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RAUB/1019: Haitis Elend im Würgegriff des Protektoratsregimes (SB)



Am 12. Januar 2010 erschütterte ein schweres Erdbeben der Stärke 7,0 Haiti und stürzte das ärmste Land der westlichen Hemisphäre noch tiefer ins Elend. Die Bilanz der Katastrophe war verheerend: Fast 230.000 Tote, bis zu 3 Millionen obdachlos gewordene Menschen, etwa 190.000 zerstörte Häuser, knapp 4.000 nicht mehr benutzbare oder schwer beschädigte Schulen, 30 zusammengefallene Krankenhäuser, 19 Millionen Kubikmeter Schutt. Seither sind zwei Jahre vergangen, doch der Wiederaufbau kommt allenfalls schleppend voran. Große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince gleichen nach wie vor einem Trümmerfeld, da erst knapp die Hälfte der Schuttmassen weggeschafft worden ist. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben noch immer rund eine halbe Million Haitianer in erbärmlichen Notunterkünften, wo insbesondere Frauen Gewalttaten ausgesetzt sind. Die höchstwahrscheinlich von nepalesischen Blauhelmsoldaten der UNO eingeschleppte weltweit schlimmste Cholera-Epidemie hat fast 7.000 Menschen im Land das Leben gekostet, rund 515.000 und damit mehr als fünf Prozent der etwa zehn Millionen Einwohner Haitianer sind erkrankt. [1]

Internationale Hilfsorganisationen ziehen eine kritische Bilanz. Der Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen", Frank Dörner, verwies darauf, "dass die meisten Haitianer nach wie vor weder Zugang zu medizinischer Nothilfe noch zu sauberem Trinkwasser haben". Dies begünstige die Ausbreitung von Seuchen. Nach den Worten des Leiters der Nothilfe von World Vision, Harry Donsbach, gibt es kaum öffentliches Land, auf dem neue, bezahlbare Wohnungen errichtet werden könnten. Außerdem erschweren eine fehlende Infrastruktur, Korruption und politische Instabilität die Aufbauarbeit. [2] Dr. Wilfried Vyslozil, Vorstand der SOS-Kinderdörfer, bezeichnete die Zunahme der verlassenen Kinder als ein Alarmsignal, daß viele Familien ihren Alltag nicht aus eigener Kraft bewältigen können. Auch habe die Zahl der Kinder zugenommen, die ohne Eltern bei fremden Familien leben müßten und dafür praktisch versklavt würden. Die Bedingungen in den Waisenhäusern seien teilweise katastrophal. [3] Katja Anger von der Kindernothilfe, die in Port au Prince ein Kinderzentrum betreut, sagte der ARD, es sei momentan nicht daran zu denken, das Land besser wieder aufzubauen: "Momentan geht es erstmal darum, mit der Realität vor Ort zu arbeiten und zu versuchen, die schlimmsten und akutesten Probleme soweit zu lösen." [4] Daß in den zurückliegenden beiden Jahren viel zu wenig erreicht wurde, räumen auch jene ein, die kleine Fortschritte konstatieren. Gregor Wert ist für HELP im Land, eine Organisation, die sich um Übergangshäuser für die vielen Obdachlosen kümmert: "Es bewegt sich was. Ob das infrastrukturelle Maßnahmen sind, Straßenbau, Schutt wegräumen, Aufräumarbeiten. Man könnte sagen: zwei Jahre nach dem Erdbeben ist das lächerlich, das hätte längst passieren müssen, aber gut, dann fängt es eben jetzt an." [5]

Wie konnte das geschehen? Haiti, das angesichts der Katastrophe im Fokus weltweiter Anteilnahme stand, das man besser als jemals zuvor wieder aufbauen wollte, dessen angeforderten Hilfsgelder man in einer Geberkonferenz großzügig verdoppelte, in dem zeitweise mehr als tausend internationale Hilfsorganisationen im Einsatz waren, das mit dem früheren US-Präsidenten Bill Clinton einen prominenten Sonderbotschafter der UNO bekam - dieses Land liegt noch immer in Trümmern. War es die Beschränktheit menschlicher Mittel angesichts der überwältigenden Naturkatastrophe? Sind selbst freigebiger Hilfsbereitschaft zwangsläufig Grenzen gesetzt? Wurden Fehler gemacht, die man künftig vermeiden kann? Muß man nicht trotz allem den selbstlosen Einsatz zahlloser Helfer hervorheben, ohne den die Lage noch weitaus schlimmer wäre? Wenngleich man nichts von alledem in Abrede stellen kann, drängt sich doch angesichts der Kluft, die zwischen dem Anspruch zügigen Wiederaufbaus und den vernichtenden Lebensverhältnissen Hunderttausender Haitianer klafft, der Verdacht auf, daß weder Schicksal oder Naturnotwendigkeit noch menschliches Unvermögen oder Fehlverhalten die erschütternde Bilanz zweier Jahre hinreichend zu erklären vermögen.

Wenngleich man Haiti zumeist als "gescheiterten Staat" klassifiziert, darf man dabei nicht übersehen, daß dieses Scheitern in erster Linie das gewünschte und beförderte Resultat kolonialer, imperialistischer und hegemonialer Einflußnahme seit Gründung der ersten schwarzen Republik vor mehr als 200 Jahren ist. Das Bezichtigungskonzept des "gescheiteren Staats" ist auch im Falle Haitis ein Instrument zur Verschleierung der Intervention zum Zweck der Entmachtung unerwünschter Regierungen und Bewegungen in der Gesellschaft. Auf die Vertreibung des demokratisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide ins Exil, die sofortige Besetzung des Landes durch die bereitstehenden US-Marines und die nachfolgende Okkupation durch die UN-Mission MINUSTAH folgte nach der Erdbebenkatastrophe unter dem Vorwand humanitärer Hilfe beim Wiederaufbau die Degradierung Haitis zu einem Protektorat. Maßgebliche Entscheidungen werden von äußeren Kräften diktiert, wobei in erster Linie die USA, Frankreich und Kanada zu nennen sind, die mit erheblichen Teilen der im Land präsenten NGOs eine unheilige administrative Allianz schmieden.

Als nach dem Erdbeben das Hirngespinst in die Welt gesetzt wurde, die Katastrophe sei zugleich eine Chance, das Land von Grund auf neu zu errichten, ernteten die Haitianer damit zu ihrer Not auch noch Hohn. Von einer Herbeiführung demokratischer Verhältnisse als Voraussetzung einer besseren Zukunft konnte keine Rede sein, denn mit der Fanmi Lavallas wurde jene Partei von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen, die gute Aussichten gehabt hätte, an die Regierung zu kommen und den nächsten Präsidenten zu stellen. Die Besatzungsmächte wie auch die einheimischen Eliten sehen ihre wesentliche Aufgabe darin, die Anhänger Aristides wie auch alle anderen potentiell widerständigen Bewegungen unter Kontrolle zu halten, um die Hungerrevolte im Keim zu ersticken und einen politischen Kurswechsel Haitis auszuschließen.

Inmitten von Trümmern, Notlagern, Elend und Krankheit wurde mit Millionenaufwand eine Farce inszeniert, die angesichts des Ausschlusses oppositioneller Kräfte und einer außerordentlich geringen Beteiligung nicht als demokratische Wahl, in der der Willen des Volkes auch nur annähernd zum Ausdruck käme, bezeichnet werden konnte. Es wurden vollendete Tatsachen in Gestalt einer Regierung geschaffen, die der kleinen nationalen Elite und insbesondere den Besatzungsmächten zu Diensten sein sollte. Die grundsätzliche Willkür dieses Akts bestand in der vorab erzwungenen Festlegung auf einen Wahlausgang, der den Fortbestand von Ausbeutung und Unterwerfung der haitianischen Bevölkerungsmehrheit sicherstellte.

Am 20. März 2011 wurde der populäre Kompa-Musiker Michel Joseph Martelly zum neuen Präsidenten Haitis gewählt. Daß das unbestrittene Unterhaltungstalent "Sweet Mickys" ausgereicht hatte, um mit großem Vorsprung das Präsidentenamt zu erringen, ließ Schlimmstes für die künftige Entwicklung des Landes befürchten. Sofern man Martelly überhaupt eine politische Position zugestehen will, zeichnete sich diese in der Vergangenheit durch seine Nähe zu rechtsgerichteten Fraktionen und Sympathien für die Diktatur der Duvaliers aus. Sein Wahlkampf wurde mit Millionen von Dollars finanziert und seine Kampagne von Beratern gesteuert, die unter anderem für ausgemachte Konservative wie Senator John McCain aus Arizona und den mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón gearbeitet hatten. Der neue Staatschef ließ jegliche Agenda vermissen, die auch nur Ansätze einer glaubwürdigen Parteinahme für die Menschen im Hungerstaat Haiti, geschweige denn gegen das Protektoratsregime ausländischer Mächte aufgewiesen hätte.

Wen wundert's, daß von den vollmundigen Versprechen der sogenannten internationalen Gemeinschaft mit bislang 4,6 Milliarden Dollar nicht einmal die Hälfte der zugesagten Summe bereitgestellt worden ist - von den Nutznießern der Gelder ganz zu schweigen? Wer fragt sich da noch, warum die Aufbauarbeiten so schleppend vorangehen und nach wie vor kein Masterplan zum Wiederaufbau vorliegt? Statt sich um die Bewältigung der drängenden Probleme zu kümmern, stritt Martelly monatelang mit dem Kongreß über die Regierungsbildung. Ende November 2011 verkündete er endlich wie so viele vor ihm den Aufbruch. Mit dem Sonderbotschafter Bill Clinton lud er tausend internationale Gäste zu einer Investorenkonferenz ins teuerste Hotel von Port-au-Prince ein. Statt am Tropf internationaler Spenden zu hängen, müsse Haiti endlich aus eigener Kraft wachsen, verkündete der Präsident. Das Geld dafür soll von ausländischen Investoren kommen: "Investoren sollen hier profitabel arbeiten, dann wird auch Haiti prosperieren", versprach Martelly. Damit lag er exakt auf der Linie Clintons und des Protektoratsregimes, die von Anfang an das Ziel vorgaben, in Sweatshops der haitianischen Armut noch den letzten Rest profitabler Verwertbarkeit abzupressen.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,807326,00.html

[2] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15663899,00.html

[3] http://www.ad-hoc-news.de/haiti-zahl-der-verlassenen-kinder-steigt-wieder-an--/de/Boersenlexikon/22719851

[4] http://www.fr-online.de/panorama/haiti-zwei-jahre-nach-dem-beben-fluch-der-karibik,1472782,11433688.html

[5] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15659437,00.html

14. Januar 2012