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RAUB/0956: Nach der Bezichtigung Erwerbsloser knallharte Selektion (SB)



Noch ist man nicht so weit, den Sozialrassismus der Eliten gesellschaftlich so zu verallgemeinern, daß den überflüssig Gemachten mit einhelliger Zustimmung der Funktionseliten erblich bedingte Dummheit ins Stammbuch geschrieben wird. Der Vorstoß einiger Unionspolitiker, den Intelligenzquotienten zum Einwanderungskriterium zu erheben, stößt auch in den eigenen Reihen auf Widerspruch, allerdings nicht aus prinzipiell humanistischen Erwägungen. Man argumentiert viel mehr integrationspolitisch, schürte eine am IQ orientierte Diskriminierung doch nicht nur unter den direkt davon betroffenen Zuwanderern, sondern auch den im Land lebenden Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus oder migrantischer Herkunft die Wut über diese offene Erniedrigung.

Ansonsten gibt es kaum Einwand gegen die soziale Selektion von Migranten, die nicht aufgrund politischer Verfolgung Asyl beantragen. Die Ausbeutung der Bildungsressourcen anderer Länder durch gezielte Anwerbung von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Facharbeitern gehört zum Standortwettbewerb der kapitalistischen Globalisierung wie die Unterbietung des Konkurrenten durch Investitionsanreize. Prekär für die Sozialkontrolle wird das Verwertungsprimat des Brain Drain dort, wo etwa der Bundesbanker Thilo Sarrazin mit einer zumindest teilweise erbbiologisch fundierten Rassenkunde, laut der Menschen aus bestimmten Ländern einen schlechteren Bildungsstand aufweisen, argumentieren.

Das Problem einer mit qualitativer Demografie vollzogenen Segmentierung der Gesellschaft liegt in der offenen Fixierung der damit errichteten Klassenschranken. Wo das "Fördern und Fordern" des "aktivierenden Sozialstaats" noch den Eindruck einer Überwindung der desolaten sozialen Ausgrenzung erweckt, vollzieht die Einteilung in mehr oder weniger leistungsfähige und intelligente Menschen den nächsten Schritt in Richtung auf einen neofeudalen Ständestaat, in dem jeder einen Platz der Natur seiner humangenetischen Ausstattung gemäß zugewiesen bekommt. Zwar argumentieren nicht alle Befürworter der Meßbarkeit kognitiver und geistiger Leistungsfähigkeit erbbiologisch, doch hat die Delegitimierung des demokratischen und emanzipatorischen Anspruchs auf Selbstbestimmung den Verfechtern einer sozialeugenischen Weltanschauung erheblichen Zulauf beschert. Gedeckt von einem neurowissenschaftlichen und biomedizinischen Positivismus, dessen Vulgärmaterialismus den Legitimationserfordernissen der postdemokratischen Gesellschaft perfekt zuarbeitet, werden Strukturen und Methoden administrativer Verfügungsgewalt etabliert, denen soziale Konflikte ein ausschließliches Verwaltungsproblem sind.

Setzt das Regime der "Eigenverantwortung" noch auf die Bezichtigung, daß der als "Ich AG" an der Börse fremdnütziger Interessen feilgebotene Erwerbslose sich nicht genügend einsetzt, um seine Existenzberechtigung durch einen produktiven Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Produkt unter Beweis zu stellen, greift die prädiktive Sozialforschung ins Innere menschlicher Substanz, um sie nach außen zu kehren und zum rückstandslosen Verbrauch freizugeben. Man will nicht den Migranten im Sack kaufen, sondern die Ware Arbeit auf Herz und Nieren prüfen, bevor sie in die große Maschine eingespeist wird. Der zu erwirtschaftende Mehrwert wird anhand von Kriterien bestimmt, die nichts gelten lassen, was dem Menschen Existenz außerhalb seiner Ökonomisierung verliehe. Für die Prüfung eines im Verhältnis zu verfügbarer Lohnarbeit übergroßen Angebots an Arbeitswilligen bedarf es der unterstellten Eigenverantwortung, um vom fremdnützigen Charakter kapitalistischer Vergesellschaftung zu schweigen, nicht.

Maximiert das Hartz-Regime die moralische Schuld des delinquenten Elements durch den Vorwurf einer parasitären Lebensweise mit dem Ziel, den Anschein eines fortbestehenden Anspruchs auf ungeteilte Teilhaberschaft, auf den zur Disposition seiner wertförmigen Vergleichbarkeit gestellten Gleichheitsanspruch zu erwecken, da selektiert die empirische Objektivierung individueller Leistungsfähigkeit ohne jeden Verhandlungsspielraum, in dem Widerspruch zumindest theoretisch einzulegen wäre.

Die krisengestählte Rücksichtslosigkeit neoliberaler Austerität läuft allerdings Gefahr, auf Widerstand unter den bereits als Staatsbürger anerkannten Migranten und den "Herkunftsdeutschen" des Prekariats zu stoßen. Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß das, was weiße Herren nichtweißen Migranten antun, lediglich der Vorlauf zur Anwendung auf die weiße Armutsbevölkerung ist. Von daher sollte man auf die Beschwichtigungen etablierter Politiker, die es nicht einmal für notwendig erachten, einen Sozialrassisten wie Sarrazin durch Verlust seines Vorstandspostens bei der Bundesbank und Ausschluß aus der SPD abzustrafen, nicht allzuviel geben.

29. Juni 2010