitische Funktionalität sich aus ihrem Prozeßcharakter und nicht ihrer statischen Festschreibung ergibt. Als lachender Dritter bleibt übrig, wer es versteht, opponierende Kräfte so kunstfertig gegeneinander auszuspielen, daß die daraus resultierende Harmonisierung im Grundsatz unüberwunden bleibender Widersprüche auch noch als Werk der von diesem Manöver Betroffenen erscheint.

Gleiches gilt für die Gegenüberstellung von "Globalisierungsangst oder Wertekonflikt", bei der die Extremismusdoktrin des Staatsschutzes Pate steht. Zu begreifen, daß Wertefragen für die Attraktivität populistischer Ansagen nicht entscheidend seien, setzt die tautologische Verwechslung des damit gemeinten Spektrums an politischen Einstellungen zwischen liberal und konservativ mit als populistisch markierten Forderungen voraus. Daß die sogenannte politische Mitte Positionen eingemeindet hat, die früher als rechts- und nationalkonservativ galten, wird zugunsten der Operation, die politischen Ränder rechts und links als gefährliche Abweichung von der staatstragenden Norm zu brandmarken, unterschlagen. Konventionelle politische Einstellungen spielen deshalb eine so geringe Rolle beim Übertritt etwa von Unionschristen und Sozialdemokraten zur AfD, weil diese durch das neoliberale Akzeptanzmanagement so inhalts- und begrifflos geworden sind, daß ihnen die genuin sozialchauvinistischen und nationalkonservativen Angebote der AfD schlichtweg glaubwürdiger erscheinen.

"Globalisierungsangst" schließlich fungiert als Chiffre für die psychologisierende Herabsetzung von Menschen, die sich ihrer systematischen Enteignung und Verschuldung wie der rabiaten Privatisierung verbliebener Schutzgarantien der Daseinsvorsorge nicht widerstandslos überantworten wollen. Daß sie dabei feindselige Einstellungen gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten entwickeln, ist nicht nur das Verdienst von AfD und Pegida. Dieser Boden wurde durch die sogenannten Volksparteien bereitet, die der Ökonomisierung und Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse ebenso zugestimmt haben wie der imperialistischen Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen in der globalen Krisenkonkurrenz.

Was völlig außen vor bleibt bei der soziologischen Zurichtung der Bevölkerung nach Maßgabe der Bertelsmann Stiftung ist jeder Gedanke daran, daß Menschen selbstbestimmt leben wollen und autonom Widerstand leisten können. So beschreibt "Angst" einen ausschließlich defensiven und reaktiven Zustand, den Menschen vorziehen, die nichts lieber wollen, als daß andere über sie verfügen. Um von anwachsendem Zorn nicht reden zu müssen und das Potential streitbarer Emanzipation ignorieren zu können, werden Menschen ad hoc entmündigt, um im Zweifelsfall auf das orientiert zu werden, was angeblich gut und richtig für sie ist. "Liberaler Paternalismus" ist eben kein Widerspruch in sich [2].

Dankenswerterweise macht die Bertelsmann-Stiftung kein Hehl daraus, wes Geistes Kind sie ist. "Wir dürfen das Werben um besorgte Bürger nicht den Populisten überlassen. Die etablierten Parteien müssen die Angst vor der Globalisierung in ihre Arbeit einbeziehen", fordert ihr Vorstandsvorsitzender Aart De Geus [3]. Coautorin Isabell Hoffmann sekundiert mit dem hilfreichen Vorschlag, das Ergebnis als "Hoffnungsschimmer für die Politik" zu verstehen, "denn Angst lässt sich leichter auflösen als fest zementierte Werte". Den Anlaß der diagnostizierten Angst einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und die reaktionäre Wende in Sicht auf herrschende Politikangebote zu untersuchen - Fehlanzeige auf ganzer Linie.

Im Labor einer Politikberatung, die als informelle PR-Abteilung des global operierenden Medienkonzerns gleichen Namens fungiert, wird statt dessen die umfassende Verfügbarkeit der von Lohnarbeit und Sozialtransfers abhängigen Bevölkerung in den Blick künftigen Krisenmanagements genommen. Indem die Autorinnen Catherine De Vries - als Young Global Leader vom World Economic Forum [4] zu Höherem auserkoren - und Isabell Hoffmann der Politik enge Grenzen setzen, dementieren sie die Möglichkeit demokratischer Intervention ganz nach Maßgabe des populistischen Aufbegehrens, das sie entschärfen wollen:

"Politisch ist es leichter, die Migrationspolitik zu ändern, als bei wirtschaftlichen Themen eine Kehrtwende einzuleiten. Regierungen, die Fragen der gerechten Verteilung oder die Regelung technischer Fortschritte in den Griff bekommen möchten, würden nicht nur den Druck seitens der Industrie zu spüren bekommen, sie sähen sich auch einer gefährliche Kombination aus hohen Sozialbudgets, niedrigen öffentlichen Einnahmen und einer ungünstigen demografischen Entwicklung gegenüber, die nicht viel Spielraum lässt."

Flüchtlinge draußen lassen und sich keineswegs im Grundsatz mit der Verteilungslogik und der Rationalisierungsoffensive der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft auseinandersetzen - um diese Agenda zu plazieren, wurde mit der Studie ein großer Bogen geschlagen. Die Mahnung, daß sich die Politik dennoch um diejenigen kümmern müsse, "die durch die Veränderungen mehr verlieren als gewinnen", ist an einen Politikbetrieb adressiert, dem die Bertelsmann Stiftung als einflußreicher Akteur auf dem Feld einer Bildungspolitik zur Seite steht, die ganz den Zielen nationaler Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung verpflichtet ist. Zu kritischem Denken und autonomer Handlungsfähigkeit zu ermutigen gehört nicht ins Curriculum einer Pädagogik, die der Optimierungslogik und Effizenzsteigerung eines betriebswirtschaftlichen Masterplans verpflichtet ist, in dem der Bevölkerung die Aufgabe zukommt, als Verfügungsmasse für Krieg und Fabrik zu fungieren.

Wo "Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und Einkommen am meisten dazu neigen, Globalisierung als Bedrohung zu betrachten", gilt es, die "Risiken, denen diese Menschen ausgesetzt sind, abzuschwächen, (...), um die politische Situation in Europa zu beruhigen und um populistische Parteien zurück zu kämpfen". Im Sinne der zuvor ausgeführten engen Bedingtheit sozialpolitischer Möglichkeiten kann das nur als Empfehlung verstanden werden, die herrschaftsförmige Zurichtung der Bevölkerung nicht den Rechten zu überlassen, sondern in die eigenen Hände zu nehmen. Mit welchen Mitteln und Methoden dies geschehen kann, davon legt die Studie der Bertelsmann Stiftung beredtes Zeugnis ab.


Fußnoten:

[1] https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/EZ_eupinions_Fear_Studie_2016_DT.pdf

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1710.html

[3] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-11/globalisierung-bertelsmann-stiftung-bedrohung

[4] http://www.politics.ox.ac.uk/academic-faculty/catherine-devries.html

5. Dezember 2016


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