Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/0936: Hartz IV als Instrument der Herrschaftsicherung im Kern unbeschadet (SB)



Die fünf Jahre "Fördern und Fordern", die mit der Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialhilfegesetzgebung im Rahmen der rot-grünen Agenda 2010 ihren Lauf nahmen, bleiben in den Augen ihrer Urheber eine Erfolgsgeschichte. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen nach SGB II wird diese nicht beenden oder gar umkehren, sondern das mit Hartz IV in Stellung gebrachte Instrumentarium autoritärer Bevölkerungskontrolle optimieren. Daß es der richterlichen Bestätigung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bedarf, wird dementsprechend nur sehr bedingt als Ohrfeige für die rot-grünen Urheber dieser sogenannten Reform verstanden. Weiter wie bisher, lautet die nun ausgegebene Devise, und das am Besten unter Inanspruchnahme innovativer Methoden der autoritären Zurichtung des "unproduktiven" Teils der Bevölkerung.

So wird in kaum einem der zahlreichen Interviews mit den staatlichen wie karitativen Funktionären der Arbeitsgesellschaft auf die Frage verzichtet, ob es nicht möglich wäre, den durch die bisherige Bemessung des Regelsatzes besonders benachteiligten Kindern mit Sachleistungen aufzuhelfen, anstatt ihren Eltern Geldmittel an die Hand zu geben, die diese für andere, womöglich unheilige Zwecke verwendeten. Die Kampagnen in Politik und Medien, mit denen den Empfängern des Arbeitslosengeldes 2 betrügerische und parasitäre Vorteilsnahme angelastet wurde und wird, haben das Ziel, arbeitsfähige Leistungsempfänger unter Generalverdacht zu stellen, nicht verfehlt. Die jeder Grundlage bis auf eine kleine Zahl von Fällen, die sich auch in bessergestellten Familien finden, entbehrende Impertinenz, mit der Eltern vorgehalten wird, sich nicht angemessen um ihre Kinder zu kümmern, könnte den sozialchauvinistischen Charakter des Hartz IV-Regimes nicht besser dokumentieren.

Auch die von Unionspolitikern nun ins Gespräch gebrachte Senkung der Regelsätze bei stärkerer Berücksichtigung individueller Notlagen zeigt, daß man keineswegs gewillt ist, den mit repressiven Maßnahmen erreichten Stand billiger Arbeitskosten preiszugeben. Doch selbst eine Erhöhung der Regelsätze wäre ein Pyrrhussieg, wenn man die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung in Anspruch genommene Menschenwürde beim Wort nimmt. "Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", heißt es in dem herangezogenen Art. 1 Abs. 1 GG. Wie ist dies in Einklang zu bringen mit entwürdigenden und erniedrigenden Kontrollen, bei denen eigens dafür eingestellte Sozialdetektive die Wohnungen von Leistungsempfängern inspizieren? Wie verträgt sich dieser hehre Grundsatz mit Zwangsmaßnahmen, die abzulehnen das vom BVerfG formulierte "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" und die Zusicherung derjenigen materiellen Voraussetzungen, die für die "physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind", in Frage stellt, um von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Wahl der Arbeit und des Berufs gar nicht erst zu reden? Wie lassen sich die Bewegungsfreiheit einschränkende Auflagen zur Arbeitssuche mit ansonsten selbstverständlichen bürgerlichen Freiheiten zum sozialen und politischen Engagement verbinden? Wie ist es um die Würde von Menschen bestellt, die sich nicht mehr, von äußeren Zwängen unbelastet, zusammentun können, weil sie als "Bedarfsgemeinschaft" für den Lebensunterhalt eines Partners in Pflicht genommen werden, der keine Arbeit mehr hat und in einem System, das Lohnarbeit systematisch vernichtet und die Anforderungen an die Vorleistungen der Bewerber stetig steigert, auch keine mehr bekommen wird?

Das vom BVerfG bekräftigte Sozialstaatsprinzip beruht nicht auf christlicher Nächstenliebe oder neoliberalem Mäzenatentum. Es ist aus der gewünschten, mit allen staatlichen Mitteln erwirkten Alternativlosigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung geboren. Sie läßt dem Menschen, der sich nicht auf produktive Rentabilität trimmen läßt, weil er dazu nicht in der Lage ist oder nicht mehr gebraucht wird, keine andere Wahl als von dem volkswirtschaftlich erwirtschafteten Gesamtprodukt zu leben. Ohne umfassende staatliche und gesellschaftliche Voraussetzungen administrativer, infrastruktureller und soziokultureller Art wären die "Leistungsträger" zwar von ihrer Last befreit, aber auch so arm wie die hinter ihnen herfegenden Niedriglohnjobber. Der in der Bundesrepublik und der EU erreichte Produktivitätsstand ist das Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Leistung und nicht einiger Manager oder Kapitaleigner, die dieses Gemeinwesen nach ihren Interessen formen und auch noch unterwürfigste Dankbarkeit von denjenigen verlangen, die sie überflüssig gemacht haben und die nun vom Gnadenbrot der Wohlstandsakkumulation zehren.

Mit dem Prinzip des "Förderns und Forderns" hat die rot-grüne Bundesregierung den Schritt über eine Sozialstaatlichkeit, die die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung zugunsten der gesellschaftlichen Kohäsion austarieren sollte, hinaus in ein System der Gratifikation und Sanktion getan, in dem der Erwerbslose und Arbeitsunfähige den Beweis seiner Anpassungs- und Leistungsbereitschaft erbringen muß, wenn er überleben will. Immer mehr in Deutschland lebende Menschen leiden darunter, daß ihre materielle Reproduktion nicht mehr gewährleistet ist, und zwar nicht aufgrund ihres mangelnden Einsatzes, sondern unternehmerischer Entscheidungen zur maschinellen Rationalisierung des Produktionsprozesses, zu seiner Auslagerung in Billiglohnländer und zur Kostensenkung im Personalbereich. Indem sie unter dem Vorwand, man wolle sie "fit für den Arbeitsmarkt" machen, systematisch unter mangelinduzierten Druck gesetzt werden, wird der Kapitalmacht einseitig zu ihren Lasten zugearbeitet. Ihre Subordination unter das Verwertungsinteresse ist der politische Kern des Hartz IV-Regimes, ihre öffentliche Diffamierung als illegitime Nutznießer fremder Leistungen äußerer Ausdruck der immanenten Mißachtung ihrer Menschenwürde.

Von diesem System, das den sozialen Notstand staatskapitalistisch aufbereitet und neue Horizonte der Menschenverwaltung eröffnet, werden die immer unverhohlener sozialrassistisch argumentierenden Eliten nicht abrücken. Herrschaft unter den Bedingungen kapitalistischer Verwertung zu organisieren, ohne zu offen diktatorischen Maßnahmen zu greifen, gelingt am wirksamsten unter dem falschen Schein einer Freiheitsideologie, die strikt von den materiellen Grundlagen ihres abstrakten Gleichheitspostulats absieht.

Das Karlsruher Urteil zu den Regelsätzen ist ein Musterbeispiel für die sozialtechnokratische Praxis eines Rechtstaats, anhand formaler juridischer Prinzipien Widersprüche zu neutralisieren und ihre Fortdauer um so unangreifbarer zu machen. Jede materielle Verbesserung für Erwerbslose und Arbeitsunfähige ist zu begrüßen, doch schon die bisher praktizierte Benachteiligungung ihrer Kinder legt den sozialdarwinistischen Kern dieses Systems der Mangelverwaltung offen. Selbst wenn sich daran etwas zum positiven ändern sollte, bleibt die Forderung nach einer echten, in jeder Beziehung diskriminierungsfreien Gleichstellung aller Menschen bestehen.

10. Februar 2010