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PROPAGANDA/1509: Rechtspopulismus - Konjunktur neurechter Haltungen ... (SB)



Wir erleben in den letzten Jahren in einigen Bevölkerungsschichten einen Rechtsruck, der einhergeht mit der Vorstellung einer deutschen Identität, der irgendwelche natürlichen Merkmale unterstellt werden, die sie scheinbar von anderen Völkern unterscheiden, denen eine andere Natur zugeschrieben wird.
Andreas Zick (Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung) [1]

Deutsche Regierungspolitik zeichnet sich seit Jahren durch die Demontage des Sozialstaats, den Ausbau des repressiven Arsenals und einen ökonomischen wie auch zunehmend militärischen Führungsanspruch aus. Die Exportstärke ist mit dem größten Niedriglohnsektor eines entwickelten Industriestaats erkauft, die Agendapolitik hat ein Regime der Verarmung, Ausgrenzung und Befriedung etabliert. In diesem Klima der Zurichtung und Spaltung gedeihen Konkurrenzstreben, Sozialrassismus und Nationalismus, so daß ein Erstarken der Rechten die geradezu zwangsläufige Folge ist. Zudem wurde der aufkommende Rechtsextremismus lange ausgeblendet, verharmlost oder von den Geheimdiensten instrumentalisiert. Pogrome gegen Flüchtlingsunterkünfte, mindestens 170 aus mutmaßlich rassistischen Gründen getötete Menschen seit dem Anschluß der DDR und die Mordserie des NSU sind nur die deutlichsten Zeichen einer Verschiebung der gesellschaftlichen Mitte nach rechts, der unsägliche Bestsellerautor Thilo Sarrazin führte den Chor der ideologischen Brandstifter im bürgerlichen Milieu an.

Während die antikapitalistische und staatskritische Linke stets das Feindbild der herrschenden Ordnung ist, gilt das nicht gleichermaßen für die Rechte. Sie bleibt eine Option für den Fall der nicht mehr zu bändigenden Krise und erfüllt bereits in deren Vorfeld die wichtige Funktion, Potentiale von Wut und Protest in Bahnen zu lenken, die sich nicht gegen Eigentum, Staat und Herrschaft wenden. Identitätspolitik als Kernelement der neuen Rechten nimmt den Charakter eines Allzweckwerkzeugs an, da sich mit ihrer Hilfe der starke Staat nach innen und außen ebenso begründen läßt wie jegliche Drangsalierung und Ausgrenzung für nicht zugehörig erklärter Bevölkerungsteile. Auf diese Weise droht die massenhafte Verelendung und Entwürdigung nicht in eine Erhebung gegen die Urheber und Nutznießer dieser gesellschaftlichen Verhältnisse umzuschlagen, sondern findet ein Ventil in Übergriffen gegen Schwächere aller Art, denen deutsche Identität abgesprochen wird.

Unter diesen Voraussetzungen können die Ergebnisse der neuen Mitte-Studie nicht überraschen, die vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt worden ist. Seit 2002 erstellen sowohl das IKG als auch eine Arbeitsgruppe der Universität Leipzig eigene Studien zu rechtsextremen und menschenfeindlichen Einstellungen in Deutschland. Die alle zwei Jahre erscheinende Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt es seit 2006 - bis 2012 in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig, seit 2014 in Kooperation mit dem IKG, wobei jede Erhebung eigene Schwerpunkte setzt. Für die aktuelle Studie wurden 1890 deutsche Staatsbürger telefonisch nach ihrer Zustimmung zu bestimmten Aussagen befragt. [2]

Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluß, daß in Deutschland heute rechtspopulistische Einstellungen tiefer verankert als noch vor wenigen Jahren sind, weshalb sie vor einer "Verfestigung und Normalisierung rechter Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft" warnen. So hegt jeder Zweite Vorbehalte gegenüber Asylbewerbern, jeder Vierte stimmt abwertenden Aussagen über Sinti und Roma zu und jeder Fünfte der Befragten befürwortet fremden- und muslimfeindliche Einstellungen. Ein Drittel stellt der Studie zufolge gleiche Rechte für alle in Frage.

In Widerspruch dazu scheint auf den ersten Blick das Ergebnis zu stehen, daß ein Großteil der Befragten dennoch demokratische Prinzipien gutheißt und eine "Vielfalt der Gesellschaft" befürwortet. Diese Diskrepanz interpretieren die Autoren dahingehend, daß sich vordergründig eine hohe Zustimmung zur Demokratie findet, diese aber gleichzeitig von antidemokratischen und antipluralistischen Überzeugungen begleitet wird: "Die Mitte verliert ihren festen Boden und ihre demokratische Orientierung." In der aktuellen Studie wurden erstmals auch Fragen zu Verschwörungstheorien gestellt. Demnach glauben 46 Prozent der Befragten, daß geheime Organisationen politische Entscheidungen beeinflussen, und über die Hälfte ist davon überzeugt, daß ein Meinungsdiktat in Deutschland herrsche. Jeder Vierte geht zudem davon aus, daß Medien und Politik gemeinsame Sache machen. [3]

Drei Gruppen fallen besonders auf: AfD-Wähler, Gewerkschaftsmitglieder und junge Menschen. Die Anhänger der AfD zeigten eine "deutlich häufigere Zustimmung zu menschenfeindlichen Einstellungen", was zu erwarten war. Gewerkschaftsangehörige stimmten zu 16 Prozent rechtsextremen Aussagen zu, während das nur für neun Prozent der Nicht-Gewerkschaftsmitglieder gelte. Dies deckt sich mit anderen Untersuchungen, wonach vor allem in einigen ostdeutschen Bundesländern rechtes Gedankengut in Gewerkschaften auf dem Vormarsch ist. Die Jüngeren in der Gesellschaft seien in der Vergangenheit "weniger menschenfeindlich und rechtsextrem eingestellt" gewesen als Ältere, doch das ändere sich jetzt. Die Jungen "ziehen bei einer Reihe von Abwertungen und Dimensionen rechtsextremer Einstellungen nach". [4]

Wenngleich sich die Zustimmung zu offen rechtsextremen Aussagen auf relativ niedrigem Niveau von zwei bis drei Prozent bewegt, ist das kein Grund zur Entwarnung. Denn die "weicheren rechtspopulistischen Einstellungen" sind weiterhin stabil und somit in der Mitte der Gesellschaft normaler geworden, was im Osten häufiger als im Westen zu beobachten ist. Sogenannte neurechte Einstellungen finden mittlerweile deutlichen Zuspruch, "der offene, harte Rechtsextremismus wird durch moderne Formen abgelöst, darin steckt aber das alte völkische Denken", sagt die Co-Autorin der Studie Beate Küpper von der Hochschule Niederrhein. Laut der Studie glauben Neurechte an das "Leitbild eines vorherrschenden einheitlichen deutschen Volkes und rufen zum Widerstand gegen Politik und Eliten auf".

Dabei fließen rechtspopulistische, neurechte und rechtsextreme Einstellungen empirisch so eng zusammen, daß sie kaum mehr voneinander zu trennen sind. Da diese Gemengelage auf den ersten Blick nicht leicht als rechtsextrem zu erkennen ist, verlegten sich strategische Akteure darauf, neurechte Varianten zu verbreiten. Diese Einschätzung scheint inzwischen auch das Bundesamt für Verfassungsschutz zu teilen, dessen Präsident Thomas Haldenwang kürzlich vor neuen Entwicklungen in der rechtsextremen Szene gewarnt hat. Das BfV registriere eine "intensivierte Vernetzung unterschiedlicher rechtsextremistischer Gruppierungen", sagte Haldenwang. Die Grenzen zwischen rechtsextremistischen Kreisen und dem Protestbürgertum würden zunehmend verschwimmen. [5]

Wie Institutsleiter Andreas Zick bei der Vorstellung der Studie "Verlorene Mitte - Feindselige Zustände" hervorhebt, können die dabei ermittelten Auffassungen mit einer höheren Gewaltbilligung und Gewaltbereitschaft und damit einer Verrohung der Gesellschaft einhergehen. "Lippenbekenntnisse zur Demokratie werden nach der Studie nicht reichen." Es brauche mehr Demokratiebildung, Arbeit gegen Vorurteile und weniger Verharmlosung von menschenfeindlichen und demokratiemißachtenden Meinungen. Das sind jedoch weder neue Erkenntnisse, noch liegt ihnen eine Analyse zugrunde, die über reflektierende Empirik hinaus Aufschluß darüber geben könnte, aus welchen Gründen und auf welche Weise der bürgerliche Staat einer Identitätspolitik Vorschub leistet und damit der neuen Rechten das Feld bereitet, die seine Essenz nur in noch schärferer Form servieren will. Daß man zwar vieles verlieren, sich aber um so mehr daran aufrichten kann, ein Deutscher zu sein, haben als materielle wie ideologische Klammer der Eliminierung emanzipatorischen Widerstands gegen nationale wie globale Ausplünderung, Ausbeutung und Zurichtung nicht die Rechten erfunden.


Fußnoten:

[1] faktenfinder.tagesschau.de/inland/rassismus-105~_origin-a63c94c8-4eb7-44cf-bcdc-dbe6e842d980.html

[2] www.tagesschau.de/inland/mitte-studien-101.html

[3] www.deutschlandfunk.de/mitte-studie-demokratische-orientierung-geht-verloren.1939.de.html

[4] www.tagesspiegel.de/politik/mitte-studie-jeder-zweite-deutsche-hat-vorbehalte-gegenueber-asylsuchenden/24251866.html

[5] www.welt.de/politik/deutschland/article192427319/Rechtspopulismus-Jeder-zweite-Deutsche-negativ-gegen-Asylsuchende-eingestellt.html

25. April 2019


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