Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/0975: Protektorat des Todes - Cholera wütet in Haiti (SB)



Im Protektorat Haiti sterben die Menschen wie die Fliegen. Nach Kolonialismus, Imperialismus, Neoliberalismus und Militärintervention ewig abgestraft für die Todsünde der Erhebung gegen Sklaverei und Fremdherrschaft wird das Armenhaus Lateinamerikas nun mit einem Regime vorgeblicher Katastrophenhilfe administrativ drangsaliert. Als Feldversuch der Verwahrung von Menschenmassen unter erniedrigendsten und erbärmlichsten Bedingungen führt die Kumpanei elitärer Mächte an diesem Musterbeispiel vor Augen, was der Mehrheit der Menschheit angesichts schwindender Ressourcen des Überlebens zugedacht ist.

Erdbeben, Tropenstürme und Cholera haben die ohnehin verheerende Lage in einem Maße zugespitzt, das der krokodilstränenreichen Klage Vorschub leistet, dieses Volk sei vom Schicksal leidgeprüft. Das Szenario gewaltiger Naturkatastrophen eröffnet ein geradezu beispielloses Labor systematischer Knechtung, das es der Phalanx maßgeblicher und kollaborierender Akteure erlaubt, ihr grausames Werk als unvermeidliches Scheitern an der Übermacht widriger Verhältnisse zu tarnen.

Die Cholera gilt als ausgesprochene Armutskrankheit, da infizierte Patienten mit vergleichsweise billigen Mitteln erfolgreich behandelt werden können. Bleibt eine angemessene Behandlung aus, sterben jedoch bis zu 50 Prozent der Betroffenen binnen kurzer Zeit an den Folgen akuten Flüssigkeitsverlusts infolge der Durchfallkrankheit. Die Ausbreitung der Seuche läßt sich verhindern, sofern sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht und einfache Hygienemaßnahmen eingehalten werden. Daß sich die Cholera in Haiti epidemisch ausbreiten kann und immer neue Todesopfer fordert, ist mithin eine unmittelbare Folge bitterster Armut, doch zugleich ein eklatantes Musterbeispiel unterlassener Hilfeleistung.

Die Cholera war zum ersten Mal seit über 100 Jahren am 19. Oktober am Fluß Artibonite in Zentralhaiti ausgebrochen. Der Ausbruch rief in dem Karibikstaat im November heftigen Protest gegen die dort stationierten UNO-Truppen aus Nepal hervor, die in dringendem Verdacht stehen, die Krankheit eingeschleppt zu haben. Unterdessen steigt die Zahl neuer Choleraopfer dramatisch an. Nach den jüngsten Angaben des nationalen Gesundheitsministeriums MSPP starben bislang 3.333 Menschen an der bakteriellen Infektion. Allein über die Weihnachtsfeiertage erlagen täglich 70 Menschen der Seuche. Seit Beginn der Epidemie sind demnach 148.787 Personen erkrankt, 83.166 Infizierte mußten stationär behandelt werden. Internationale Gesundheitsexperten gehen jedoch davon aus, daß die tatsächlichen Zahlen weitaus höher anzusiedeln sind und sich in den kommenden zwölf Monaten bis zu 400.000 Menschen infizieren könnten. [1]

Auch in der benachbarten Dominikanischen Republik breitet sich die Cholera rasant aus. Dort wurden innerhalb von 24 Stunden vierzehn Neuerkrankungen registriert, so daß die Zahl der Infektionen offiziellen Angaben zufolge auf 139 stieg. Gesundheitsminister Bautista Rojas Gomez gab mit den Worten Entwarnung, die Krankenhäuser verfügten über genügend Medikamente, um mit auftretenden Fällen fertig zu werden. Daß bislang kein einziger Todesfall aufgetreten sein soll, obgleich in Haiti täglich 70 Menschen sterben, mutet jedoch so unwahrscheinlich an, daß man von einer vorsätzlichen Desinformation ausgehen muß.

Wie es tatsächlich um den angeblichen Wiederaufbau Haitis bestellt ist, dokumentierte ein Interview, das der inzwischen suspendierte Vertreter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Haiti einer Schweizer Tageszeitung gab. Der brasilianische Diplomat Ricardo Seitenfus zog darin das niederschmetternde Fazit, daß die Politik der "internationalen Gemeinschaft" in Haiti gescheitert sei. Seitenfus, der die OAS gegenüber der "Interimskommission zum Wiederaufbau Haitis" vertrat, rang sich in dem Gespräch, das am 20. Dezember in der französischsprachigen Tageszeitung "Le Temps" erschienen ist, zu einer bemerkenswerten Offenheit durch, die ihn seinen Posten kostete.

Wie der Diplomat unterstrich, sei die UNO-Mission MINUSTAH dem Land 2004 aufgezwungen worden, obgleich keine Notwendigkeit dazu bestand. Haiti sei weder der Irak noch Afghanistan, es stelle keine internationale Bedrohung dar und befinde sich in keiner Bürgerkriegssituation. Die Militarisierung der Administration verdanke sich seines Erachtens strategischen Überlegungen der US-Regierung. Der verarmte Karibikstaat müsse seit kolonialen Zeiten seine Nähe zu den Vereinigten Staaten teuer bezahlen. Nicht zuletzt deswegen sei das Land "im negativen Sinne" Ziel der internationalen Zuwendung geworden: "Für die UNO geht es darum, die politische Macht einzufrieren und die Haitianer zu Gefangenen auf der eigenen Insel zu machen." [2]

Der Brasilianer übte zugleich harsche Kritik an den Hilfsorganisationen aus den Industriestaaten. Nach dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar, bei dem bis zu 300.000 Menschen starben und Millionen obdachlos wurden, seien junge Mitarbeiter "ohne jedwede Erfahrung" nach Haiti geschickt worden. "Es gibt hier ein schädliches, fast perverses Verhältnis zwischen diesen Nichtregierungsorganisationen und der Schwäche des haitianischen Staates", bilanziert Seitenfus.

Am 28. Februar 2004 wurde Haitis demokratisch gewählter Präsident Jean-Bertrand Aristide durch einen von Washington unterstützten Putsch gestürzt. Binnen Stunden rückten US-Marines ein, die erst wieder abzogen, als die Dauerpräsenz von UNO-Truppen den Fortbestand des Besatzungsregimes garantierte. In die Zerschlagung des Staates Haiti, die nachfolgende Verwaltung der chaotischen Verhältnisse und die Sanktionierung aller Anzeichen organisierten Widerstands haben die Vereinten Nationen großzügig investiert. So verschlang die sogenannte Friedensmission MINUSTAH zwischen 2004 und 2009 rund 5 Milliarden Dollar, während die nach dem Erdbeben vollmundig zugesagte Hilfe beim fiktiven Neuaufbau des Landes nur zu einem Bruchteil eingetroffen ist. Wen kümmern schon verhungernde, ihren Verletzungen erliegende oder von Seuchen dahingeraffte Haitianer, wenn es gilt, administrative Apparate zur Regulation des Elends unter Ausschluß der Hungerrevolte auszubauen!

Anmerkungen:

[1] Dramatischer Anstieg der Cholera: 3.333 Tote in Haiti. Über die Weihnachtsfeiertage starben täglich mehr als 70 Menschen (30.12.10)
http://latina-press.com/news/65200-dramatischer-anstieg-der-cholera-3- 333-tote-in-haiti/

[2] Diplomat gesteht Scheitern in Haiti ein (28.12.10)
http://www.heise.de/tp/blogs/8/148999

31. Dezember 2010